Über die Guerilla des 21. Jahrhunderts

»... nicht nur eine militärische Funktion«

Interview mit Murat Karayılan, Auszüge


Auszüge eines Interviews mit Murat Karayılan. Murat Karayılan ist Mitbegründer der PKK, Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel) und Mitglied des PKK-Exekutivrats. Er gehört neben Cemil Bayık und Duran Kalkan zu den führenden PKK-Mitgliedern, auf die die USA ein Kopfgeld ausgesetzt haben.

Wie haben Sie auf die Festnahme von Abdullah Öcalan reagiert?

Das Internationale Komplott, das am 15. Februar 1999 in die Festnahme unseres Vorsitzenden mündete, schuf für uns eine neue Situation. Unsere Bewegung hat daraufhin den Krieg intensiviert und ausgeweitet, um sein Leben zu schützen. Das wurde auf dem zu dieser Zeit abgehaltenen 6. Kongress der PKK beschlossen. Wir waren erschüttert und wir sahen uns zu einer radikalen Erneuerung genötigt.

Hat Öcalan diese Entscheidung bestätigt?

Nein, der Vorsitzende hat anders gedacht. In unserem Denken standen Emotionen im Vordergrund. Er hat als Parteiführung trotz der Bedingungen seiner Geiselhaft einen sehr tiefgreifenden, realistischen Ansatz entwickelt und die Initiative ergriffen, um das Komplott ins Leere laufen zu lassen.

Worin bestand diese Initiative?

Er hat eine paradigmatische Erneuerung auf die Tagesordnung gesetzt. Wir hatten damals wirklich stagniert. Der Paradigmenwechsel war eine Notwenigkeit. Schon vor der Verhaftung hatte die Führung sich mit der Notwendigkeit einer derartigen Veränderung auseinandergesetzt und Vorbereitungen getroffen. Doch wir waren damals unter den Bedingungen des Komplotts nicht in der Lage so zu denken, sondern bei uns stand eher der Ansatz im Vordergrund, den Kampf auf gewohnte Art und Weise fortzuführen. Abdullah Öcalans bereits vor dem Komplott intensivierte gedankliche Veränderung und Analyse, wie z. B. seine Kritik am realsozialistischen System während des 5. Kongresses, sind auf Imralı mit dem Paradigmenwechsel vervollständigt worden. Die Bewegung, die bis dahin im Dogmatismus des Realsozialismus gefangen war, hat sich mit dem Paradigmenwechsel davon befreit und begonnen, die Ereignisse mit einem realistischeren Blick zu bewerten. Das neue Paradigma, das die Gründe für die Niederlagen in revolutionären Kämpfen gegen die kapitalistische Moderne analysiert, ist nicht nur auf Kurdistan begrenzt, sondern eine neue Perspektive für alle Kämpfe gegen den Kapitalismus. Der Vorsitzende Apo hat Perspektiven zur Überwindung von zentralen Problemen entwickelt, wie dem Verständnis von Macht und Gewalt im Realsozialismus und dem Blick auf Demokratie und die Frauenfrage.

Guerilla in NordkurdistanDas alternative Paradigma wurde über eine Kritik am Realsozialismus und an der kapitalistischen Moderne entwickelt. Wie ist in dem Paradigma das Verhältnis zur Gewalt definiert und was hatte dies für Auswirkungen auf Ihre militärische Struktur?

Unsere Herangehensweise an die Gewalt hat sich geändert. Anstatt Gewalt als unbedingte Notwendigkeit zu betrachten und Machtstreben nicht in Frage zu stellen, wird Gewalt jetzt nur im Rahmen von Verteidigung als legitim erachtet. Entsprechend dem Verständnis, das Leben und damit auch dessen Verteidigung als etwas Heiliges zu begreifen, haben wir einen neuen Begriff von Selbstverteidigung.

Dementsprechend ist unser Ansatz nun, dass eine Verteidigungskraft passender ist als eine Armee. Wir haben erkannt, dass es nur mit eigenen Strukturen möglich ist, den Sozialismus zu erreichen. Die bisher gegangenen Wege von Staatsgründung, Armeeaufbau und Macht trennen uns nur vom Sozialismus, und die Revolutionäre beginnen durch dieses Nachahmen der herrschenden Klassen diesen zu ähneln.

Sind dadurch die Volksverteidigungskräfte (HPG) entstanden?

Mit der Erkenntnis, dass Strukturen entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen entwickelt werden müssen und die Volksverteidigungskräfte in diesem Sinne als Name und Struktur besser passen, wurde auf dem 7. Kongress der PKK beschlossen, die ARGK (Volksbefreiungsarmee Kurdistans) durch die HPG abzulösen. Das war nicht nur eine Namensänderung, sondern eine tiefgreifende Erneuerung.

Was ist der zentrale Unterschied in der Strategie?

Diese Veränderung bedeutete die Überwindung des langanhaltenden Volkskriegs. In diesem alten Verständnis hatte die Guerilla eine zentrale Rolle. Die Gesellschaft und alle anderen Arbeiten und Institutionen standen im Dienste der Guerilla und es ging darum, die Guerillaarmee zu vergrößern, um mit ihr das Land zu befreien. Doch die vom Vorsitzenden Apo neu entwickelte Strategie der legitimen Selbstverteidigung und der Etappe des revolutionären Volkskriegs stützt sich nicht wie beim langanhaltenden Volkskrieg nur auf die Guerilla. In der alten Strategie war die Guerilla wesentlich und zentral. Die Gesellschaft war die Kraft, welche die Guerilla stärkt. Nur auf der letzten Etappe war ein wirksames Eingreifen der Gesellschaft ins revolutionäre Geschehen vorgesehen. In der vom Vorsitzenden vorgesehenen neuen Strategie des revolutionären Volkskriegs bilden die Guerilla und die Gesellschaft jeweils ein Standbein der Revolution. Dabei beteiligt sich die Gesellschaft mit Serhildans (Volksaufständen) am revolutionären Kampf und ist ein wichtiger Pfeiler der Revolution.

Wurde dieser Punkt richtig verstanden?

Dieser zentrale Punkt wurde leider von vielen unserer Basis noch nicht ausreichend verstanden. Deshalb gab es während des »Widerstands der demokratischen Autonomie«1 ernsthafte Schwierigkeiten. Weil die Gesellschaft nicht hinreichend auf diese Phase vorbereitet worden war, wurde der Widerstand nur auf einem Bein geführt, mit den bekannten Ergebnissen.

Im Hinblick auf den Guerillakampf sprechen wir von einer langen Zeit. War keine demokratische und friedliche Lösung in kürzerer Zeit möglich?

Die zwei Jahre vor dem 3. Kongress mit einbezogen sprechen wir von einem 34-jährigen Guerillakampf. Diese Kampfphase hat in den ersten sechs Jahren das nationale Bewusstsein aufgebaut und die kurdische Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Die Grundlage für eine Lösung mit demokratischen und friedlichen Mitteln wurde geschaffen. Doch weil der türkische Staat nicht von seiner Politik des Genozids gegen die Kurden abrückte, wurden Lösungen durch Dialog und demokratische Mittel blockiert. Meist wurden erst gar keine Schritte unternommen, nicht einmal formal, und wenn doch, dann hatte der türkische Staat im Kern immer den Weg des Spezialkriegs verfolgt. Von Zeit zu Zeit hat er Waffenstillstände nicht gebrochen oder Phasen wie die Osloer und die letzten Imralı-Gespräche zugelassen. Doch selbst dabei war er bestrebt, sein Projekt des Spezialkriegs umzusetzen, die Bewegung zu schwächen und zu liquidieren. Deshalb hat sich diese Phase des bewaffneten Kampfes bis heute hingezogen.

Wie unterscheidet sich die Guerilla Kurdistans von anderen Kämpfen auf der Welt und welchen Einfluss hat sie auf den gesellschaftlichen Wandel?

Organisatorisch betrachtet war die Guerillaorganisierung bzw. mit dem alten Ausdruck die Armeewerdung der Guerilla eigentlich eine Phase, die sich parallel zu den revolutionären Entwicklungen ereignete. Es begann mit wenigen Kräften. Bei ihrer Gründung bestand die ARGK nur aus ein paar hundert Menschen. Von da an wuchs sie rasant, so wie der Schneeball zur Lawine wird. Die 1990er Jahre sind die Phase der Vergesellschaftung der Revolution und des Wachstums der Guerilla. 1991 und 1992 gab es circa zehntausend Guerillakämpfer – zehnmal so viel wie zwei Jahre zuvor.

Ohne die Mängel in der Vorreiterrolle der ARGK hätte sich die Guerilla noch weiter entwickelt. Sie hatte aber einen starken Einfluss auf die Gesellschaft, wodurch diese in verschiedenen Dimensionen in eine tiefgreifende revolutionäre Phase eintrat – in die soziale und ideelle Revolution, die Frauenrevolution und die Demokratisierung. Das wurde durch den Kampf der Guerilla geschaffen.

Die Guerilla in Kurdistan ist eine ideologische und politische Guerilla. Sie agiert nicht wie in anderen Ländern von der militärischen und ideologischen Avantgarde getrennt. Sie ist eine komplette Avantgarde der Revolution mit militärischer, ideologischer und politischer Repräsentation.

Bekanntlich wurde seit der Gründung der türkischen Republik in Nordkurdistan alles angegriffen, deformiert und verleugnet, was den Namen Kurde trug – mit dem Widerstand der Guerilla wurde all dies wieder ins Leben zurückgeholt. Vieles ist mit der Guerilla wiedergeboren und gewachsen, wie zum Beispiel das Bewusstsein der eigenen Identität, also die kurdische Identität, das Bewusstsein für Geschichte, Patriotismus, Freiheit und Demokratie, das Bewusstsein, Teil der Gesellschaft und Frau zu sein, das hat sich mit der Guerilla entwickelt und in der Gesellschaft verbreitet. Deshalb hat die Guerilla nicht nur eine militärische Funktion. Die Quelle der starken Vorreiterrolle der kurdischen Frauen in der kurdischen Gesellschaft sind die Willensbildung und das Wachsen der Frau in der Guerilla.

In was für einer Phase der Neustrukturierung befinden Sie sich als HPG gegenwärtig?

Als Bewegung haben wir dank der Weitsicht und des Scharfsinns unserer Führung einen Paradigmenwechsel erlebt. Das hat uns einen wichtigen Vorteil verschafft. Insbesondere in den beiden letzten Jahren wurde innerhalb der HPG über eine Erneuerung diskutiert und auf der letzten HPG-Sitzung wurde das Projekt zur Neustrukturierung beschlossen. Das beinhaltet nicht nur die Bildung und die Professionalisierung der Guerilla. Ohne Zweifel ist Letztere ein Hauptziel, doch es geht im Kern darum, das in China und Vietnam entwickelte Modell der Guerilla zu überwinden. Dieses Modell wurde an verschiedenen Orten der Welt umgesetzt und von uns zwischen 1984 und 1999 praktiziert.
Wir versuchen seit den 2000ern, diese Art der Guerilla zu verändern, tiefgreifend zu überwinden und eine der Gegenwart angepasste Guerilla des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.

Fußnote:

1 - Im Herbst 2015 erklärten sich zahlreiche Kommunen in den kurdischen Gebieten der Türkei wegen der zunehmenden Aggression des Militärs zu autonomen Kommunen und verteidigten sich militant gegen die darauffolgenden massiven Angriffe der Armee. Dies wurde brutal niedergeschlagen, ganze Stadtteile wie Amed-Sûr und Städte wie Nisêbîn und Cizîr wurden zerstört.


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019