Das Ende des syrischen Stellvertreterkrieges

Lösungsoptionen mit den Kurden

Hamide Yiğit

Das im vergangenen Jahr erschienene Buch der türkischen Autorin mit dem Titel »Tekmili Birden IŞİD – El Kaide’den IŞİD’e Amerika İçin Cihat« (dt.: Alle zusammen gehören zum IS – Dschihad der USA von Al-Qaida bis IS) soll konfisziert werden. Der Vorwurf lautet: Propaganda für eine terroristische Organisation. Insgesamt laufen sechs verschiedene Prozesse gegen das Buch, unter anderem wegen »öffentlicher Beleidigung des Staates und der Regierung« und »Beleidigung des Staatspräsidenten«. Die Autorin wurde jedoch jüngst vom Vorwurf der terroristischen Aktivitäten freigesprochen.

Lösungsoptionen mit den KurdenDer Krieg in Syrien nähert sich seinem Ende. Der Verlauf des Stellvertreterkriegs, dessen Intensität durch die Beteiligung dschihadistischer Kräfte aus der ganzen Welt zunächst zunahm, wurde durch die aktive Beteiligung Russlands als Reaktion auf die Offensive der USA entscheidend beeinflusst. Die Vertreibung der dschihadistischen Kräfte in Aleppo, in deren Händen Teile der Stadt seit 2011 lagen, stellte den ersten erfolgreichen Schritt gegen die Belagerung Syriens dar. Ihre Verluste weiteten sich auf andere Gebiete in Syrien aus, sodass der Islamische Staat (IS) und die Kräfte Al-Qaidas stark an Einfluss einbüßten. Die Macht des IS ist heute weitgehend gebrochen. Seine letzten Einflussgebiete liegen heute entlang der syrisch-türkischen Grenze in der Provinz Idlib. In dieser zur Deeskalationszone erklärten Provinz spielt die Türkei heute eine entscheidende Rolle.

Nach zahlreichen Niederlagen verfügt die Türkei heute über praktisch keinen Einfluss mehr auf den Kriegsverlauf in Syrien. Nichtsdestotrotz wurde ihr Einmarsch in Idlib so dargestellt, als würde sie eine entscheidende Rolle in den syrischen Verhältnissen spielen. Eine tatsächlich erfolgreiche Politik in dem Krieg verfolgte das Bündnis Russland-Iran-Syrien-Hisbollah. Nun wandte sich auch die AKP notgedrungen diesem Bündnis zu und erwartete, in diesem Rahmen eine Rolle zu spielen. Diese Notwendigkeit ergab sich aus dem Scheitern des »Greater Middle East Project«, für das sich Erdoğan noch vor wenigen Jahren zum »Ko-Vorsitzenden« erklärt hatte. Durch den Widerstand in Syrien stehen das »Greater Middle East Project« und all seine Unterstützer vor dem Scheitern. Doch den höchsten Preis für diese Niederlage muss die Türkei zahlen: Sie hat die längste Grenze mit Syrien und unterstützte am stärksten radikalislamistische Organisationen aus der ganzen Welt, damit sie in Syrien Fuß fassen konnten. Nur deshalb fielen fast alle syrischen Gebiete entlang der Grenze zur Türkei bereits sehr früh in die Hände von Organisationen wie der Al-Nusra-Front und dem IS. Die Folgen der militärischen Niederlagen werden daher angesichts eines von ihr geschaffenen unkontrollierbaren dschihadistischen Aufmarschgebiets direkt in der Türkei spürbar werden. Zudem wird die Türkei mit ihrer Syrienpolitik, die von eigenen Ambitionen und Träumen geleitet wird, für das Scheitern des »Greater Middle East Project« mitverantwortlich gemacht. Eine Fraktion in der US-Politik betrachtet die türkischen Ambitionen als hauptverantwortlich für den »Unfall des Greater Middle East Project«. Insbesondere in einer Phase, in der sich die Position der USA in Syrien ausschließlich auf die dortigen Erfolge der Kurden stützt, schadet die antikurdische AKP-Politik der Strategie des Weißen Hauses. Kurz: Die Auffassung verbreitet sich, dass »dem Hindernis endlich der Boden entzogen« werden muss. Just in diesem Moment vollzieht die Türkei eine Wendung und nähert sich Russland an. Daher sieht sie sich gezwungen, im Rahmen der von Russland geleiteten Astana-Gespräche jegliche Rolle zu übernehmen, die ihr zugewiesen wird. Der Fall in Idlib ist also eine Notwendigkeit und eine ihr zugewiesene Rolle.

Die AKP verkaufte das der eigenen Bevölkerung so, als spiele die Türkei eine wichtige Rolle in Syrien. Sie ging noch weiter, schmückte sich vor dem eigenen Wählerpublikum mit ihrer kurdenfeindlichen Politik und erklärte die Idlib-Operation als Weg »zur Eindämmung Efrîns und zur Verhinderung eines kurdischen Korridors zum Mittelmeer«. Von Anfang an haben wir jedoch betont: »Dass die AKP Efrîn zum eigentlichen Ziel ihrer Idlib-Operation erklärt, ist reine Propaganda und hat nichts mit der ihr im Rahmen der Astana-Verhandlungen zugewiesenen Rolle zu tun.« Denn es gibt niemanden, der nicht weiß, dass Russland seit langem in Efrîn Position bezogen hat und vor Ort eine Art Schutz gegen Angriffe der AKP auf die Kurden bereitstellt. Gegen Russland eine Strategie gegen Efrîn zu entwickeln, ist für die Türkei unmöglich. Die AKP hielt es jedoch für nötig, der eigenen Bevölkerung die Idlib-Operation anders zu verkaufen. Denn es ist ihr nicht möglich, offen einzugestehen, dass sie mit dem Auftrag nach Idlib beordert wurde, das von ihr selbst geschaffene Aufmarschgebiet der Dschihadisten zu säubern. Warum? Seit 2012 hatte sich vor den Augen und mit Unterstützung der AKP vor Ort ein ernst zu nehmendes dschihadistisches Potential entwickelt. Im Jahr 2015 brachten diese Gruppen unter Leitung der Al-Nusra-Front die Stadt Idlib unter ihre Kontrolle. Al-Nusra wurde bereits damals als terroristische Vereinigung gelistet, wogegen die AKP keinen Einspruch erhob. Sie verharrte nicht in der Position des Zuschauers, als die Grenzprovinz zur Türkei unter die Kontrolle der Al-Nusra-Front fiel. Vielmehr stellte sie umfangreiche Unterstützung zur Verfügung und arbeitete mit daran, dass die Organisation von anderen dschihadistischen Gruppen als »Retterin« gefeiert wurde. Seither wurde der Krieg im unter der Besatzung Al-Nusras stehenden Idlib von Syrien und seinen Verbündeten als »Krieg der Türkei« betrachtet. In der aktuellen Phase, also vor dem nahenden Ende der militärischen Auseinandersetzungen, wurde der Türkei nun die Aufgabe übertragen, Idlib den letzten Schlag zu versetzen und zu »deeskalieren«. Eine passendere Bezeichnung für die Aufgabe wäre jedoch: »Ernte, was du gesät hast.«

Der Krieg in Idlib wurde der Türkei übertragen

Bekanntlich sind seit 2016 aus vielen Regionen Syriens dschihadistische Kämpfer evakuiert worden. Im Rahmen dessen wurden zehntausende Dschihadisten nach Idlib gebracht, das damit zu ihrem letzten Aufmarschgebiet geworden ist. In der Region befinden sich heute ca. 50.000 Dschihadisten, die Hälfte davon aus dem Ausland. Trotz eigentlich näher gelegenen Evakuierungsorten wurde es vorgezogen, aus allen Teilen Syriens Dschihadisten ins hunderte Kilometer entfernte Idlib und damit an die türkische Grenze zu bringen. Warum? Weil diese Region eine sichere Tür in Richtung Türkei darstellt und praktisch zu ihrem Hinterhof geworden ist! Laut arabischen Beobachtern wählte ein Großteil der Dschihadisten Idlib nur aus, weil es an der Grenze zur Türkei liegt und ihnen die Möglichkeit bietet, von dort nach Europa zu fliehen. Viele von ihnen überqueren die Grenze am Grenzübergang »Atme«. Sie entschieden sich für die Sicherheit in der Türkei oder hofften nach Europa fliehen zu können. Diese Umstände sind auch Syrien und seinen Verbündeten nicht verborgen geblieben. Vor dem letzten Schlag gegen Idlib beabsichtigten sie, dass die Türkei die Dschihadisten entweder selbst aus dem Weg schafft oder man nach der Unterscheidung zwischen »gemäßigten« und »radikalen« Kräften gemeinsam den letzten Schlag ausführt. Diese Bedeutung haben die Abkommen über die »Deeskalationszonen« für Syrien und seine Verbündeten.

Für die Türkei stellt sich die Situation allerdings nicht so einfach dar. Ihre Vorstellungen waren: Zuerst sollte die unter Leitung von Al-Nusra operierende dschihadistische Koalition Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) aufgelöst und die Gemäßigten von Al-Nusra getrennt und dann eine neue Dachorganisation aus gemäßigten Kräften aufgebaut werden. Die Nusra-Front ist die einflussreichste Gruppe in Idlib. Die von der Türkei unterstützten Gruppen würden nicht im Geringsten gegen sie bestehen können. Zudem bestehen tiefe Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, die immer wieder Anlass zu Gefechten geben. Unter diesen Umständen ist kein Schritt ohne die Zusammenarbeit mit der Nusra-Front möglich. Auch die AKP handelte entsprechend. Statt sogenannte Gemäßigte von der Nusra-Front zu trennen und sie somit zu isolieren, verständigte sie sich mit Al-Nusra und entwickelte gemeinsame Strategien. Demnach sollen radikale Fraktionen in die ländlichen Gebiete Idlibs geschickt werden, während die zurückbleibenden Kräfte durch eine Namensänderung in einem sogenannten gemäßigten Bündnis zusammengefasst werden. Vermutlich sieht die Aufgabe der radikalen Gruppen auf dem Land so aus: Ein Teil soll den Kampf gegen das syrische Regime anführen und ihm damit den Weg versperren, der andere Teil soll an den Rändern Efrîns punktuelle Angriffe durchführen.

Es fällt schwer davon auszugehen, dass der AKP-Strategie für Idlib irgendwelche rationale Überlegungen zugrunde liegen. Zuallererst bedeutet das enge Bündnis mit der Al-Nusra-Front, dass die Türkei zu Beginn der großen Idlib-Operation als Schutzschild für sie fungieren wird. Dieser Schritt würde bedeuten, dass sich die AKP in diesem Krieg auf die Seite der Dschihadisten schlägt. Oder die Türkei beteiligt sich an der Operation Syriens und Russlands gegen Al-Nusra, wodurch sie sich zu deren Angriffsziel macht. Unparteiisch zu bleiben ist für sie unmöglich. Ihre zu löchrigen Sieben verkommenen Grenzen wird sie nicht schützen können und auch den Zustrom von Dschihadisten in die Türkei kann sie nicht unterbinden. In einem noch schlimmeren Fall kann sie zum Ziel von Racheanschlägen der Nusra-Front werden. In jedem Szenario ist es die Türkei, die den höchsten Preis zahlt. Während sie also in dieser tödlichen Klemme steckt, versucht die AKP derzeit alle Aufmerksamkeit auf Efrîn zu lenken und so zu tun, als stehe sie in einem Krieg gegen den Aufbau kurdischer Strukturen. Aber wir müssen an dieser Stelle feststellen, dass dies nur Rhetorik ist und nichts mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun hat. Denn in Syrien hat die Phase begonnen, in der gemeinsam mit den Kurden um eine politische Lösung gerungen wird und alle auf die Zeit nach Idlib warten!

Schutzschild für Efrîn« oder Einverständnis mit einer Lösung mit den Kurden

Alle Kräfte, die ihre Vorstellungen in Syrien durchzusetzen versuchen, sind sich dessen bewusst, dass sich der Stellvertreterkrieg seinem Ende nähert. Die Schlacht um Idlib mag das militärische Finale darstellen, aber die ersten Schritte für eine politische Lösung nach Idlib haben bereits begonnen. Der entscheidendste Schritt dafür ist der Gipfel von Sotschi. Dort kamen zum ersten Mal die drei Regierungschefs der Länder zusammen, die den Astana-Prozess führen. An einem Tag trafen sich Putin und Baschar al-Assad, am nächsten die Präsidenten Erdoğan, Putin und Ruhani. Auf diesem Treffen erfuhr die kurdenfeindliche Politik der AKP einen herben Rückschlag. Sie akzeptierte die Position Russlands, dass ohne die Kurden in Syrien keine politische Lösung möglich ist.

Jeder weiß, dass alle Länder im globalen Konkurrenzkampf miteinander eine »kurdische Karte« auf der Hand halten. Die allgemeine Analyse besagt: Die USA gründen ihre Position in Syrien auf den Erfolgen der Kurden und halten entsprechend an ihrer »kurdischen Karte« fest. Sie feilschen mit dem Argument einer kurdischen Struktur unter ihrer Kontrolle und versuchen so ihre Position in den syrischen Verhältnissen zu sichern. Sie werden stets die Möglichkeit eines unabhängigen kurdischen Nationalstaates auf der Agenda halten und ihn als Anlass für regionale Konflikte benutzen. Eigentlich würden sie ihre auf dieser Karte beruhende politische Lösung gern gemeinsam mit der AKP verfolgen. Doch insbesondere nachdem der Druck der USA seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zunehmend erpresserische Züge angenommen hatte, empfand die AKP das Bündnis mit Russland als Refugium und konnte sich der US-Politik nicht weiter annähern. Damit kam es zu einem Showdown in der Auseinandersetzung um die Kurdenfeindlichkeit der Türkei und das Bündnis der USA mit den Kurden. Die USA versucht die heterogen zusammengesetzten Demokratischen Kräfte Syriens (arab.: QSD) als ihre kurdische Karte auszuspielen. Aber auch Russland hatte eine kurdische Karte auf der Hand. Da es direkte Beziehungen zur Partei der Demokratischen Einheit (PYD) unterhält, befindet es sich gegenüber den USA in einer vorteilhaften Position. Die Russen haben diese Karte nun gezogen. Im Rahmen ihrer Suche nach einer politischen Lösung räumen sie den Kurden eine entscheidende Rolle ein, was mittlerweile auch die AKP akzeptieren musste.

Das wird deutlich anhand der Think-Tanks, die bisher maßgeblich die Syrienpolitik der AKP vertraten und nun ihre Sprache bezüglich der Kurden geändert haben. Einer dieser Think-Tanks ist BILGESAM (Strategisches Forschungszentrum Weiser Menschen). Seit seiner Gründung im Jahr 2011 bis Mitte dieses Jahres hatte BILGESAM der AKP empfohlen, im Rahmen der »tiefen Strategie« Davutoğlus eine entscheidende Rolle im »Greater Middle East Project« zu spielen. Im Zusammenhang mit dem Treffen in Sotschi können wir nun beobachten, wie dieser Think-Tank eine Wendung vollzieht und im Zusammenhang mit der Position der Kurden Ansichten vertritt, die denen der Russen entsprechen.

Niemand stellt sich gegen eine Autonomie!

So sagte der Forschungsleiter von BILGESAM, Ali Semin: »Wir sprechen von der Einheit Syriens. Aber wir müssen sehen, dass wir auch im Irak von der Einheit des Landes gesprochen haben und es dort nun eine autonome kurdische Struktur gibt. Niemand stellt sich gegen eine Autonomie. Wir haben nur Einwände gegen die Gründung eines Staates.«

Zum ersten Mal wurde der Begriff »Autonomie« ausgesprochen. Die AKP hat in diesem Zusammenhang ein wichtiges Handicap: Sie hat in den letzten Monaten die Kurdenfeindlichkeit innenpolitisch ins Unermessliche gesteigert und ihre kurdenfeindliche Politik so zu einem Mittel ihres Machterhalts gemacht. Insbesondere in Syrien stellte sie die PYD, also die Vertretung der kurdischen Organisierung, immer wieder als »terroristische PKK-Organisation« hin. Wie kann sie sich in dieser Lage an einen Tisch mit den Kurden setzen, um Lösungen zu finden? Und wie wird sie einen derartigen Schritt ihrer rassistisch aufgehetzten Anhängerschaft erklären können? Wahrscheinlich wird entlang der russischen Vorschläge ein Mittelweg gefunden werden: Für eine politische Lösung in Syrien muss sowohl die kurdische als auch die türkische Position angepasst werden. Für die AKP bedeutet das, die Kurden als Teil der Lösung zu akzeptieren. Aber der eigenen Anhängerschaft wird sie es so erklären: »Wir werden nur eine Lösung ohne die PYD akzeptieren und fordern eine Garantie für ihre Entwaffnung.« Auch von Ali Semin gibt es dementsprechende Äußerungen: »Im nächsten Jahr wird es darum gehen, einen Plan für die Region ohne die PYD zu entwerfen und eine entsprechende Diskussion über einen Autonomiestatus zu führen.« Das bedeutet, dass die AKP mithilfe eines für ihre Anhängerschaft akzeptablen Mittelweges den russischen Plan einer politischen Lösung unter Einbindung der Kurden akzeptiert hat.

Für die PYD sähe die Anpassung ihrer Position in etwa so aus: »Anstatt einer Entwaffnung werden die Volksverteidigungseinheiten (YPG) in die syrischen Verteidigungskräfte integriert und als gleichberechtigter Partner an Entscheidungen beteiligt.« Wahrscheinlich wird der politische Lösungsprozess unter russischer Führung entlang dieses Mittelweges beginnen. Die neue Verfassung wird ein Kampf werden, aber alle Kriegsparteien werden dazu verpflichtet sein, gemeinsam an der Zukunft der Völker Syriens zu arbeiten. Man muss auch berücksichtigen, dass die USA ihre Unterstützung für die QSD nicht so leicht einstellen, da sie durch diese eine gewisse Position in Syrien innehaben. Nichtsdestotrotz können wir davon ausgehen, dass die Zeit näher kommt, in der die Türkei ihre alten Feinde, ob Assad oder die Kurden, wieder zu Freunden und Verbündeten erklärt. Dazu sieht sie sich angesichts ihrer zerstörten Träume und ihrer Niederlagen in Syrien gezwungen.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018