Wenn wir gemeinsame Schmerzen haben, werden wir auch eine gemeinsame Lösung hervorbringen!

Jineolojî-Akademie in Rojava eröffnete Andrea-Wolf-Institut

Andrea Benario

Die historischen und geografischen Wurzeln der Jineolojî lassen sich in den Analysen über Frauengeschichte in Mesopotamien sowie in den Dynamiken des langjährigen Freiheitskampfs der Frauenbewegung in Kurdistan verorten. Diese Wurzeln wurden durch die Errungenschaften feministischer Bewegungen, durch das Wissen und Wirken von Frauen und RevolutionärInnen weltweit genährt. In dieser Hinsicht hat auch der gemeinsame, internationalistische Kampf von Frauen in Kurdistan dazu beigetragen, Jineolojî als eine Wissenschaft von und für die Frauenrevolution aufzubauen, die sich zunehmend verbreitert und neue Früchte hervorbringt.

Mit dem Ziel, Erfahrungen zusammenzutragen und notwendiges Wissen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und für den Erfolg der Frauenrevolution zu erarbeiten, begannen die Arbeiten der Jineolojî-Akademie unter den Bedingungen der Revolution in Rojava. Seit 2017 wurden hierfür regionale Forschungszentren und Bildungseinrichtungen wie die Jineolojî-Fakultät an der Rojava-Universität aufgebaut. Am 18. Mai 2019 eröffnete nun die Jineolojî-Akademie in Rojava das Andrea-Wolf-Institut. Vor über 20 Jahren hatte sich Hevala Ronahî, Andrea Wolf, auf den Weg in die Berge Kurdistans begeben, um dort in der Frauenguerilla zu leben, zu lernen und zu kämpfen. Sie war auf der Suche nach neuen Gedanken, Verbindungen und Aufbrüchen für gesellschaftliche Befreiung, die sie auch in ihren Tagebuchaufzeichnungen festhielt. Fragen, die sie sich damals stellte, sind nach wie vor aktuell. 1997 hatte sie in den Bergen Kurdistans in ihr Tagebuch geschrieben:
»Ein frischer Wind liebkost mich, vor uns die Berge. Freie Sicht. Es ist Mittag, knallheiß. Die Grillen zirpen. Wir trinken Tee und essen trockenes hartes Brot. Aber es ist verdammt schön, alles lebt und doch hast du in diesem Kurdistan immer das Gefühl, hier wurde Menschheitsgeschichte gemacht, wurde ja auch. (...) Eine Ahnung von dem, was Leben wirklich sein kann – auch verbunden mit der Natur –, tut sich auf. Vor dem Hintergrund wird das Leben in Europa so deutlich fremd, wie es auch wirklich entfremdet ist.«

Jineolojî-Akademie in Rojava eröff nete Andrea-Wolf-Institut

In ihren Diskussionen mit FreundInnen wollte Hevala Ronahî revolutionäre Entwicklungsprozesse verstehen lernen. Während sie einerseits die durch das kapitalistische System verursachte Entfremdung und Zerstückelung des Lebens hinterfragte, bemühte sie sich zugleich darum, Erfahrungen von linker und feministischer Organisierung mit ihren GenossInnen zu teilen. Die Begegnungen mit den Menschen, der Natur und der Befreiungsbewegung in Kurdistan ermöglichten ihr, die unterschiedlichen Farben, Töne und Facetten des Lebens wahrzunehmen, die für sie zuvor nicht wahrnehmbar gewesen waren. In ihren Begegnungen mit der Frauenbewegung in Kurdistan hinterfragte sie die Gründe für die Entstehung von Machtverhältnissen und dogmatischem Schwarz-Weiß-Denken. Sie fragte sich: »Warum muss eine Kultur die andere ablösen und begraben? Warum muss der Kampf zwischen der mütterlichen (weiblichen) und der väterlichen (männlichen) Linie in einseitiger Niederlage enden und nicht in einer Bindung?«

In diesen Überlegungen brachte Heval Ronahî damals einen Kerngedanken zum Ausdruck, der heute in der Jineolojî Anwendung findet: Unterschiede aus hierarchischen Verhältnissen herauszulösen, sie nicht als trennende oder sich ausschließende Gegensätze, sondern als einander ergänzende Elemente wahrzunehmen. In diesem Sinne haben die Arbeiten am Andrea-Wolf-Institut mit dem Ziel begonnen, das Wissen und die Erfahrungen von Frauen aus verschiedenen Ländern mit diversen Lebenserfahrungen zusammenzutragen, um gemeinsam neue Perspektiven für die Befreiung von Frauen und Gesellschaften zu entwickeln. Die Mitgründerin des Andrea-Wolf-Instituts, Zehra Deniz, erzählt von ihren Zielen, ersten praktischen Erfahrungen und Zukunftsplänen.

Mit welchem Ziel wurde das Andrea-Wolf-Institut als Bestandteil der Jineolojî-Akademie eröffnet?

Wir können ganz deutlich erkennen, dass die kapitalistische Moderne einen Höhepunkt der patriarchalen Herrschaft darstellt. Es ist ein System, das auf Vergewaltigung und systematischer Gewalt gegen Frauen und alle unterdrückten Geschlechter beruht. Unser Planet sowie die Natur, die Gesellschaften und die Menschen, die mit all ihren Unterschieden auf ihm zuhause sind, werden zutiefst ausgebeutet und ringen um ihr Leben. Insbesondere Frauen kämpfen in allen Teilen der Welt gegen dieses Ausbeutungs- und Gewaltsystem für ihr Recht auf Leben und Freiheit. Gegen ein globales Ausbeutungssystem benötigten wir einen globalen Freiheitskampf.

Es ist sehr wichtig und bedeutungsvoll, dass sich solche Kämpfe an den verschiedensten Orten der Welt formieren und ausbreiten. Jedoch sehen wir auch, dass die Kämpfe feministischer, sozialistischer, anarchistischer, ökologischer sowie verschiedener kultureller und sozialer Bewegungen in sich gekehrt verharren. Da sie ihre Energien nicht zusammenfließen lassen, können sie nur eine begrenzte gesellschaftliche Wirkung entfalten. Weil sie ihre Energien nicht bündeln, entsteht keine Synergie, aus der eine Kraft zur Überwindung der globalen Herrschaft des kapitalistischen Systems hervorgehen kann. Das ist eines der größten Hindernisse, mit denen wir konfrontiert sind. Insbesondere der Kampf um die Befreiung der Frau erfordert eine tiefe Verbundenheit miteinander und eine starke Kraft. Wir bezeichnen die Situation der Frauen als die erste und letzte Kolonie.

Deshalb ist es umso wichtiger, diese Kraft des Kampfes freizusetzen. Denn solange wir die patriarchale Herrschaft nicht überwinden, die die Quelle des gesamten Ausbeutungssystems darstellt, sind unsere Natur, alle Lebewesen, die Gesellschaft und die Individuen existentiell bedroht. Daher stellt der Freiheitskampf der Frauen einen Existenzkampf für unsere gesamte Welt dar. Die wichtigste Frage lautet für uns deshalb: Wie können wir als Frauen unsere Kämpfe verbinden, ausweiten und den globalen Kampf für Demokratie und Selbstbestimmung gegen das globale kapitalistische System vorantreiben?

Für diesen Kampf ist ein tief greifendes und kollektives Bewusstsein von Frauen einhergehend mit einer Vertiefung unseres geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins unerlässlich. Ein Kampf, der keine geistige, gedankliche und emotionelle Vertiefung beinhaltet, wird nicht gegen ein derart organisiertes Herrschaftssystem bestehen können. Denkweisen und Lebensformen, die nicht mit den männlichen Herrschaftsideologien und -lebensformen brechen, werden diese unweigerlich reproduzieren und letztendlich geschwächt in das System integriert werden. Um dieser Gefahr vorzubeugen, brauchen wir Orte, an denen wir gemeinsam diskutieren, uns weiterbilden, unsere Gedanken und unser Leben miteinander vereinen können. Hierin besteht die Hauptrolle des Andrea-Wolf-Instituts. In verschiedenen geschichtlichen Epochen haben Frauen in allen Teilen der Welt wichtige Studien durchgeführt, Werke und Erkenntnisse hervorgebracht. Diese begreifen wir als Grundlagen, auf denen wir aufbauen können. Weitere Hauptquellen, die uns Kraft und Inspiration geben, sind die Errungenschaften feministischer Forschung und Kämpfe der Gegenwart und die Werte, die durch die Frauenrevolution in Kurdistan geschaffen wurden. Im Rahmen der Jineolojî wollen wir diese Erkenntnisse und Errungenschaften miteinander verbinden. Durch eine Synthese der vorhandenen Wissensquellen wollen wir allen Frauen die Möglichkeit geben, ihr Bewusstsein zu schärfen und ihr Wissen zu erweitern. Mit dieser Zielrichtung wollen wir am Andrea-Wolf-Institut Arbeiten im Bereich der Frauen- und Sozialwissenschaften durchführen, um einen gemeinsamen Geist, ein gemeinsames Bewusstsein und eine gemeinsame Linie des Kampfs mit Frauen aus dem globalen Osten und Westen zu bestimmen. Wir sind davon überzeugt, dass hieraus eine Lösungskraft gegen die durch das Herrschaftssystem erzeugten Katastrophen unserer Zeit entstehen kann.

Jineolojî erhebt den Anspruch, eine Wissenschaft von und für die Frauenrevolution zu sein. Was für eine Rolle kann das Institut für die Freiheitssuche von Frauen und die Frauenrevolution auf globaler Ebene spielen?

Der mutige und entschlossene Kampf, den die Frauenverteidigungskräfte YPJ und kurdische Frauen insgesamt gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) geführt haben, hat in Rojava eine wichtige Rolle für den Fortschritt der allgemeinen gesellschaftlichen Revolution gespielt, wie auch für die Frauenrevolution. Dieser große Widerstand an sich hat eine enorme Rolle für die Entwicklung des Frauenbewusstseins gespielt. Hierdurch ist Rojava zu einer Art Sammelbecken für die demokratischen und revolutionären Kämpfe verschiedener Völker in unserem Zeitalter geworden. RevolutionärInnen mit unterschiedlichen Identitäten, von verschiedenen sozialistischen, feministischen, anarchistischen Strömungen haben sich auf den Weg gemacht und sich an diesem Kampf beteiligt. Das hat einen neuen Horizont für weltweite revolutionäre Aufbrüche eröffnet. Das trifft auch für Frauen und die Perspektive des Frauenbefreiungskampfes zu. Die Revolution in Rojava hat unter Frauen verschiedener Herkunft große Aufmerksamkeit und Sympathien erzeugt. Frauen fühlen sich sowohl durch die Praxis der Selbstverteidigung als auch durch die gedanklichen Dimensionen der Frauenrevolution angezogen. Hier werden der revolutionäre Freiheitskampf und die Frauenrevolution aufgebaut. Das Fundament der Revolution beruht auf dem Zusammenhalt der Völker und Gemeinsamkeit der facettenreichen Identitäten von Frauen. Deshalb ist es natürlich eine historische Möglichkeit und eine große Chance, auf diesem Nährboden mit der Methodik der Jineolojî zu arbeiten und zu versuchen, ein gemeinsames Netzwerk der verschiedenen Identitäten, Gedanken und Meinungen von Frauen aufzubauen.

Hier hat die erste Frauenrevolution im Neolithikum ihre Form angenommen und zehntausend Jahre später nimmt erneut ein gesellschaftlicher Aufbruch von Frauen in dieser geografischen Gegend seine Form an. Die hier entstandenen revolutionären Werte in eine Frauenwissenschaft zu übertragen und zu entwickeln, kann eine Inspirationsquelle für Frauen sein, die in allen Teilen der Welt auf der Suche nach Freiheit sind bzw. die für ihre Befreiung kämpfen. Eigentlich handelt es sich nicht nur um eine Inspirationsquelle. Vielmehr bietet sich die Möglichkeit, Anstöße für ein gemeinsames Bewusstsein und einen gemeinsamen Kampf hervorzubringen. Das ist nicht abstrakt, sondern eine konkrete Realität. Diese Realität bedeutet, Schwierigkeiten und sogar den Tod in Kauf zu nehmen, wie uns unsere im revolutionären Kampf gefallenen FreundInnen verdeutlichen. Die ersten Steine zum Aufbau dieser Brücke zwischen den verschiedenen Kämpfen legte Hevala Ronahî, Andrea Wolf, aus Deutschland in den Bergen Kurdistans. Unsere Freundinnen Ivana mit afrikanischer Herkunft, die in Deutschland aufgewachsen ist, Lêgerîn aus Argentinien und Hêlîn aus England haben diese Brücke in Rojava weiter gefestigt und ausgebaut. Sie haben uns genauso wie unsere Freundin Sara aus Deutschland die Entschlossenheit gezeigt, frei zu denken und ein freies Leben aufzubauen.

Der erste Bildungsprozess des Andrea-Wolf-Instituts wurde Malda Koser gewidmet, die am 5. Mai 2019 durch einen Bombenanschlag auf dem Weg zwischen Hole und Hesekê ermordet wurde. Hevala Malda war eine junge kurdische Frau aus Hesekê, die mit viel Energie und Enthusiasmus die Aufbauarbeiten von Jineolojî zusammen mit Frauen aus den verschiedenen Communities in Nord- und Ostsyrien vorangetrieben hat. Mit ihrer Lebensfreude, ihren Prinizipien und ihrer Menschenliebe verkörperte sie den Geist der Jineolojî. In ihren Begegnungen und mit ihren Bildungsarbeiten öffnete Hevala Malda vielen Menschen aus der kurdischen, arabischen und suriyanischen Community neue Türen und Horizonte für ein freies und gemeinschaftliches Leben. Die Horizonte für die Frauenbefreiung und den Aufbau freier, solidarischer Gesellschaftsstrukturen zu erweitern war auch ein Grundanliegen des ersten Bildungsprozesses am Andrea-Wolf-Institut, an dem Frauen aus neun verschiedenen Ländern Europas und des Mittleren Ostens teilnahmen. Welche gemeinsamen Punkte und Fragestellungen waren für dich am spannendsten? Welche Unterschiede und Besonderheiten gab es?

Als eine Frau aus dem Mittleren Osten habe ich mich bislang noch nie an einem Ort befunden, an dem so viele unterschiedliche Identitäten gemeinsam zusammengelebt haben. Das war aus meiner Perspektive eine neue Erfahrung. Ich kann sagen, dass es für mich als eine Frau, die sich seit langen Jahren am revolutionären Kampf beteiligt, eine Bereicherung war. Einerseits habe ich die Mauern entdeckt, die das patriarchale Herrschaftssystem, die Mentalität der kapitalistischen Nationalstaaten und der Nationalismus in unseren Gehirnen errichtet haben. Andererseits habe ich auch Wege gefunden, diese Mauern zu überwinden. Genauso wie die Herrschenden in den westlichen Gesellschaften Vorurteile gegenüber der Kultur und Frauen des Mittleren Ostens geschürt haben, so wurden auch Vorurteile in den Gesellschaften und bei den Frauen des Mittleren Ostens gegenüber dem Westen geschürt. Ich habe eine ganz andere westliche Identität kennengelernt als die, die uns präsentiert wurde. Die westlichen Gesellschaften sind gar nicht so homogen, wie mir glaubhaft gemacht wurde. Auch dort gibt es verschiedene Frauenidentitäten, die im Kontext verschiedener Kulturen regionaler Völker entstanden sind. Ich habe ganz deutlich gesehen, dass die Schmerzen, die wir als Frauen erlebt haben, gemeinsam sind und wie viele Schläge und Schmerzen uns durch das patriarchale System zugefügt wurden. Das habe ich insbesondere während der Persönlichkeitsanalysen, die am Ende des Bildungsprozesses durchgeführt wurden, auf sehr schmerzhaft Weise gesehen und erlebt. Häufig trafen sich unser aller Gefühlsfrequenzen mit ihren Tränen und ihrer Freude auf der gleichen Ebene. Ich habe nochmals verstanden, dass, wenn unsere Schmerzen die gemeinsam erfahrenen sind, wir auch eine gemeinsame Lösung brauchen und hervorbringen müssen. Die Lebenserfahrungen, die eine jede Freundin mit uns geteilt hat, waren für jede von uns eine Bereicherung. Mit den Erfahrungen, die andere Freundinnen mit uns geteilt haben, sind wir zugleich reicher geworden. Wir haben unsere Fehler erkannt und darüber diskutiert. Indem wir uns von unseren Überzeugungen erzählten, sind wir eigentlich gewachsen. In dieser Hinsicht war es eine sehr wichtige und bedeutungsvolle Bildungserfahrung.

Welche Arbeiten wird das Andrea-Wolf-Institut zukünftig durchführen?

Die allgemeinen Ziele unserer Arbeiten habe ich eingangs erwähnt. Wir wollen unsere Arbeiten so organisieren und gestalten, dass sie eine Vertiefung bewirken und breitere Kreise von Frauen aus allen Teilen der Welt erreichen können. Da dies unsere erste Bildungsperiode war, haben wir ausführlich darüber diskutiert, an welchen Punkten wir die Arbeiten zukünftig verbessern können. Wir haben neue Methoden ausprobiert, die wir in kommenden Bildungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten noch vertiefen können. Als Erstes haben wir uns nun zum Ziel gesetzt, die Ergebnisse der Bildung zu verschriftlichen und Quellenmaterial zu erstellen. Es gibt Arbeitsgruppen, die an verschiedenen Buchprojekten und Broschüren arbeiten. Themen wie die Geschichte von Frauenkämpfen und -kulturen, Hevjiyana Azad (freies kommunales Leben), alternative und ökologische Wirtschaftsformen, Gesundheit, Selbstverteidigung, die Auswirkungen von Religionen und Liberalismus auf unser Leben können Themen für kommende Bildungs- und Forschungsarbeiten sein. Des Weiteren wollen wir noch breitere Kreise erreichen und Verbindungen und Austausch zwischen lokalem Wissen von Frauen mit verschiedenen Methoden herstellen. Gemeinsames Leben, Diskutieren und Arbeiten bieten beispielsweise die Möglichkeit, ein sehr viel tieferes, organisches Verständnis und Beziehungen zu entwickeln.


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019