Chancen und Herausforderungen eines universalen Frauenbefreiungskampfs

Den Kampf in organisierter Form verstärken

Meral Çiçek, Yeni Özgür Politika, 21.11.2017

Die Bedingungen für die Transformation des 21. Jahrhunderts in die Ära der Frauenrevolution sind reifer denn je. Die Entfaltung einer zweiten Frauenrevolution im Nahen Osten ist eine historische Notwendigkeit. Die kurdische Frauenbefreiungsbewegung sieht sich in der Lage, im Zuge einer universellen Frauenbefreiung eine Vorreiterrolle einzunehmen, diese Kraft wohnt ihr inne.

Zu keiner Zeit in der Geschichte der Menschheit haben Frauen so schwere, intensive und systematische Gewalt erlebt wie heute. Gewalt gegen Frauen ist die häufigste Menschenrechtsverletzung, sie kennt keine Grenzen. Die Vereinten Nationen (UN) bezeichnen diesen Zustand als eine Pandemie, die sich auf der ganzen Welt ausbreitet.

Im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts sind wir mit der systematischen Offensive des Patriarchats konfrontiert. Ja, das System führt einen systematischen Angriff gegen Frauen. Auch wenn er sich in Form und Ausdrucksweise von Ort zu Ort oder von Region zu Region unterscheidet, sind wir mit einem universellen Phänomen konfrontiert. Als kurdische Frauen oder als Frauen des Nahen Ostens wurden wir den brutalsten und unmittelbarsten Angriffen von Daesch (Islamischer Staat, IS) ausgesetzt, und das bis heute. Wir beobachten die zunehmende Zahl der Massenvergewaltigungen in Asien. In Lateinamerika werden Frauenmorde als eine Form des Feminizids begangen. In Europa werden durch einen langwierigen Widerstand hart erkämpfte Frauenrechte widerrufen. In Afrika ist sexuelle Gewalt die grundlegendste Waffe in Konflikten und Kriegen. Mit dem Weinstein-Skandal in den USA wächst das Ausmaß sexueller Belästigung und Vergewaltigung in der Kulturindustrie Tag für Tag. Die Tatsache, dass ein Mann wie Trump mit seiner sexistischen Rhetorik und entsprechendem Benehmen die Stimmenmehrheit bekam und letztlich zum US-Präsidenten gewählt wurde, kann nicht unabhängig vom Aufstieg faschistischer Regime in verschiedenen Teilen der Welt und der Zunahme patriarchalischer Angriffe betrachtet werden.

Das patriarchalisch-kapitalistische System verstärkt seine Angriffe auf die Frauen – die quasi seinen Gegenpol bilden –, um die strukturelle Krise des 21. Jahrhunderts zu überwinden. Die Angriffe werden dabei systematisch ausgeführt. Denn an dem Punkt, an dem Frauen ihre Suche nach Freiheit und Kampf intensivieren, wird das patriarchalisch-kapitalistische System bis in seinen Kern erschüttert. In diesem Sinne sollte der Kampf gegen Daesch – den konkretesten und direktesten Ausdruck der Misogynie –, vorangetrieben durch die kurdische Frauenbewegung in Kobanê, Şengal (Sindschar) und zuletzt in Raqqa, als aktiver Kampf gegen das Patriarchat betrachtet werden.

Frauen der YPJ in RaqqaKrisen beinhalten sowohl Gefahren als auch Chancen

Die strukturellen Krisen von Hegemonialsystemen sind immer mit großen Gefahren verbunden, gleichzeitig aber auch mit großen Chancen. Das System stellt eine Gefahr dar, weil es in Krisenzeiten aggressiver wird, es bietet eine Gelegenheit, weil die zu überwindenden Bedingungen reifen. Oder in kurdischer Sprache: »Heta ku xirab nebe ava nabe« [Bis es nicht zerstört wurde, kann es auch nicht aufgebaut werden]. In diesem Sinne sind die Bedingungen trotz aller Angriffe reifer als je zuvor, um den Freiheitskampf der Frauen zu verbreiten und das 21. Jahrhundert in das Zeitalter der Frauenrevolution zu verwandeln. Nicht nur die Bedingungen sind reif, eine Frauenrevolution im Nahen Osten ist auch eine historische Notwendigkeit. Die kurdische Frauenbefreiungsbewegung sieht sich in der Lage, im Zuge einer universellen Frauenbefreiung eine Vorreiterrolle einzunehmen, diese Kraft wohnt ihr inne.

Unser Zeitalter ist universeller als je zuvor. In diesem Sinne durchlaufen wir nicht den Zeitraum eines gewöhnlichen Übergangsprozesses, sondern erleben den nacktesten und lebendigsten historischen Moment unserer Zeit. Dies gilt sowohl für demokratisch-gesellschaftliche Kräfte als auch für die herrschenden Mächte. Der Repräsentant des kurdischen Volkes Abdullah Öcalan hat diesen Prozess in seinen Verteidigungsschriften mit der Theorie der zentralistischen hegemonialen Macht und der »internen und externen Antimachtbewegungen« definiert und gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Krise des patriarchalisch-kapitalistischen Systems einer tiefgreifenden Analyse unterzogen. Er hat nicht nur die der Krise und dem Chaos des patriarchalisch-kapitalistischen Systems zugrunde liegende Kausalität herausgearbeitet, sondern auch einen Paradigmenwechsel bewirkt und die Theorie der demokratischen Moderne entwickelt, die als universelles Lösungsmodell fungieren kann.

Es handelt sich um eine dreifache Revolution

Die drei Bereiche, in denen die universelle Geschichte heute am meisten sichtbar wird, sind vielleicht die kurdische Realität, die Freiheit von Frauen und die demokratische Moderne. Die zentrale Hegemonialmacht sieht sich vor allem durch diese drei Tatsachen herausgefordert, und die Krise, die sie erlebt, vertieft sich. Gleichzeitig besteht zwischen diesen drei Realitäten eine dialektische Verbindung, die bestenfalls die Wahrscheinlichkeit für eine Revolution erhöht. In dieser Hinsicht gibt es aus der Perspektive der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung einen dreifachen Revolutionsprozess. Im Hinblick auf Frauen, aber auch aus der kurdischen wie historisch-gesellschaftlichen Perspektive ist die Chance auf das Erlangen der Freiheit größer als je zuvor, zwischen den drei Befreiungssphären bestehen untrennbare Verbindungen.

Hierbei sind die kurdische Revolution, die Frauenrevolution, die Menschheitsrevolution, sogar die Nahostrevolution von erheblicher Bedeutung. In diesem Sinne funktioniert Dialektik. Dies ist auch die Wahrheit, die den historischen Moment schafft. Das ist es, was der Vorsitzende Apo meint, wenn er die kurdische Realität als Sediment der Epoche bezeichnet. Die dagegen entwickelte Revolution tritt von selbst universell und historisch auf, weil Kurdistan in diesem Kontext universell und historisch ist. Während die kurdische Realität in diesem Sinne den Mikroausdruck insbesondere für den Nahen Osten, aber auch gleichzeitig für die gesamte Menschheit darstellt, bedeutet die Revolution von Frauen die größte gesellschaftliche Revolution.

Wenn wir diesen Punkt anhand konkreter politischer Entwicklungen analysieren, können wir daraus schließen, dass der im Nahen Osten tobende dritte Weltkrieg, die kurdische Freiheitsbewegung und der Frauenbefreiungskampf oder auch die revolutionäre Bewegung als unmittelbar miteinander verknüpfte, verwobene und sich gegenseitig bedingende, gleichzeitige Prozesse erfasst werden können. Mit anderen Worten: Wir können sehen, dass die Perspektiven des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan im 21. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung gewinnen. Es ist nicht nur ein Jahrhundert der Freiheit der Frauen, die Revolutionen des 21. Jahrhunderts werden den Charakter von Frauenrevolutionen tragen. Während die revolutionären Bewegungen im 20. Jahrhundert erfolglos blieben, weil sie die Freiheit von Frauen als Nebenwiderspruch behandelten, wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem durch die kurdische Freiheitsbewegung die Tatsache bewiesen, dass eine wahre Revolution eine Frauenrevolution sein muss. Eine Revolution, die die Freiheit von Frauen nicht ins Zentrum rückt, kann nicht erfolgreich sein.

Im Zuge der Vorbereitung auf den dritten Verteilungskrieg bzw. dritten Weltkrieg wurde ab Ende der 1970er Jahre ein systematischer Versuch unternommen, den revolutionären Geist und die starke Widerstandstradition im Nahen Osten durch Putsche zu untergraben. Die Militärintervention von 1979 in der afghanischen Volksrepublik, die Islamische Revolution im Iran sowie ein Jahr später der Putsch vom 12. September sollten in diesem Sinne verstanden werden. Man sieht am deutlichsten in Afghanistan und dem Iran, dass die genannten Interventionen hier, etwa in dem Gebiet, in dem die neolithische Revolution ihren Anfang genommen hat, der Suche nach der Freiheit der Frauen einen zusätzlichen Schlag versetzt haben. Hier kämpfen Frauen seit vierzig Jahren gegen alle möglichen Ausdrucksformen männlicher Gewalt.

Wir sind in der Lage, die Freiheit zu gewährleisten

Es ist kein Zufall, dass im 21. Jahrhundert die brutalste und aggressivste Form des systematischen Angriffskrieges in einem universellen Ausmaß gegen Frauen im Nahen Osten, insbesondere in Kurdistan, geführt wird. Es ist kein Zufall, dass der unmittelbarste Ausdruck des frauenfeindlichen Systems – Daesch – auf das Zentrum des Befreiungskampfes der Frauen abzielt. Die Frauenrevolution soll zerstört, die Ära der Freiheit von Frauen beendet werden. Während das patriarchalisch-kapitalistische Weltsystem, das sich in einer Krise befindet, zur Absicherung seiner Existenz Frauen global attackiert, ist Kurdistan das Gebiet, wo Freiheit und Sklaverei aufeinanderprallen. In diesem Sinne sind die Auswirkungen des von der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung geführten Widerstands historisch und universell. In keinem Stadium der 5000 Jahre alten Zivilisationsgeschichte wurde die Verbindung zwischen Partikularem und Universalem so konkret. Wir haben die Bedingungen für die Freiheit des Volkes, des Geschlechts und allgemein für die Menschheit wie noch nie zuvor gewährleistet.

Das Schlüsselwort ist Selbstverteidigung

Rosa Luxemburg: Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!Rosa Luxemburg sagte einst: »Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!« Heutzutage spüren und erkennen Frauen auf der ganzen Welt die an ihren Köpfen, ihren Herzen, ihren Handgelenken und ihren Hälsen angelegten Ketten. Das demonstrieren vor allem ihre Proteste gegen männliche Gewalt, Belästigung und Vergewaltigung, Sexismus und allgemein gegen das patriarchale Herrschaftssystem. Natürlich reicht der Protest allein nicht aus, aber er ist der Anfang jedes Widerstands, jedes Kampfes. Nun ist es notwendig, die erhobenen Proteste in eine organisierte Kraft zu verwandeln. Denn wenn wir organisiert sind, können wir Gewalt überwinden. Wenn wir organisiert sind, können wir uns selbst verteidigen, wir können einen effektiven Kampf gegen das patriarchalische System führen, wir können Fortschritte im Kampf für die Freiheit erzielen. Wenn wir organisiert sind, können wir jahrhundertealte Möglichkeiten in Betracht ziehen und das Jahrhundert in die Ära der Frauenrevolution verwandeln.

Hierbei ist Selbstverteidigung das Schlüsselwort. Der Staat behauptet, das Gewaltmonopol zu haben. Während die Anwendung von Gewalt durch den Staat legitim ist, wird die Gesellschaft schutzlos gemacht. Dasselbe gilt auch bei Frauen. Während die vom Mann im »Privaten« ausgeübte physische, sexuelle oder psychische Gewalt gegenüber der Frau vom Staat oder von der Gesellschaft als legitim angesehen wird, ist die Frau weitestgehend wehrlos. Genauso wie die Verteidigung der unterdrückten Völker gegen einen Unterdrückerstaat unter dem Deckmantel des »Terrorismus« kriminalisiert wird, ist die Selbstverteidigung von Frauen immer noch nicht anerkannt. Zum Beispiel wurde der Kampf der Frauenguerilla in den Reihen der PKK von feministischen Kreisen im Westen seit langem mit der Begründung abgelehnt: »Waffen widersprechen der Natur von Frauen, Frauen sind pazifistisch, Frauen, die die Waffen erheben, werden maskulinisiert.« Oder Frauen können die Legitimität der Selbstverteidigung gegen männliche Gewalt verlieren. Allerdings können bei Frauenmördern »mildernde Umstände« gut funktionieren.

Selbstverteidigung ist eine Notwendigkeit

Wohingegen Selbstverteidigung gegen Gewalt nicht nur ein legitimes Recht ist, sondern gleichzeitig auch eine Notwendigkeit. Es ist unmöglich, männlicher Gewalt Einhalt zu gebieten, ohne Selbstverteidigungsmechanismen in allen Lebensbereichen zu entwickeln. Auch wenn in diesem Sinne vor allem die militärische Bedeutung in den Vordergrund gerückt ist, hat der Widerstand der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und der Fraueneinheiten Șengal (YJŞ) im Kampf gegen Daesch einen enormen Beitrag dazu geleistet, das Tabu zu brechen, Frauen könnten keine Waffe tragen. Gleichzeitig können wir vor allem an den verschiedenen Orten in der Welt, wo wir im Namen der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung sprechen, feststellen, dass sich das Bewusstsein der Frauen über die Notwendigkeit von Selbstverteidigung verstärkt hat. Auch dass sich viele Frauen inner- und außerhalb Kurdistans an kurdische Frauen wenden, um in Selbstverteidigung geschult zu werden, ist Beweis dafür. Diese Fortschritte in der Entwicklung sind aus Sicht der Frauen von Bedeutung.

Den Kampf zu kollektivieren, ist eine dringende Aufgabe

Allerdings ist es nicht ausreichend. Denn wie oben schon erwähnt, sehen wir uns überall auf der Welt, in allen Lebensbereichen, mit kriegsähnlichen Angriffen des Patriarchats konfrontiert. Um diesen Angriffen etwas entgegensetzen zu können, müssen wir als Frauen umfassende Selbstverteidigung aufbauen. Sie darf nicht nur auf physische Komponenten reduziert werden. Denn die Angriffe zielen nicht nur auf unsere Körper ab. Unsere Träume, Wünsche und Rechte gegen psychische, physische, sexuelle, strukturelle und ökonomische Angriffe des Mannes aktiv zu verteidigen, ist mit dem Aufbau des freien Lebens verbunden. Und dafür ist die Organisierung notwendig. Kein einzelnes Individuum kann gegen Gewalt auftreten. Doch jedes Individuum hat Selbstverteidigung nötig. Jedes Individuum hat Organisierung nötig.

Ebenso wie das patriarchale System ein universelles Phänomen ist, muss auf männliche Gewalt eine universelle Antwort gegeben und der Kampf in organisierter Form verstärkt werden. Also haben wir als Frauen der Welt die Pflicht, uns gegen das patriarchale System und seine Gewalt zu verbünden. Denn das System, das wir vor uns haben, bewegt sich als Ganzes, so haben wir nicht die Chance oder den Luxus, allein zu agieren. Unsere praktischen Erfahrungen, theoretisch-ideologischen Analysen, Kampfstrategien, Organisierungsformen und unsere zunehmend militante Partnerschaft zu kollektivieren, ist nun eine Notwendigkeit und Pflicht. Und auch eine Verantwortung gegenüber den Millionen, vielleicht sogar Milliarden Frauen, deren Leben von Männern geraubt wurde. Die kurdische Frauenbefreiungsbewegung hat proklamiert, in diesem Sinne national, regional und international eine wichtige Rolle zu übernehmen.

Wir dürfen die patriarchalen Übergriffe nicht unterschätzen. Als Frauen machen wir eine schwere Phase durch. Doch wir haben genug Gründe, hoffnungsvoll und voller Spannung zu sein. Vor allem sind wir in der Lage, männliche Gewalt, patriarchale Mentalität und Sexismus bis auf die Wurzeln anzugehen. Wir haben das Problem allumfassend analysiert. Wir haben nötige Mittel für diesen Kampf. Wichtig ist es, die Organisierung zu verbreitern, Partnerschaften und Allianzen zu bilden. Alle Voraussetzungen sind gegeben, das 21. Jahrhundert in das Jahrhundert der Befreiung der Frau zu verwandeln. Die Hauptsache ist es, uns mit dieser Verantwortung und diesem Bewusstsein zu organisieren.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018