Die türkische Republik am Scheideweg

Demokratie statt Despotie

Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)

Mustafa Karasu, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)Um an die Macht zu gelangen, stellten Erdoğan und die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ihrer Rhetorik Freiheit und Demokratie voran und kündigten 2002 den Kampf gegen Korruption an. Die Sehnsucht der Menschen nach Demokratie wurde in der Türkei immer größer, schließlich lasteten vom Militärputsch des 12. September 1980 bis in das Jahr 2000 Kriegspolitk und Unterdrückung auf ihren Schultern. 2002 nutzte die AKP bei den Wahlen zudem die Zersplitterung der demokratischen Kräfte und gelangte so an die Macht. Hätte es damals ein demokratisches, politisches Bündnis gegeben, so wäre es der AKP sicherlich anders ergangen. Sie machte sich jedoch den Kampf der demokratischen Kräfte untereinander zu eigen und nutzte gleichzeitig das Verlangen der Gesellschaft nach Demokratie. Die CHP (Republikanische Volkspartei) von Baykal ebnete der AKP den Weg zum Sieg wie heute die CHP unter Kılıçdaroğlu.

Bekanntlich ist Erdoğan gegen die sogenannte Erste Republik, also die Gründungsrepublik, da sie den politischen Islam ablehnte und dessen Kreise ausschloss. Dies beunruhigte diese zuvor jahrhundertelang einflussreiche Gruppe, doch auch wenn sie den Staat so nicht akzeptierten, erklärten sie ihm auch nicht offen den Kampf. Denn obwohl er sie außen vor ließ, so verfolgte er sie doch nicht so gewalttätig wie die Kurden oder die Sozialisten. So wurde das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet) gegründet, um die Religion in den Dienst des Staates zu stellen. Die neue Republik hielt die Kreise einerseits aus dem Staat heraus, akzeptierte auf der anderen Seite den sunnitischen Islam als Staatsreligion. Es wurde zwar vom Laizismus gesprochen, aber gleichzeitig der sunnitische Islam als Staatsreligion geschützt und genutzt. Das Verhältnis beider Seiten zueinander hat somit jeweils einen doppelten Charakter. Die politischen Islamisten kontrollierten den Staat nicht und befanden sich so in Opposition. Aus den genannten Gründen war diese Opposition jedoch nie wie jene der Kurden und der Sozialisten.

Sehnsucht nach Demokratie benutzt

Hauptziel der Kreise des politischen Islams war die Übernahme des Staates, dessen Demokratisierung sie ausschlossen. Denn in einer Demokratie gibt es keine Vorherrschaft nur eines Glaubens oder einer Ethnie über die Gesellschaft, weshalb sie immer im Widerspruch zu ihren Zielen gesehen wurde. Somit war eine wirkliche Demokratisierung auch nie in ihrem Sinne, als sie 2002 die Macht übernahmen. Es sollte nur zusammen mit den Anhängern Fethullah Gülens die Sehnsucht der Menschen nach Demokratie ausgenutzt werden, um die Staatsmacht zu übernehmen. An diesem Punkt nahmen sie die Unterstützung der EU und der USA in Anspruch und verdrängten den bisherigen Machtblock. Stück für Stück nisteten sie sich im Staatsapparat ein und schufen ihnen angebundenes Kapital. Als die bisherigen Machthaber zurückgedrängt waren, begann zwischen AKP und Gülen der Kampf darum, welcher Flügel des politischen Islams den Staat komplett in die Hände bekommt. Aus diesem Kampf gingen Recep Tayyip Erdoğan und die AKP als Sieger hervor, indem sie sich mit Teilen des klassischen Machtblocks verbündeten. Schließlich nahmen sie den Putschversuch vom 15. Juli 2016 als Vorwand, um die Feindschaft gegen die Kurden auszunutzen und endgültig herrschende Kraft im Staat zu werden.

Solange die Türkei nicht demokratisiert wird, bleibt es das Gesetz der Macht, die Kurden zu unterdrücken und eine Völkermordpolitik zu verfolgen. Erdoğan hat genau dies erkannt und seine Macht bewahrt, indem er die Kurden und anderen demokratischen Kräfte einschüchterte. Als er jedoch sah, dass er sie nicht hinhalten kann, erklärte er ihnen den Krieg, um seine Macht zu erhalten. Der Vorsitzende Öcalan selbst hat niemals geglaubt, dass die AKP Schritte in Richtung Demokratie unternehmen werde. Er versuchte jedoch, einige Schwierigkeiten, mit denen sich die Regierung konfrontiert sah, auszunutzen, um sie zu diesen Schritten zu bewegen. Diese Bemühungen wurden jedoch nicht genügend von Widerstandsaktivitäten der demokratischen Bewegung unterstützt und erbrachten somit keine positiven Resultate.

Liberale Version des 12.-September-Faschismus

Abdullah Öcalan hat den wesentlichen Charakter der AKP in seiner Verteidigungsschrift »Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü-Kültürel Soykirim Kiskacinda Kürtleri Savunmak« (Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation – Unter der Bedrohung des Genozids die Kurden verteidigen) im Kapitel »Die hegemoniale Machtverschiebung in der türkischen Republik« eindrücklich dargelegt.

So wie schon die Gründungsphase der Republik autoritär geprägt war, so ist auch in der Phase ihres Niedergangs ein solches autoritär-faschistisches Regime entstanden. Ungelöste Probleme bildeten die Grundlage für das AKP-Regime, das jedoch keine Lösungen dafür anbietet. Stattdessen vertieft es die Probleme und führte die Republik in eine Sackgasse. Der Vorsitzende definiert die AKP-Regierung als eine liberale Version des 12.-September-Faschismus, die den Kampf gegen die Freiheitsbewegung unter neuen Bedingungen fortsetzt. Es war der Faschismus des 12. Septembers, welcher der AKP-Regierung den Weg freimachte, der anschließend mit Unterstützung der NATO und der Einbeziehung des politischen Islams beschritten wurde. Doch der kurdische Freiheitskampf durchkreuzte diese Pläne. Als Öcalan im Rahmen des internationalen Komplotts verschleppt worden war, folgte eine Waffenruhe. Die herrschenden Klassen dachten, dass die PKK unter diesen Bedingungen nicht wieder auf die Beine kommen würde. Somit hätte der Restauration der Republik durch die Aufnahme des politischen Islams nichts im Wege gestanden.

In einer Phase, in der die Republik in einer Sackgasse steckt, sollte der politische Islam ins System integriert werden und ein neuer Staat entstehen, der auf einen Genozid an den Kurden abzielt. Die Übernahme der Macht durch die AKP diente hauptsächlich diesem Zweck und sollte mit dem Übergang zum Präsidialsystem bis 2023 vervollständigt werden. Die Religion soll Teil dessen sein, was mit »eine Nation, ein Vaterland, ein Staat und eine Fahne« symbolisch ausgedrückt wird. Auch wenn »eine Konfession« so nicht erwähnt wird, steht sie über allem. Nur würde die offene Nennung zu viel internationale Reaktion provozieren.

Um die Republik nach diesen Prinzipien umzugestalten, schloss Tayyip Erdoğan ein Bündnis mit Devlet Bahçeli [seit 1997 Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP]. Zur Zeit der Gründung der ersten Republik in den 1920er Jahren hatte der Staat einen großen Teil seines Territoriums verloren. Eine aus diesen Bedingungen erwachsene Republik ist in gewissem Sinne eine traumatisierte und aus Angst vor noch mehr Landverlust wurde sie zu einem kurdenfeindlichen, autoritären Staat. Selbstverständlich fand diese Entwicklung gemeinsam mit den Gegnern der Demokratie statt. Doch diese Art von Politik konfrontiert die Türkei auch immer wieder mit politischen Krisen. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurde versucht, mit Feindseligkeit gegenüber den Sowjets und in Kooperation mit äußeren Mächten zu reagieren. Diese Haltung wurde jedoch vom kurdischen Freiheitskampf, dem jahrzehntelangen revolutionären Kampf der demokratischen Kräfte und dem Ende der bipolaren Weltordnung gebrochen.

Die Demokratisierung lässt sich nicht allein in der politischen Arena erkämpfen

In welche Richtung wird es nun weitergehen? Wird die Republik durch die Integration des politischen Islams endgültig erneuert? Oder werden die Probleme und Krisen nun durch die Demokratisierung gelöst werden?

Die Demokratisierung lässt sich nicht allein in der politischen Arena erkämpfen, denn AKP und MHP werden alles tun, um dies mit reaktionären und faschistischen Mitteln zu verhindern. Auch wenn Erdoğan die Auftaktsitzung zum Präsidialsystem im historisch ersten Parlamentsgebäude der Republik abhielt, um zu zeigen, dass er eine neue Türkei schaffen und ihr Gründer sein werde, ging es ihm nur darum, die Gesellschaft zu täuschen. Das von ihm aufgebaute System hat weder einen Zusammenhang mit dem ersten republikanischen Parlament, noch wird es in irgendeiner Weise die Republik retten können. Stattdessen wird er damit fortfahren, die Türkei mit einer religiös-nationalistischen, faschistischen Mentalität und Struktur in die Sackgasse zu manövrieren. Es wird nichts bringen, die 1923 gegründete autoritäre Republik unter den Bedingungen der heutigen Welt, der Türkei, des Mittleren Ostens und Kurdistans in ein neues autoritäres System zu verwandeln.

Mit der antikurdischen und antidemokratischen Politik der AKP-MHP-Regierung, welche die Türkei permanent in einer Krise verharren lässt, wird man weder Stabilität noch Frieden erreichen können. Da diese Politik die Probleme nicht löst, wird ständig von einem »nationalen Fortbestandsproblem« gesprochen. Weil die Regierung und ihre Politik die Probleme nicht lösen werden, gilt es ihre Existenz in Frage zu stellen. Sie werden ihre Macht verlieren, sollten sie ihre Politik der Unterdrückung nicht weiter verfolgen. Somit müssen sie vom Fortbestandsproblem der Türkei sprechen und Repression anwenden, um sich an der Macht zu halten.

Doch auch mit der Einführung des Ein-Mann-Systems und der Mehrheit im Parlament wird es für sie schwer werden, bis 2023 an der Macht zu bleiben. Diese Ausweglosigkeit, welche die Republik in die Krise geführt hat und ihre Macht gewährleistet, bildet gleichzeitig auch die Basis für den Sturz ihrer Macht. Die demokratischen Kräfte und die kurdische Gesellschaft kämpfen seit Jahrzehnten, seit fast hundert Jahren. Die Kampfbereitschaft und das Potential der demokratischen Kräfte sind stärker als die Möglichkeiten der faschistischen Kräfte. Denn Letztere stützen sich auf Grundlagen, die nur zu Misserfolgen führen, während die demokratischen Kräfte über die Mentalität verfügen, die Probleme der Türkei lösen zu wollen. Keine ideologische und politische Kraft kann ihre Zukunft nur mit eigenen Mitteln schaffen. Nur diejenigen, die auch Antworten für die Bedürfnisse und den Zeitgeist haben, können erfolgreich sein. Diese Dialektik gilt in der heutigen Welt umso mehr.

Wenn gegen die faschistische AKP-MHP-Regierung gekämpft wird, dann werden sie 2023 nicht mehr erleben. Auch wenn sie ihre Macht durch Zwang, Gewalt und Geld erhalten wollen, werden sie von den politischen und gesellschaftlichen Problemen und die dadurch geschaffenen Krisen gestürzt werden, solange darum gekämpft wird. Die Gegenwart und die Zukunft der Türkei werden den demokratischen Kräften gehören. Diese werden durch gemeinsamen Kampf mit der kurdischen Gesellschaft das Jahr 2023 zu dem Jahr machen, in dem nicht eine despotische religiös-nationalistische, sondern eine demokratische Republik verwirklicht wird. Die bei der Gründung der ersten Republik geschaffenen Werte werden nur durch eine Demokratisierung an Sinnhaftigkeit gewinnen. Wer sich aus der heutigen Ausweglosigkeit befreien will, wer sich eine tiefgreifende Erneuerung der Republik gemäß Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit ersehnt, muss die Demokratisierung zum Ziel haben.

Wir möchten nochmals unterstreichen, dass die historischen und gesellschaftlichen Werte zeigen, dass die Ziele der demokratischen Kräfte und der kurdischen Gesellschaft verwirklicht werden und nicht die von Erdoğan und Bahçeli. Alle Gesellschaften der Türkei werden 2023 die Demokratisierung der Republik feiern.


 Kurdistan Report 199 | September/Oktober 2018