Der Untergang des Oligarchen Barzanî

Unabhängigkeitsreferendum statt Einheitsbemühungen

Seyit Evran

Die sich offenbarende Krise in Südkurdistan ist historisch tief verwurzelt. Das Problem ist ein Führungsproblem: Die Familie Barzanî, die sich der Herrschaft bemächtigte, die Opposition liquidierte und die Revolution in Rojava beseitigen wollte, führt den Süden wie einen Konzern.

Irakisches und türkische Militär am Grenzübergang Habur Der Kampf der Kurden in Südkurdistan dauert bereits viele Jahre an. Dass der Grund für die Erfolglosigkeit dieses Kampfes ein Führungsproblem ist, zeigen einmal mehr die Entwicklungen der letzten fünfzehn Tage. Und eigentlich ist dieses Problem nicht eines der letzten zwei Wochen, sondern eine Krise, die seit Jahren anhält.

Das Volk in Südkurdistan hat vier Genozide nacheinander erlebt. Die 1982 beginnenden Massaker dauerten bis 1991 an. Unterdessen nutzten die Kurden die ausgebrochene Golfkrise als Chance. In Qeladizê (Qalat Dizah) und Ranya wurde rebelliert. Und die Aufstände weiteten sich in kurzer Zeit bis nach Zaxo und Duhok aus. Diese Erhebung ging als Raperîn in die Geschichte ein.

Zu dessen Beginn hielt sich die Führung der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) an der Grenze zu Ostkurdistan auf. Und ein Teil der Peşmerge war an derselben Grenze stationiert. In Qalat Dizah, Ranya, Çarqurne, Silêmanî (Sulaimaniyya), Zaxo, Duhok, Hewlêr (Erbil) und weiteren Provinzen und Bezirken Südkurdistans waren die irakischen Kräfte vertrieben worden. Und die PDK und die YNK gewannen vom Iran kommend in den von der Bevölkerung eingenommenen Regionen an Boden. So entstand die Herrschaft von PDK und YNK, die heute zu ernsthaften Problemen, Elend und in eine Sackgasse geführt hat.

Und die USA haben nach den Volksaufständen ihre Kräfte stationiert und die betreffende Region festgelegt, dabei viele Bezirke, Kreise und Dörfer ausgeschlossen. Dieser Bereich zwischen dem 36. und dem 42. Breitengrad wurde durch Silêmanî, Hewlêr, Duhok und Helepçe (Halabdscha) begrenzt, Ninova (Ninive), Kerkûk, Diyala, Xaneqîn, Germiyan und Celala waren ausgeschlossen.

In Washington gebildetes Südparlament

Nach dem Raperîn begann mit der Rückkehr der kurdischen Führungsriegen aus dem Iran eine neue Phase für das Südkurdistan, dessen Grenzen von den USA festgelegt worden waren. Im Grunde genommen waren es die USA, die diese Periode begonnen haben. Der diplomatische Verkehr zwischen Washington und Hewlêr war sehr intensiv und mündete 1992 in ein Parlament. Dieses Parlament wurde im Grunde genommen in Washington gegründet. Auf seiner ersten Sitzung beschloss es, der Türkei bei ihrer Offensive gegen die kurdische Befreiungsbewegung beizustehen. Daraufhin begannen PDK, YNK und türkischer Staat die Operation »Sandwich« gegen die PKK-Guerilla.

Sie dauerte circa einen Monat. In Xakurke weigerte sich am 25. Oktober 1992 die PKK-Guerillera Beritan (Gülnaz Karataş), sich zu ergeben, und stürzte sich von einer Klippe. Zur selben Zeit einigte sich der damalige Guerillakommandant Osman Öcalan mit der YNK, woraufhin sich die Guerilla unbewaffnet in das unter YNK-Kontrolle stehende Zele-Tal zurückzog und die Operation beendet wurde. Die gemeinsamen Angriffe der Südkräfte und der Türkei auf die Guerilla erfolgten Schlag auf Schlag. In den Jahren 1995 und 1997 fanden umfangreiche Kämpfe statt. Diese Phase dauerte bis 2000 an. Danach kam es anstelle der bewaffneten Auseinandersetzungen zu Embargos und Festnahmen und die politischen Aktivitäten der kurdischen Befreiungsbewegung im Süden wurden unterbunden.

US-Besetzung des Irak

Nach der Besetzung des Irak durch die USA wurde das Land zwei Jahre lang provisorisch regiert. Die ersten Namen in dieser Zeit waren Paul Bremer und Zalmay Khalilzad. Sie berieten während ihrer Amtszeit lange über eine neue irakische Verfassung und die Art der Beziehungen zwischen Bagdad und Hewlêr und bildeten entsprechende Kommissionen. Letztendlich wurde von der aus Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten zusammengesetzten Verfassungskommission eine neue irakische Verfassung erarbeitet, die dann nach einer kurzen Zeit der Diskussionen 2005 angenommen wurde.

In der neuen Verfassung wurden die außerhalb des Bereichs zwischen 36. und 42. Breitengrad liegenden kurdischen oder gemischten Siedlungsgebiete in Südkurdistan als umstrittene Regionen deklariert. Allein der Status des nicht nur wegen seiner Energiereserven allseits stark beachteten Kerkûk sollte innerhalb von zwei Jahren durch ein Referendum entschieden werden.

Neuer Status für Kurdistan und innenpolitische Spielchen

Nach der Anerkennung der irakischen Verfassung sollte erstmals nach Saddam Hussein ein ziviler Staatspräsident gewählt werden. Die US-Führung gab grünes Licht für die Präsidentschaft von Celal Talabanî als Element des Gleichgewichts für die Politik des Landes und nach kurzer Zeit wurde Mam [»Onkel«] Celal Präsident. In diesem Fall konnte Mesûd Barzanî nicht leer ausgehen. Der neuen Verfassung zufolge war der Irak nunmehr ein föderaler Staat und Südkurdistan als föderales Gebiet anerkannt. Barzanî zog einer zentralirakischen Präsidentschaft eine südkurdische Präsidentschaft vor, die er zwei Amtsperioden lang ausübte. Das Parlament wurde in Betrieb genommen. Legal durfte ein Posten nicht länger als zwei Legislaturperioden besetzt werden. Barzanîs Amt lief im Jahr 2015 aus, aber er ließ seinen Stuhl nicht los. Er besetzte regelrecht den Posten des kurdischen Regionalpräsidenten.

In dieser Zeit wurden in der Autonomen Region zwei Wahlen durchgeführt. Unter der Führung von Newşîrwan Mistafa, der sich von der YNK getrennt hatte, wurde 2009 die Gorran-Bewegung (Liste für Wandel) gegründet, an der die Bevölkerung in Südkurdistan bei den Regionalparlamentswahlen 2009 großes Interesse zeigte. Gorran überholte die YNK und zog als zweitstärkste Partei in das Parlament ein. Die PDK selbst gab die regionale Präsidentschaft und den Ministerpräsidentenposten niemals aus der Hand. Den Posten des irakischen Staatspräsidenten behielt die YNK, der Gorran-Bewegung blieb der regionale Parlamentsvorsitz. Doch mit dem Putsch Mesûd Barzanîs 2015 wurde das Parlament ausgehebelt. Dem Gorran-Parlamentsvorsitzenden wurde die Einreise zum Parlamentssitz nach Hewlêr verweigert, die Minister von Gorran und der Islamischen Gemeinschaft in Kurdistan wurden ihres Amtes enthoben. Barzanî und die PDK wollten den Süden allein führen und deshalb putschten sie.

Die PDK hat für Kerkûk keinen Finger krumm gemacht

Gemäß der irakischen Verfassung von 2005 sollte 2007 ein Referendum über den künftigen Status von Kerkûk durchgeführt werden. Obwohl bereits zwölf Jahre vorüber sind, hat die PDK für Kerkûk noch keinen Finger krumm gemacht. Bagdad selbst war wegen des Bürgerkriegs und des späteren Kriegs gegen den Islamischen Staat (IS) nicht für ein Referendum. Diese De-facto-Situation Kerkûks kam der PDK ganz zupass. Im Grunde genommen verfolgte sie wegen des Einflusses der YNK die Politik, die Stadt dauerhaft darin zu belassen. Da sie reichlich von den Erdölreserven profitierte, stellte sich für sie die Frage nach der Festlegung des Status für Kerkûk gar nicht.

Das galt nicht nur für Kerkûk, sondern auch für Xaneqîn, Celala, Mendelî und Xurmatû. Die PDK zog es vor, die regionale Ministerpräsidentschaft, die Präsidentschaft, den Sicherheitsrat und die Führung der Peşmerge zu verankern. Die Leitung des Südens von Hewlêr aus war reizvoll.

Gleichwohl setzten sie in jedem Amt ein Familienmitglied an die Spitze. Ministerpräsident ist Nêçîrvan Barzanî, Mesrûr Barzanî der Sicherheitschef und auch andere Ämter sind ähnlich besetzt.

Öcalans Appell einer nationalen Einheit

Treffen 1993 zwischen Öcalan und TalabanîAls Celal Talabanî 2005 zum Staatspräsidenten des Irak gewählt worden war, erklärte der kurdische Vorsitzende Abdullah Öcalan, dass die Zeit zugunsten der Kurden zu arbeiten begonnen habe. Davon ausgehend rief er die Kurden dazu auf, eine Einheit zu schaffen, und appellierte für eine Nationalkonferenz. Sowohl Öcalan als auch die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) erklärten sich mehrfach zu jedem Schritt für die Schaffung der nationalen Einheit bereit. Diese Aufrufe sind jedoch vonseiten der PDK und Mesûd Barzanîs stets ohne Erwiderung geblieben. Wann immer die nationale Einheit aufs Tapet kam, zog es Barzanî nach Ankara.

Als sich das Kräfteverhältnis im Mittleren Osten 2011 neu zu formieren begann, eröffnete Barzanî Gespräche mit der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK). Ein Komitee wurde gegründet, in dem auch die PKK vertreten war und das bis 2014 mehr oder weniger arbeitete. Obwohl seitdem fast drei Jahre vergangen sind, hat Barzanî die Durchführung eines Kongresses hinausgezögert und eine nationale Einheit ist nicht zustande gekommen.

Die 2011 in Tunesien begonnenen Volksaufstände führten auch in Libyen und Ägypten zu einem Regime- und Führungswechsel, erstreckten sich schließlich bis nach Syrien. Ziel dieser »arabischer Frühling« genannten Aufstände waren die Diktatoren, die die Länder wie eine Besitzung führten.

Im Grunde ging Barzanî davon aus, dass dieser Prozess auch ihn erreichen werde, und erklärte sich daher zu einem Nationalkongress bereit. Denn als die Kurden in Rojava eine Revolution durchführten, war er sichtlich beunruhigt. Das System war nämlich erschüttert worden.

Es verschlug Barzanî ein weiteres Mal nach Ankara, als die türkische Regierung einen Plan zur Niederschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung in die Wege leitete. Anschließend sagte er die Vorbereitungen für eine nationale Einheit vollends ab. Er hatte sich völlig der Türkei ergeben.

Chancen durch den IS

Der aus dem irakischen Bürgerkrieg entstandene IS gewann in Syrien ab 2013 an Einfluss. Später erhielt er den Befehl zum Angriff auf Rojava, die Attacken auf Efrîn, Kobanê und Umgebung zeitigten aber keine großen Erfolge. Die Volks- und Frauenverteidigungskräfte (YPG und YPJ) verhinderten es. Zwischen Ankara, Riad, Katar und Hewlêr begannen intensive Gespräche, um den IS durchschlagender werden zu lassen.

Auf einer Versammlung 2014 in Amman wurde dem IS eine Roadmap gezeichnet. Demnach sollte er Mûsil (Mossul) und Şengal (Sindschar) besetzen. Kurz nach deren Einnahme begann im September 2014 sein Angriff auf Kobanê, gleichzeitig rückte er von Xaneqîn aus weiter auf Kerkûk vor.

Währenddessen versuchte Barzanî das YNK-kontrollierte Kerkûk einzunehmen. Er übernahm die erdölreichen Regionen Bay Hasan und Dibis im Zentrum Kerkûks und verkaufte das gewonnene Öl an Erdoğan und dessen Familie. Auch wenn die USA und internationale und, ausgenommen die Türkei, regionale Kräfte dagegen waren, vertieften PDK und AKP ihre Partnerschaft.

Im Inneren machten sich mittlerweile die ökonomischen und sozialen Probleme bemerkbar. Der Grund für diese Krise war die Okkupation der regionalen Verwaltung und Präsidentschaft durch Mesûd Barzanî und seine Familie. Das hat die Region immer tiefer in die ökonomische und soziale Krise geritten. Die Kaufkraft sank, die Gehälter für Beamte und Peşmerge wurden gestrichen. Die Bevölkerung fragte immer lauter: »Es wird so viel Erdöl in die Türkei verkauft. Wo bleibt das Geld?« Oder: »Warum werden die Löhne nicht gezahlt?«

Stützpunkt der türkischen Armee in SüdkurdistanDie PDK hat die Opposition beseitigt

Die PDK hat in der Hauptstadt Hewlêr keine Opposition mehr übrig gelassen. Alle sind ausgewiesen worden, die Opposition drängte sich in Silêmanî. Für Barzanî wurde der Ausweg immer enger. Um die Krise zu überwinden, die Macht zu behalten und die Revolution in Rojava zu überwinden, entschied er sich für ein Unabhängigkeitsreferendum. Diese Entscheidung war eigentlich ein Glücksspiel im Hinblick auf die Existenz des kurdischen Volkes. Sowohl die YNK als auch etliche andere politische Parteien und Organisationen in Südkurdistan erklärten, dass für die Durchführung eines Referendums eine Parlamentsentscheidung und die Funktionsfähigkeit des Parlaments notwendig seien. Aber die Familie Barzanî fasste den Beschluss u. a. mithilfe des YNK-Mitglieds und Gouverneurs von Kerkûk, Nacmaldin Karim, des YNK-Führungsmitglieds Qosret Resul Ali, Mele Bahtiyars, des Peşmerge-Kommandanten Şeyh Cafer Şeyh Mustafa sowie der islamischen Bewegung Yekgirtu.

Referendumsentscheid

Das Referendum beschränkte sich nicht nur auf die Region zwischen 36. und 42. Breitengrad, es wurde sowohl in einigen Gegenden Mûsils als auch in Kerkûk und anderen strittigen Regionen durchgeführt. Angeführt von den USA, Großbritannien und Frankreich wurde international seine Verschiebung gefordert. Barzanî jedoch, der seinen Sitz dauerhaft behalten wollte und sich als Held eines unabhängigen Kurdistan gerieren wollte, ließ das Referendum abhalten, einschließlich der strittigen Regionen. Er kalkulierte, dass ihn die USA und die westlichen Kräfte nicht alleinlassen würden.

Die Allianz der drei kolonialistischen Kräfte

Bagdad schickte mehrere Botschaften, es sei »bereit für Gespräche«, um die Probleme zu lösen, die USA, Großbritannien, Frankreich und die UN legten der PDK einen alternativen Plan vor. Diese jedoch ignorierte alle. Daraufhin kündigte der Irak an, sowohl militärisch als auch anderweitig jede mögliche Intervention durchzuführen. Circa zwanzig Tage nach dem Referendum begannen das irakische Militär und die vom Iran unterstützten Kräfte damit, sich in Richtung Xurmatû und Kerkûk zu bewegen. Außer an einer Front zogen sich die Peşmerge kampflos zurück, Xurmatû, Taze, Dakuk und Kerkûk wurden in kürzester Zeit eingenommen, anschließend das 50 km von Hewlêr entfernte und ölreiche Pirde.

Es heißt, die irakische Armee werde nach Pirde bis nach Kuştepe vorrücken, das an der Grenze [der Autonomieregion] liegt. Außerdem sollen sich die in der Kleinstadt Çimen/Kerkûk stationierten Armee-Einheiten im Grenzort Karaincir niederlassen. Die Streitkräfte sind vom Nordosten aus bis zur Grenze nach Taqtaq gezogen, aber aufgrund der sehr bergigen Region umgekehrt. Sie haben von Südwesten kommend vom Ort Maxmûr aus Şengal eingenommen und sind bis Rabia vorgerückt. Da dies verfassungsrechtlich geschützt geschah, gab es keinerlei internationale Proteste.

Wegen seiner bis 2016 anhaltenden Schwäche hatte Bagdad bisher zur Politik der PDK im Hinblick auf eine endlose Machtposition der Barzanî-Familie geschwiegen.

Die Einnahme Mûsils vom IS stärkte jedoch die Motivation der irakischen Armee. Nachdem sie zusammen mit den Al-Haschd-asch-Schaabi-Einheiten nach Tikrit und Blic Mûsil, Tal Afar, Hawic (Al-Hawidscha) und die Region Baak dem IS entrissen hatte, stieg ihre Moral enorm. Und Ministerpräsident Al-Abadi, dessen Moral nach dem Rückgewinn eigenen Territoriums ebenfalls zunahm, schickte die Streitkräfte diesmal in die strittigen Regionen Xurmatû, Kerkûk und andere außerhalb des 36. und 42. Breitengrads liegende Gebiete.

Lösungswege

Mit der Übergabe Kerkûks und anderer kurdischer Städte an den Zentralirak ist die Führung in Südkurdistan zusammengebrochen und es herrscht Ungewissheit. Die Politik des Südens erlebt in den letzten zwei Wochen eine äußerst tief greifende Krise.

Mit dem Rückgang des irakischen Kolonialismus im politischen Leben Südkurdistans ist die kurdische Herrschaftsklasse erstarkt. Korruption und Bestechung sind weit verbreitet. Mit der Entwicklung des Neoliberalismus sind aus Beamten, Kaufleuten und Unternehmern Sklavenhalter, Kompradoren und Kollaborateure, also eine »mittlere Bourgeoisie«, entstanden. Wir stehen einer Mentalität gegenüber, die unter Entwicklung »wie Dubai sein« versteht. Der Kampf dagegen muss nachdrücklich sein. Die aktuell bestimmenden Kräfte im Süden verfügen dafür weder über die entsprechende Einstellung noch über das Programm. Die Zukunft Südkurdistans führt nur über die nationale Einheit.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018