Sich ein gemeinsames Verständnis von Solidarität aneignen

Die Isolation kann nur gemeinsam wirklich durchbrochen werden

Ali Çiçek und Wolfgang Struwe

»Isolation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich bin ein Mitglied dieser Gesellschaft. Ich beginne einen unbefristeten Hungerstreik, um gegen die Isolation von Herrn Öcalan zu protestieren. Ich werde mich ab sofort nicht mehr vor Gericht verteidigen. Heute wird die Politik der Isolation gegen Abdullah Öcalan nicht nur ihm auferlegt, sondern in seiner Person einer ganzen Gesellschaft.« (Leyla Güven, 7.11.2018)

Mit diesen Worten begann der Hungerstreik von Leyla Güven, den sie am 7. November 2018 für die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan begann und nach 200 Tagen, nach einer Erklärung aus Imralı, beendete. Ihrer Forderung, dass die sich immer weiter verschärfende Isolation Öcalans beendet werden müsse, schlossen sich mehr und mehr Aktivist*innen innerhalb wie auch außerhalb der Gefängnisse an. Tausende Menschen in verschiedensten Ländern wollten nicht eher wieder Nahrung zu sich nehmen, bis nicht die Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan durchbrochen wäre. Und so wurde die Tagesordnung der kurdischen Bewegung sechs Monate lang vom Hungerstreik und dem Kampf gegen die Isolation auf Imralı bestimmt – auch in Deutschland. Diese politische Offensive wurde als strategisch erklärt und als eine Phase des Widerstands, aber vor allem auch der Selbstkritik. »Wir erklärten immer, dass die Herangehensweise an Öcalan sinnbildlich für die Herangehensweise an die kurdische Gesellschaft stehe. Doch unsere Worte haben sich nicht ganz mit unserer Praxis gedeckt«, erklärt Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdi­stans (KCK), in der monatlich erscheinenden Serxwebûn.

»Mit der internationalen Fraueninitiative für Leyla Güven solidarisierten sich Tausende Frauen, die Aufrufe unterzeichneten, Kampagnen unterstützten, Demonstrationen veranstalteten und die Hungerstreikenden besuchten ...« | Foto: ANF

Abdullah Öcalan war zu Beginn des Hungerstreiks seit Jahren ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Der letzte Besuch seiner Anwält*innen hatte am 27. Juli 2011 stattgefunden. Sein Bruder Mehmet hatte ihn zuletzt am 11. September 2016 kurz gesehen. Mit der Isolation des Friedenspolitikers Öcalan eskalierte die Türkei den Krieg gegen die Kurd*innen, zerstörte ganze Stadtviertel in Nordkurdistan, besetzte den Kanton Efrîn in Rojava und verstärkte ebenso ihren Bombenterror und Besatzungswillen in Südkurdistan.

Dieser Hungerstreik, der die kurdische Gesellschaft mobilisierte, hat in gewisser Hinsicht allen, die sich solidarisch mit dem Freiheitskampf in Kurdistan erklären, einen Spiegel vor Augen gehalten. Während der erfolgreichen Verteidigung von Kobanê und dem Angriffskrieg der Türkei gegen Efrîn haben neben kurdischen Organisationen in Deutschland auch zahlreiche linke Kräfte den Ernst der Lage begriffen und wurden aktiv. Der Kampf um Kobanê und Efrîn wurde zunehmend als ein eigener Kampf verstanden, ein Kampf gegen Krieg und Faschismus, aber auch als ein Angriff auf uns hier. In der Aktionsphase zum Hungerstreik jedoch blieben die kurdischen Organisationen größtenteils für sich, und nicht nur das, die Linke konnte nicht verstehen, warum mensch unbedingt den Hungerstreik als Aktionsform nehmen müsse und dann auch noch für Öcalan.

Im Kontext der sechs Monate währenden Hungerstreik- und Widerstandsphase gegen die Isolation sind uns zwei zentrale Probleme noch mal besonders ins Auge gefallen, die die Frage der Solidarität grundsätzlich betreffen: die unreflektierte Abhängigkeit der Linken vom Mainstream sowie die kapitalistische Vereinnahmung des Subjekts in der Metropole am Beispiel der (Kurdistan-)Solidarität.

Widerstand rechtfertigen müssen

Während die kurdische Freiheitsbewegung es gewohnt ist, den Widerstand in Kurdistan der allgemeinen Öffentlichkeit gegenüber zu erklären, zu rechtfertigen und die Gegenpropaganda in den bürgerlichen Medien zu bekämpfen, stand die Mauer in den Köpfen diesmal auch bei großen Teilen der Linken in Deutschland. Die protestierenden Kurd*innen stießen auf Unverständnis und sogar auf Ablehnung. Mit ihren Forderungen nach Frieden und Demokratie und der darin enthaltenen Aufhebung der Isolation Öcalans haben sie so gut wie keinen Wiederklang gefunden, und schon gar nicht in den deutschen Medien. Besteht hier vielleicht ein Zusammenhang zwischen der Ablehnung und der fehlenden Aufmerksamkeit der Medien? Erinnern wir uns an den Kampf um Kobanê. Die in den Medien gefeierten Kämpfer*innen, aber im Besonderen die Kämpferinnen der Frauenbefreiungseinheiten YPJ, entfachten im Kampf gegen den barbarischen Feind »Islamischer Staat« sogar in breiten Teilen der Gesellschaft in Deutschland eine ungewöhnliche Sympathie für die Kurd*innen, wurden sie doch sonst in den bekannten Medien und üblichen Parteien totgeschwiegen oder als Terrorist*innen diffamiert. In diesem Hype, den auch die bürgerlichen Medien bedienten, zogen Tausende Menschen im Protest gegen den Krieg auf die Straßen. Öcalan und die PKK wurden gern außen vor gelassen, zu negativ belegt sind durch jahrelange Diffamierungskampagnen sowohl er als auch »seine« Partei. Aber hätte Rojava überhaupt diese Kraft und Anziehung entwickeln können ohne die bedeutenden Erfahrungen, die die kurdische Freiheitsbewegung in allen Teilen Kurdistans in ihrem langen Kampf um Befreiung errungen hatte? Und spielen nicht Öcalans bedeutende Werke, seine Verteidigungsschriften, die er auf der Gefängnisinsel Imralı schrieb, eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung einer geschlechterbefreiten demokratischen Gesellschaft im Mittleren Osten? So kann Rojava nicht isoliert von den anderen Teilen Kurdistans und der Freiheitsbewegung gesehen werden, und auch hier ist es ein Kampf um die Einheit, ohne die es keine Erfolge im Kampf um Freiheit und Unterdrückung geben kann. So wie die Bevölkerung im Norden Kurdistans im Kampf um Kobanê gezeigt hat, dass die Menschen in Rojava nicht allein sind, zeigte nur kurze Zeit später, als das Militär mit seinen Spezialeinheiten die Menschen in den Städten Nordkurdistans angriff und ihre Viertel dem Erdboden gleichmachte und Hunderte ermordete, die Bevölkerung von Rojava und Nordsyrien ihre Solidarität, ihre Verbundenheit, indem sie ihren Kampf gegen die faschistischen dschihadistischen Banden fortsetzte.

Der Kampf gegen die Isolation als gemeinsamer Kampf um Befreiung

Der Kampf der kurdischen Gesellschaft gegen das Imralı-System wird intern gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die Isolation und Separierung und somit gegen die Vernichtung der kurdischen Gesellschaft diskutiert. Gegen den Versuch der Vereinzelung und Entwurzelung des Individuums und seines Widerstands erlebt die Gesellschaft – egal an welchem Ort – in ihrem gemeinsamen Kampf Momente der Kollektivität. Eben dieser Kampf gegen die Isolation schafft die notwendigen Bedingungen, um wieder gesellschaftlich fühlen zu können, und ist kein Kampf, der auf Gefängnisse beschränkt ist. Selbstverständlich ist Isolation dort am schärfsten spürbar, weil sie eben mit direkter Gewalt umgesetzt wird und mensch aus seinem gesellschaftlichen Umfeld gerissen wird, weshalb der Kampf auch meistens dort beginnt. Öcalans Anwalt aus dem Rechtsbüro Asrın beschrieb die Isolation auf Imralı treffend mit den Worten: »Eine Insel ist weder draußen noch drinnen; ihre Besonderheit ist die Abgeschiedenheit. Die seit zwanzig Jahren andauernde physische Isolation stellt einen Teil des Größeren dar. Sie bedeutet den Abbruch jeglicher Beziehungen zur Außenwelt, Isolationspolitik, Tod und ein Leben, das aufs Engste begrenzt ist. In dieser Situation wird die Verbindung zur Gesellschaft unterbunden, doch zum Machtsystem bleibt sie bestehen. Sie ist aufgrund der Intensivität der angewandten Ausnahmegesetzgebung sogar besonders intensiv. Das Leben unter diesen Bedingungen ist zum einen geprägt von einer absoluten Macht, die bis in die letzte Zelle des Menschen zu spüren ist. Zum anderen von einem Schwebezustand an der Schwelle zur völligen Rechtlosigkeit.«1

Der Kampf gegen die Isolationspolitik ist ein solidarischer, verbindender Kampf. Ziel ist es, die Mauern, egal woraus sie geformt sind, einzureißen, von allen Seiten, sonst geht es nicht. Und hier kommt die Solidarität am Beispiel Gefängnis zur Geltung. Der im Gefängnis ist isoliert, eingesperrt, kann nicht zu mir, aber ich auch nicht zu ihm. Es geht also nur gemeinsam, wenn der Begriff von Befreiung erkämpft wird.

Befreiung ist in den gemeinsamen Kämpfen und in der Hoffnung des Sieges erreichbar. Darin kennt Solidarität keine Grenzen und entwickelt erst ihre Kraft, wenn es um Befreiung von der Unterdrückung geht, die eigene, des eigenen gesellschaftlichen Umfelds, gemeinsam, weltweit. Solidarität ist nicht Caritas, nicht etwas, das ich gebe, um anderen zu helfen, sondern Begriff und Grundlage des (gemeinsamen) Kampfes für die Entwicklung eines freien Lebens. Ohne diese Grundbedingung ist Befreiung zum Beispiel in den Metropolenländern, dort, wo die Entfremdung und Vereinzelung sich so tief ins Subjekt gefressen hat, überhaupt nicht mehr denkbar.

Der Kampf um Befreiung befreit, aber er hinterlässt auch seine Spuren, er lässt weinen und lachen, gibt Schmerz und Freude. Das gehört zusammen. Die Hungerstreikenden waren bereit, ihr Leben für die Freiheit zu geben. Neun Genoss*innen haben ihr Leben in dieser Widerstandsphase verloren, um den Druck für die Aufhebung der Isolation zu erhöhen. Das eigene Leben geben für die Freiheit wird hier in der Metropole nur schwer gedacht. Der Befreiungskampf in Kurdistan hat den Mikrokosmos Guerilla (dort, wo als Erstes Kollektivität und Befreiung – »Hevalti« – weiterentwickelt wurden) überwunden und die gesamte Gesellschaft dazu einladen können. Der von der Gesellschaft getragene Befreiungskampf in Kurdistan ist bereit, sich für ihren Traum eines anderen Lebens dieser langanhaltenden und immer brutaler werdenden Auseinandersetzung zu stellen. Es konnte gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und Hoffnung gesät werden. Vor allem konnte das Vertrauen in die eigene Kraft, seine Ziele auch zu erreichen, gestärkt werden – Schritt für Schritt. Der Hungerstreik, die Proteste und vielseitigen Widerstandsformen in allen Teilen Kurdistans sind Beispiele dafür. Doch leider konnten die linken Bewegungen die strategischen Möglichkeiten, die der Hungerstreik weit über die Grenzen Kurdistans hinaus geboten hat, nicht erfassen. In diesem Sinne betrachten wir die Bedeutung des Kampfes gegen die Isolierung von der eigenen Geschichte, von den Werten des gesellschaftlichen Lebens und darum, wie sie im gemeinsamen Kampf neu erkämpft werden können.

»So wie heute all eure Aufmerksamkeit nach drinnen in die Gefängnisse gerichtet ist, so ist unsere Aufmerksamkeit nach draußen auf ein Anzeichen eines Aufbruchs des Widerstands gerichtet. Während mir am Ende nur zu betonen bleibt, dass ›Widerstand einen wachsen lässt, tatenlos zusehen jedoch tödlich ist‹, bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mit Freuden für das Leben, das es wert ist, dass mensch dafür auch sein Leben opfert, und dessen Teil ich bin, nun meinerseits das meine zu geben bereit bin ...«, schrieb Leyla Güven im Januar aus dem Gefängnis in Amed (Diyarbakır).

Fußnote:

1 - http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2019/67-kr-202-maerz-april-2019/824-keine-bestrafung-sondern-kontroll-und-lenkungsmethode


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019