Feministische Delegation von »Gemeinsam Kämpfen!« nach Başûr und Rojava

»Im Süden ist es am schwersten«

Beitrag der feministischen Kampagne »Gemeinsam Kämpfen!«

Gemeinsam Kämpfen! Feministische Kampagne für Selbstbestimmung und Demokratische AutonomieIn der Autonomen Region Kurdistan kämpft die kurdische Frauenbewegung zwischen kapitalistischer Ideologie, feudalistischen Strukturen und der Repression der Parteien um die Revolution. Dass sich jetzt die Schließung all ihrer Einrichtungen durch die YNK ankündigt, macht die Schwierigkeiten deutlich, mit denen die Frauen vor Ort konfrontiert sind. Die feministische Kampagne »Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie« war mehrere Wochen in Başûr und Rojava unterwegs, um mit der kurdischen Frauenbewegung in einen Austausch zu kommen. Sie gewährt einen kurzen Blick auf deren Arbeit in Silêmanî, einer der größten Städte im Norden des Irak und im Süden Kurdistans. Weitere Eindrücke könnt ihr auf dem Blog »gemeinsamkaempfen.blogsport.eu« nachlesen.

Zur aktuellen Repressionslage gegen die Tevgera Azadî

Ende November wurden die Vertretungen und Büros der Tevgera Azadî (Tevgera Azadiya Civaka Kurdistan – Bewegung für eine freie Gesellschaft in Kurdistan) in Südkurdi­stan (Başûr; kurd. f. »Süden«) geschlossen. In Silêmanî, Ranya, Qeladizê und anderen Orten wurden dabei Parteisymbole und Fahnen beschlagnahmt. Die Tevgera Azadî ist eine Partei der Bewegung für demokratische Autonomie, vergleichbar mit der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Bakur (kurd. f. »Norden«; =Nordkurdistan). Die Tevgera Azadî hat im Gesamtirak im Jahr 2017 gemäß irakischer Verfassung ihre Gründung bekanntgegeben und ihren Gründungskongress abgehalten. Sie hatte in der Autonomen Region Kurdistan (Südkurdistan) bereits im Jahr 2014 die Zulassung als politische Partei beantragt. Doch die südkurdischen Behörden haben bis heute weder eine positive noch eine negative Rückmeldung auf den Zulassungsantrag gegeben. Nun dient genau diese fehlende Zulassung zur Begründung der Schließung der Büros.

Die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) stünde vollkommen unter der Kontrolle der Türkei, die YNK (Patriotische Union Kurdistans) hingegen unter der Kontrolle des Iran, beide Staaten wollten mit allen Mitteln verhindern, dass sich das Modell der demokratischen Autonomie etabliere: »Die Machtstrukturen ergeben sich den Besatzern«, erklärte die Sprecherin der Tevgera Azadî, Tara Hisen, gegenüber ANF in Silêmanî. Was sie damit meint, sind die tiefen Abhängigkeiten der PDK von der Türkei sowie der YNK vom Iran. Beide Parteien hätten auch deswegen stets versucht, die Arbeit der Tevgera Azadî zu sabotieren.

In YNK und PDK sei die Partizipation von Frauen eine Farce. Insbesondere die PDK versuche mit allen Mitteln zu verhindern, dass Frauen eine aktive Rolle in der Politik spielten, so Tara Hisen. Sie selbst sei sogar das Ziel versuchter Mordanschläge geworden. Während ihrer Arbeit in Hewlêr (Erbil) habe man u. a. versucht, sie zu überfahren. Beide Parteien, die seit der Autonomie von Südkurdistan 1991 an der Macht sind, würden keinerlei Basisarbeit in der Gesellschaft machen. Im Gegensatz dazu versuche die Tevgera Azadî intensiv vor allem in die politische Bildung von Frauen, Jugendlichen und der Gesamtgesellschaft zu investieren. Tara Hisen war schon in der Vorgängerpartei PÇDK (Partei für eine Demokratische Lösung in Kurdistan) aktiv gewesen. Die Tevgera Azadî sei noch mehr als System der Basis- und Bewusstseinsarbeit zu verstehen. »Warum ich mich beteiligt habe, ist vor allem aufgrund der Rolle der Frauen. Frauen machen in unserer Bewegung mindestens 50 % aus.« Jede Frau, die Mitglied bei der Tevgera Azadî ist, sei auch automatisch Mitglied bei der RJAK (Organisation der freien Frauen – Kurdistan) – der Basisorganisation der Frauenbewegung in Başûr. Auch die Männer in der Bewegung hätten eine andere Grundhaltung als in den anderen Parteien. Gegenseitiger Respekt sei selbstverständlich, so Tara. »Insbesondere nach Kobanê gibt es großes Interesse an dem Modell des demokratischen Konföderalismus«, fährt sie fort. Das sei auch der Grund für die aktuelle Repressionswelle. Teile der Bevölkerung hätten den Glauben an die traditionellen Modelle und die etablierten Parteien verloren und wünschten sich das Modell von Rojava nicht nur für Südkurdistan, sondern für den gesamten Irak.

Die Frauenbewegung RJAK

Dass die Arbeit in Başûr immer schwierig gewesen sei und noch sei, beschreibt auch die Organisation der kurdischen Frauenbewegung RJAK. Neben den Repressionen der Parteien seien die Gesellschaft und insbesondere die Frauen eingeklemmt zwischen der rigiden Vorstellung von »Ehre« und der kapitalistischen Ideologie, die sich mehr und mehr in Başûr etabliert, sagt die RJAK. Dass Frauen einerseits als »Eigentum« der Familie gälten, widerspreche andererseits nicht dem Schönheitsideal des Westens, das in Medien und Kultur immer wieder als das einzige Symbol der Emanzipation proklamiert wird. Der gemeinsame Kampf stütze sich daher in Başûr vor allem auf Bildung, um die repressiven Gesellschaftsstrukturen aufzubrechen. Auch wenn sich die Zwänge für Frauen in den verschiedenen Regionen Başûrs stark unterscheiden, sei ihnen gemeinsam, dass die Gesellschaft in Başûr eine der »unterdrückten Bildung« sei.

Einer der Hauptsitze der RJAK liegt in Silêmanî. Mit fast einer Million Einwohner*innen ist die Stadt eine der größten Kurdistans auf irakischem Staatsgebiet und liegt im Einflussbereich der YNK.

Silêmanî fällt als erster Name, fragt man nach den Orten der Bildung und Universitäten in der gesamten Region. Zwar liegt das auch an den diversen staatlichen Universitäten, vermehrt prägen aber vor allem private Einrichtungen – vornehmlich US-Akademien – die Bildungslandschaft.

Die Stadt gilt als eine liberale Stadt der Intellektuellen und Schriftsteller*innen. Vielerorts lassen sich Denkmäler und Statuen kurdischer und irakischer Gelehrter finden. In der Regel sind es Männer.

Voll bezahlte Gehälter durch den Staat gibt es kaum noch, seit mehreren Monaten wurden weder Lehrer*innen noch Ärzt*innen und Militärkräfte kontinuierlich bezahlt, so dass sie auf zusätzliche Jobs angewiesen sind. Frauen sind in diesen Bereichen durchaus präsent, lernen und lehren in den Universitäten und Schulen und erreichen hohe Abschlüsse. Für die Analyse der Frauenbewegung vor Ort ist dies jedoch nur ein kleiner Ausschnitt der Realität von Frauen in der Region. Die gesetzlich festgeschriebenen Frauenrechte wirken lediglich hinter dem Schleier religiöser und feudalistischer Dogmen. Frauen gelten als Trägerinnen der »Ehre« der Familie. Dies ist weder auf den Koran noch auf islamische Überlieferungen zurückzuführen, sondern liegt in der besonderen Kombination der Systeme in Başûr begründet. Einerseits prägen die feudalen Aşiretgesellschaften die Familie. Andererseits sind die Freiheitsversprechen des Kapitalismus eine bloße Hülle und stützen die traditionellen Geschlechterrollen. Demnach können Frauen die »Ehre« der Familie nur bewahren oder verlieren, nicht aber wiedergewinnen. Verhält sich die Frau nicht konform, ist die »Ehre« des Mannes in Frage gestellt.

Feminizide und Selbsttötungen

Die Auswirkungen dieser Praxis binden nicht nur das Bewusstsein, sondern auch den Körper der Frauen an den Eigentumsanspruch der Männer und haben zum Teil verheerende Auswirkungen.

Vor allem auf dem Land ist die Quote von Genitalverstümmelung (kurz FGM/C: Female Genital Mutilation/Cutting) erschreckend hoch. Je nach Quelle schwanken die Zahlen: Laut einer Studie von UNICEF aus dem Jahr 2013 sind im ganzen Irak etwa 8 % der Frauen von Genitalverstümmelung betroffen. Die Prozentzahl der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, die einer Verstümmelung unterzogen wurden, liegt in der Region Silêmanî bei 54 %. Die Zahlen zeigen, dass FGM/C nur in den nördlichen Regionen, einschließlich Hewlêr und Silêmanî, praktiziert wird, während in anderen Regionen des Landes die Prozedur praktisch nicht existent ist. Der Zwang der Geschlechterrollen kann tödlich enden: So wurden allein in den ersten neun Monaten 2018 in Başûr bereits 113 Frauen lebendig verbrannt, während 90 Frauen den Freitod durch Selbstverbrennung wählten. Hinzu kommen 37 Morde und 54 Selbsttötungen auf andere Art und Weise. Hohe Dunkelziffern und fehlende Aufklärung verfälschen die offiziellen Zahlen allerdings. Die Gründe für die Suizide sind vielfältig. Als ein Beispiel beschreibt Tara Hisen von Tevgera Azadî, wie schwierig es für Frauen sei, sich scheiden zu lassen. Viele Frauen seien ökonomisch abhängig von ihren Ehemännern und besäßen kaum Alternativoptionen, sich daraus zu lösen. Scheidungen auf Initiative von Frauen seien gesellschaftlich nicht akzeptiert, wohingegen es bei Männern eine gängige Praxis sei. Dazu käme, dass bei Scheidungen die Kinder dem Ehemann zugesprochen werden. »Diese Ausweglosigkeit führt dazu, dass Frauen sich manchmal lieber selbst töten, als in gewalttätigen Beziehungen zu verharren«, so Tara.

Der politische und gesellschaftliche Umgang mit diesen Themen sei völlig unzureichend, heißt es von Seiten der RJAK.

Es käme vor, dass die Leichen der Frauen teils über Wochen in den Krankenhäusern liegen – ohne ein Interesse an Aufarbeitung oder angemessener Beerdigung. Genitalverstümmelung und Verbrennungen seien gesellschaftliche Tabuthemen und mit viel Scham verbunden, was eine öffentliche Thematisierung seitens der Frauenbewegung nur sehr eingeschränkt möglich mache.

Schwierigkeiten und Methoden der Arbeitsweise der Frauenbewegung

Gerade weil sich die öffentliche Thematisierung vieler dieser Fragen in der Gesellschaft schwierig gestalte, bestimmten vor allem Kontaktpflege, interne Bildung, aktives Aufsuchen und Gesprächsangebote mit Frauen die Arbeit der RJAK. Weil man nicht einfach ohne Weiteres in die Häuser von Familien gehen könne, seien die vielen unterschiedlichen Beziehungen und Netzwerke zu den einzelnen Frauen die Stütze dieser Arbeit. »Es kommt uns darauf an zu sagen, ihr seid von euch selbst aus stark, ihr braucht dafür keinen Mann«, so die RJAK. Vieles drehe sich um die Themen, die Frauen beschäftigten: Kindererziehung, Gewalt in der Familie, fehlendes Selbstvertrauen. Weiterführende Bildungsarbeit vertiefe diese Themen und erweitere die Kreise der Bewegung.

Die Kontinuität der Arbeit der Frauenbewegung wird immer wieder durch unterschiedliche Ausmaße der Repression unterbrochen. Der aktive Angriff auf die Infrastruktur, der Ende 2018 stattfand, bricht mit der Praxis der YNK der letzten Jahre. Im Gegensatz zur PDK hatte die RJAK unter der YNK größere Spielräume. Bei zu viel öffentlichen Aktionen der Frauen allerdings schritten sie ein. Eine zentrale Strategie der Schwächung seitens beider Parteien besteht laut RJAK vor allem in der aktiven Abwerbung der ausgebildeten, selbstbewussten Frauen. Mithilfe gut bezahlter Jobs in Fernsehen und Politik sollen der Bewegung die Mitglieder entzogen werden. Mit den Schließungen der Büros nähert sich die YNK nun allerdings dem Vorgehen der PDK an. Unabhängig vom Repressionsgrad der vergangenen Jahre hat die Frauenbewegung ihre Arbeit aber immer fortgesetzt. Ihre Bildungsarbeit läuft weiter, auch wenn sie an die Möglichkeiten vor Ort angepasst werden muss.

»Es ist sehr wichtig, dass die Frauen von Başûr eine Stimme nach außen bekommen«, so Tara Hisen. YNK und PDK stellten Başûr als fortschrittliche Region dar, in der es Frauenrechte gäbe. Im Vergleich mit den anderen Teilen Kurdistans sei auch deswegen die Arbeit im Süden am schwersten, betonen die Frauen der RJAK. Denn Başûr sei mitnichten eine fortschrittliche Region. »Sie kontrollieren unsere Außenkontakte, damit nicht bekannt wird, wie es um die Frauen hier im Süden wirklich steht«, fahren sie fort. Die Staaten und auch NGOs unterstützten nur die Projekte der Regierungsparteien, die verhinderten, dass sich die Situation der Frauen wirklich verbessere. »Sie wollen uns unter Kontrolle halten.«


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019