Aktuelle Bewertung

Neue Entwicklungen im Mittleren Osten

Ferda Cetin

Die gegenwärtige Phase wird oft mit Formulierungen wie »Krise des kapitalistischen Systems«, »periodisch wiederkehrendes Chaos« oder »Dritter Weltkrieg« charakterisiert. Die Kriege ‒ vor allem im Mittleren Osten ‒ und ökonomischen Krisen resultieren aus den grundsätzlichen Problemen, die sich in Folge der globalen hegemonialen Herrschaftsstruktur angehäuft haben.

Für die unterdrückten Völker und Widerstand leistenden Gesellschaften stellt das weltweite Fehlen nationaler Befreiungsbewegungen und sozialistischer Revolutionen, wie sie in der Zeit zwischen 1940 und 1970 stattfanden, ein großes Problem dar – ein Vakuum. Die kurdische Befreiungsbewegung ist angetreten, dieses Vakuum zu füllen. Sie führt auf der einen Seite einen Guerillakrieg gegen kolonialistische Ausbeuter und errichtet auf der anderen Seite ein alternatives Gesellschaftsmodell, das sich auf die Prinzipien des Ko-Vorsitzes, Rätestrukturen, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung beruft. Mit ihrer ablehnenden Haltung zu Nationalstaat und Hegemonialmacht gewinnt es den Respekt der Völker, während die kapitalistischen Staaten diesem Modell feindlich gesinnt sind und es zu neutralisieren beabsichtigen. Der türkische Staat ist in der Region offensichtlich damit überfordert, die Kräfte der demokratischen Moderne allein zu isolieren und zu schlagen.

Demonstration in der nordsyrischen Stadt Qamişlo für die Befreiung von Efrîn und den Schutz der Region Bradost gegen die Invasion der Türkei. | Foto: ANF

Internationale Reaktion auf Befreiung

So werden die Stellungen der Verteidigungseinheiten ohne Pause von ihnen angegriffen, die südkurdischen Dörfer, Şengal (Sindschar) und Mexmûr bombardiert, ohne dass die Vereinten Nationen, die USA, die EU, die irakische Regierung oder andere internationale Institutionen eine Reaktion darauf zeigen. Und auch die Besetzung von Efrîn sowie die Dauerangriffe der Türkei auf Rojava/Nord- und Ostsyrien kann der türkische Staat nicht im Alleingang durchführen. Hinzu kommt, dass in der Türkei und in Nordkurdistan 100 Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, zehntausend politische Vertreter*innen, Abgeordnete, Ko-Bürgermeister*innen, Mitglieder und Sympatisant*innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) oder der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) sind im Gefängnis, andere ins Exil getrieben und die USA, die europäischen Staaten, das Europäische Parlament und der Europarat schweigen; das alles zeugt von umfangreichen internationalen Absprachen.

Ein wichtiges Standbein dieser Absprachen ist die Isolation des kurdischen Repräsentanten und Vordenkers Abdullah Öcalan. Er hatte in den letzten acht Jahren nicht einmal seine Rechtsanwält*innen zu Gesicht bekommen und über Jahre seine Familie nicht gesehen. Den anderen drei Insassen auf der Gefängnisinsel Imralı erging es ebenso. Um den Einfluss der kurdischen Befreiungsbewegung und Abdullah Öcalans auf eine politische Lösung zu untergraben, wurde die Isolation auf Imralı immer weiter verschärft.

Die Isolation ist durchbrochen!

Die Aufgabe des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) ist es, bei aktuellen Hinweisen auf Folter oder schlechter Behandlung aktiv zu werden. Doch sowohl der Europarat als auch das CPT sind trotz mehrfacher Aufforderung durch Rechtsanwält*innen, Familienmitglieder und Abgeordnete sowie der Öffentlichkeit ihrer Verantwortung nicht nachgekommen und haben sich damit an der Isolation von Öcalan durch die Türkei beteiligt.

Das Ziel des mittlerweile erfolgreich beendeten Hungerstreiks, den die HDP-Abgeordnete Leyla Güven über 200 Tage lang anführte und dem sich Tausende kurdische Aktivist*innen anschlossen, war es, diese internationale Isolation zu durchbrechen. Sie haben mit Appellen an die internationalen Institutionen und die internationale Gemeinschaft erklärt, bis zur Aufhebung der Isolation ihre Aktionen fortzusetzen. Schließlich führten die an Stärke gewinnenden weltweiten Aktionen gegen die Isolation zum Erfolg, sodass Abdullah Öcalan schließlich seine Geschwister und Rechtsanwält*innen sehen konnte, ebenso wie die anderen drei Mitgefangenen auf Imralı. Die Isolation war durchbrochen.

Keine politische Akzeptanz für demokratische Strukturen

Staaten wie die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich positionieren sich gemeinsam mit Organisationen wie der al-Qaida, al-Nusra, Hai´at Tahrir asch-Scham (HTS) und dem sogenannten Islamischen Staat (IS) im Irak und Syrien gegen die kurdische Befreiungsbewegung. Doch andererseits sind die USA und Europa im Krieg gegen den IS eine offene und sichtbare Allianz mit den Kurd*innen eingegangen und erkannten die kurdische Bewegung als einen starken Kampfpartner an. Aber bei den politischen Gesprächen erkennen dieselben Kräfte die legitimen, politischen Vertreter*innen der Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien nicht an und verhindern deren Einbeziehung in politische Gespräche. Stattdessen nehmen sie den Kurdischen Nationalrat, welcher gute Beziehungen mit dem türkischen Staat und dem IS pflegt, und andere Kreise, die über keinerlei gesellschaftliche Basis verfügen, als ihre Ansprechpartner.

Die USA und EU loben die Kurd*innen als sogenannte heldenhafte, furchtlose und tapfere Kämpfer*innen, die gegen den IS kämpften, doch unter Federführung Deutschlands und der USA setzen sie ihre Politik der Ignoranz in Fragen politischer Gespräche fort.

Diese Doppelstrategie wurde ebenso deutlich, als die USA der Türkei grünes Licht zur Besetzung Efrîns gaben und der Bombardierung von Rojava, Şengal und Mexmûr sowie dem Aufbau militärischer Stützpunkte der Türkei in Südkurdistan zustimmten. Und das, obwohl sich die Türkei gemeinsam mit Russland und der »Freien Syrischen Armee« (FSA) gegen die Internationale Koalition stellte, an der die USA beteiligt sind. Ohne die Unterstützung der USA wäre es der Türkei unmöglich gewesen, nach Efrîn, Dscharabulus (Cerablus) und Asas einzumarschieren und sich in Nordsyrien festzusetzen. Und auch in Südkurdistan konnte die türkische Armee neben den alten militärischen Stellungen ohne Widerspruch internationaler Mächte weiteres Gebiet besetzen. Die Angriffe der Türkei gegen Rojava und Südkurdistan werden außer von den USA und Europa von Syrien, dem Irak, Iran und der südkurdischen Regierungspartei PDK nicht nur gebilligt, sondern auch unterstützt.

Parallel zu den Angriffen fanden in Astana und Sotschi Gespräche der Dreiergruppe Iran-Russland-Türkei statt, in deren Folge die Aggressionen der Türkei legitimiert werden sollten.

In den letzten fünf Jahren und insbesondere als Ergebnis des Krieges gegen den IS ist die Anerkennung und Unterstützung der kurdischen Befreiungsbewegung durch die Völker dieser Welt täglich gewachsen. Sie ist für den ganzen Mittleren Osten und die Gesellschaften weltweit ein praktisches Beispiel und gewinnt als Inspirationsquelle zunehmend an Bedeutung. Die USA und die europäischen Staaten fürchten diese sich entwickelnde Systemalternative und versuchen deshalb, die kurdische Befreiungsbewegung zu isolieren und einzudämmen.

Da sie diese politischen Entwicklungen nicht akzeptieren, werden auch die Selbstverwaltungen der Kantone in Nord- und Ostsyrien, die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und der Demokratische Rat Syriens nicht als Ansprechpartner anerkannt. Stattdessen wird ausschließlich mit den militärischen Vertreter*innen kommuniziert. So wurden auch zu keiner der sieben Konferenzen in Genf legitime Vertreter*innen des kurdischen Volkes eingeladen. Die Einbeziehung des Kurdischen Nationalrats und stammesbasierter Parteien, die keinerlei Einfluss in der Gesellschaft haben, sind das Ergebnis dieser Politik, die sich gegen den demokratischen Konföderalismus und die demokratische Selbstverwaltung richtet.

Internationale Diffamierung

Unter Federführung der USA und Deutschlands finden Aktionen zur Diffamierung und Delegitimierung der kurdischen Bewegung statt, indem das kurdische Volk und ihre legitimen Vertreter*innen unter Druck gesetzt werden.

Deutschland ist in Syrien Teil einer militärischen Koalition u. a. mit den Demokratischen Kräften Syriens (QSD), den Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Es stattet die kurdischen Kämpfer*innen mit Waffen und Munition aus, leistet logistische Unterstützung, verbietet jedoch in der Bundesrepublik ihre Fahnen und Symbole. Hier werden gegen Menschen, die diese Fahnen und Symbole tragen oder in sogenannten sozialen Medien teilen, Ermittlungsverfahren eingeleitet und Razzien durchgeführt, die allzuoft in gerichtlichen Verurteilungen enden. Dies findet alles in enger Kooperation mit der Türkei statt.

Und nicht ohne Grund setzten die USA im November letzten Jahres Kopfgelder auf drei kurdische Politiker aus, wird die kurdische Befreiungsbewegung von der EU erneut auf die Terrorliste gesetzt und der Druck auf kurdische Institutionen und Politiker*innen in Deutschland verstärkt. Das alternative Modell und Paradigma einer freiheitlichen, gleichberechtigten und politisch-ethischen Gesellschaft darf sich ihrem Willen nach nicht durchsetzen und soll vernichtet werden, indem dieses Modell zu einer unerreichbaren, unmöglichen und im wirklichen Leben nicht umsetzbaren Utopie degradiert wird.

Die anhaltenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen in der Türkei, Iran, Irak und in Syrien zeigen dem Mittleren Osten und Kurdistan die Notwendigkeit auf, sich gleichberechtigt, freiheitlich und demokratisch neu zu formieren. Die Nationalstaaten mit ihren Zentralverwaltungen sind mit ihrem Versuch, die Gesellschaften zu homogenisieren und ihre natürlichen Dynamiken zu unterdrücken, gescheitert. Nun hat die Phase des Aufbaus demokratischer und gleichberechtigter Systeme begonnen. Die Akteure der internationalen Herrschaftssysteme wie die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland sind sich darin einig, dass die regionalen, seit hundert Jahren von ihnen unterstützten Herrschenden aus dem Weg geräumt werden müssen. An ihrer Stelle aber wollen sie natürlich keine neuen Verwaltungen auf der Grundlage einer gleichberechtigten, freiheitlichen und politisch-ethischen Gesellschaft sehen. Der Wandel soll aus ihrer Sicht darin bestehen, die alten Herrschenden gegen neue auszutauschen, die jeweils ihre Interessen vertreten. Es soll erneut ein System von oben nach unten implementiert werden, in dem die Gesellschaft weder Mitspracherecht noch Entscheidungsbefugnis besitzt.

Basisdemokratie oder Spaltung

Im Gegensatz dazu sieht die kurdische Befreiungsbewegung in Nordkurdistan, Rojava, Şengal und Südkurdistan ein Rätesystem der kommunalen und regionalen Verwaltungen vor; ein radikal-demokratisches Gesellschaftssystem gegen die kapitalistische Moderne und die neoliberale »Demokratie«. Die aktuellen Kriege im Mittleren Osten und in Kurdistan sind im Grunde ein Krieg zwischen diesen beiden Systemen. Jetzt, da der Krieg in Syrien und Rojava sich dem Ende neigt, haben die USA, Russland, die EU und die regionalen Kräfte des Status quo das Ziel einer geografischen (je nach Gewinn oder Verlust von Gebieten) Teilung auf der Grundlage von ethnischen, religiösen und konfessionellen Widersprüchen. Dieses »neue Syrien«, das die beiden Hauptakteure USA und Russland mit Unterstützung der Vereinten Nationen und Europas nach dem Krieg schaffen möchten, wäre im Grunde eine Partnerschaft unter »Feinden«. Es würde errichtet auf Kämpfen und Spannungen, geprägt von gegenseitigem Misstrauen und der Durchsetzung der jeweiligen Machtansprüche ihrer Hegemonialmächte. Das bedeutet für die Menschen und politischen Kräfte in Syrien die Abhängigkeit von den USA und/oder Russland. Diese Methode hat ihren Ursprung jedoch nicht in den USA oder Russland, sondern in den historischen Erfahrungen und Praktiken des British Empire. Die Politik des »Krisenregimes«, zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten der Welt eingesetzt, ist eine klassisch britische Politik. Sie beendete die Kriege und Spannungen nicht, sondern hielt sie aufrecht und schuf Abhängigkeiten. Die aktuelle Situation im Irak und in Syrien folgt genau dieser politischen Methode.

Die Kurd*innen und die anderen Völker in Nord- und Ostsyrien bieten jedoch für ganz Syrien ein lebendiges Beispiel an, das nicht auf Ethnizität und Konfession beruht, das nicht die Spaltung, sondern ein gemeinsames Zusammenleben zur Grundlage nimmt, für das gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede bereichernd sind und nicht zu Unsicherheit und Konkurrenz führen; ein allumfassendes, demokratisches und konföderales System. Der derzeit geführte Kampf soll dieses Modell davon befreien, eine ferne und unerreichbare Utopie zu sein, und es zu einem lebendigen Modell transformieren.


 Kurdistan Report 204 | Juli/August 2019