İdris Baluken über die Botschaften Abdullah Öcalans

Demokratische Politik als Mittel der Zivilgesellschaft

Aus einem Interview mit dem inhaftierten HDP-Politiker in der Zeitung Yeni Yaşam


Seit dem 4. November 2016 ist der ehemalige Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aus Amed (Diyarbakır), İdris Baluken, im Sincan-Gefängnis in Ankara inhaftiert. Er war während der Friedensverhandlungen zwischen 2013 und 2015 Mitglied der sogenannten Imralı-Delegation, die zwischen dem türkischen Staat, Abdullah Öcalan und der PKK eine Vermittlerrolle spielte. Auch der Sprecher der ehemaligen Imralı-Delegation Sırrı Süreyya Önder ist inhaftiert. In den folgenden Auszügen aus einem Interview in der Zeitung Yeni Yaşam bewertet İdris Baluken die Erklärungen Abdullah Öcalans. Öcalan konnte infolge des Hungerstreiks kurdischer Aktivisten über seine Anwälte erstmals wieder zu politischen Entwicklungen Stellung nehmen.

Die HDP-Politiker Pervin Buldan, Sırrı Süreyya Önder und İdris Baluken im Januar 2015 auf dem Weg nach Imralı. In den jüngsten Gesprächen auf Imralı standen vor allem Diskussionen über den Begriff der demokratischen Politik im Vordergrund. Was denken Sie, als jemand, der die Gelegenheit hatte, Abdullah Öcalan mehrmals zu treffen, wie diese Diskussion geführt werden sollte?

Die Betonung der demokratischen Politik war auch bei unseren Treffen auf Imralı zentrale Agenda. Ich kann den Ansatz von Herrn Öcalan so zusammenfassen, dass die Probleme im gesellschaftlichen Bereich auf den politischen Bereich übertragen werden sollen. Nachdem dort Lösungen produziert wurden, sollen diese erneut in die Gesellschaft zurückgetragen werden. Es geht also um die Politisierung der gesellschaftlichen Forderungen und die Vergesellschaftung der politischen Lösung. Öcalan schafft es, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Auf jedem Treffen formulierte er weitsichtige Analysen. Er überwand mit seinem Ansatz Probleme oder Sackgassen und entwickelte kreative Ideen. Sein Ansatz erscheint als Vorhersage für eine Vielzahl von Problembereichen im Mittleren Osten.

In der ersten Erklärung aus Imralı wird Bezug genommen auf die Newroz-Deklaration von 2013. In diesen Jahren standen auch Sie noch aktiv in der Politik.

Man muss hierbei die Entschlossenheit und das Beharren auf Frieden und Geschwisterlichkeit erkennen. Der Geist von Newroz 2013 bot eine historische Chance und hätte ein bedeutender Meilenstein werden können. Denn in der Phase, als dieser Geist noch zu spüren war, war in der Gesellschaft eine starke Hoffnung verbreitet und die Erwartung auf Frieden. Die folgenden Auseinandersetzungen und Erschütterungen in der Kriegsphase haben wir alle miterlebt. In allen Bereichen, vor allem der Wirtschaft, verschärfen sich die Probleme und Krisen. In dieser Hinsicht denke ich, dass es wichtig ist, die beharrliche Position Herrn Öcalans richtig zu verstehen, welche die Hoffnung wieder aufblühen zu lassen und der Gesellschaft Luft zum Atmen zu verschaffen sucht. Seine dargelegten Thesen müssen als größte Chance für einen Frieden bewertet werden.

Eine Atmosphäre für eine freie Diskussion muss geschaffen werden, damit die kurdische Frage und die Demokratisierungsprobleme der Türkei gelöst werden können. In einer Situation, in der selbst Friedensforderungen als Verbrechen eingestuft werden, kann keine rationale Lösung erzielt werden.

Mit der gegenwärtigen Verfassung und Gesetzeslage ist es schwierig, auch nur ein bisschen Veränderung zu bewirken. Aus diesem Grund muss eine demokratische Verfassung thematisiert werden, in deren Zentrum die Menschenrechte, das internationale Recht und der Raum der Freiheiten stehen. Auf diese Weise kann ein gesellschaftlicher Kompromiss wachsen. Diejenigen, die all dies umsetzen werden, sind die politischen Parteien, die NGOs, die Intellektuellen, die Kulturschaffenden, Journalisten und alle Kreise, die gesellschaftliche Verantwortung tragen. Die Diskussionen der genannten Kreise müssen nach Imralı getragen werden. Wenn man einen wirklichen Frieden will, muss man realistisch sein. Für einen nachhaltigen gesellschaftlichen Frieden müssen die Haftbedingungen Herrn Öcalans auf Imralı in der Hinsicht geändert werden, dass er mit all diesen Kreisen in Kontakt stehen und diskutieren kann. Er selbst hatte seine Bemühungen auf Imralı mit der Metapher »in einem Becken schwimmen« beschrieben. In einem leeren Becken kann man nicht schwimmen. Das Becken muss gefüllt werden durch Wissen, Gedanken und qualitative Diskussion.

Welche Rolle spielen gesellschaftliche und politische Kreise in demokratischen Verhandlungsprozessen, welche Mission haben sie?

Sie müssen zunächst einmal den Frieden und die Lösung zur zentralen Tagesordnung im Land machen. Alle krisenhaften Bereiche, die das Leben der Bürger berühren, wie die Wirtschaftskrise, müssen richtig definiert werden und ihre Verknüpfung mit der Kriegspolitik muss betont werden. Die Äußerungen türkischer Politiker im vergangenen Wahlkampf waren Geständnisse, die in die Geschichte eingehen werden. Es wurden direkte Verbindungen zwischen leeren Staatskassen und den Kosten von Munition formuliert. Politische Parteien, NGOs, Berufsverbände, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft können zu diesen Themen Foren und Konferenzen organisieren. Deren Ergebnisse können direkt mit der Gesellschaft geteilt werden. Diese Vorgehensweise birgt zudem die Möglichkeit einer starken Organisierung für Frieden und Demokratie. Mit dieser dynamischen Kraft könnte man mit demokratischen Methoden wie Presseerklärungen, Demonstrationen und Kundgebungen das Thema auf der Agenda halten, bis ein Ergebnis erzielt wird.

Mit dem Verweis auf Gandhi rief Öcalan dazu auf, zivile und kreative Lösungen zu entwickeln. Wie haben Sie diesen Appell wahrgenommen?

Wir können sagen, dass dieser Appell die historische und lebenswichtige Bedeutung der Zivilgesellschaft im Rahmen demokratischer Kriterien aktualisiert hat. Die Kampagne des zivilen Ungehorsams von Gandhi, wie beispielsweise der Salzmarsch, hat den hiesigen britischen Kolonialismus zur Strecke gebracht. Er erinnert daran, dass gegenüber politisierten zivilen Forderungen, die Mut, Geduld und Entschlossenheit beinhalten, keine Macht gleichgültig zusehen kann.

Öcalan hat über seine Anwälte mehrfach von der »Politik des Lebens und Lebenlassens« gesprochen. Wenn Sie an ihre vergangenen Gespräche mit ihm denken, was kommt Ihnen da in den Sinn?

In unseren Gesprächen beschränkte sich sein Politikansatz nicht nur auf den Menschen. Er sprach im Rahmen einer Perspektive, die die Natur, die Umwelt und sogar das Universum miteinschließt. Er behandelte die Gefahren der kapitalistischen Moderne für das menschliche Leben in einem ganzheitlichen Rahmen, der die Natur und alle Lebewesen einschloss. Seine demokratischen Thesen erörterte er innerhalb eines ökologischen Paradigmas. Auch die Herrschaft der männlichen Mentalität über die Frau bewertete er mit dieser Perspektive. Öcalan formulierte mehr historische, soziologische, philosophische und politische Analysen, anstatt oberflächlich über alltägliche Entwicklungen zu sprechen. Deshalb drehten sich die Gespräche mit ihm um ganz verschiedene Themen. Über Frauenmorde und die Situation von Saisonarbeitern und Bauarbeitern bis hin zum bedrohten kulturellen und historischen Erbe von Heskîf (Hasankeyf). Auf jedem Treffen sprach er selbstverständlich auch über das Problem des Krieges und dessen Auswirkung auf das Leben.

Öcalan warnt insbesondere, dass »Familien- und Stammesbindungen« in der Region gestärkt und politisch ausgenutzt werden. Was können Sie dazu sagen, auch im Kontext der Ereignisse von Pirsûs (Suruç) und Siwêrek (Siverek)1?

Ich denke, es gibt dabei zweierlei zu beachten. Erstens die Herangehensweise, die sich auf Familien- oder Stammesbindungen stützt, wie zuletzt in Pirsûs und Siwêrek. Die jüngste Geschichte ist voller solcher Massaker und Tragödien. Dahinter steckt eine kranke Mentalität, die kann alles aus der staatlichen Macht herausholen. Im Grunde ist dieser krankhafte Ansatz nicht neu. Die Wurzeln reichen bis in die Vergangenheit. Diese feudalen Strukturen wurden geschützt, wenn nicht sogar unterstützt, um in der Zeit des Osmanischen Reiches und der türkischen Republik die Kurden politisch zu kontrollieren und wenn nötig gegeneinander aufzuhetzen. Gleichzeitig wurden diese feudalen Strukturen als Mittel dafür benutzt, um die Kurden materiell abhängig zu machen und politisch zu entmündigen. Das ist die Quelle des Problems. Andererseits kann die Stammesstruktur nicht vollständig verurteilt werden, denn sie beinhaltet auch interne autonome Entscheidungsfindungsprozesse, zu ihrer Grundlage gehören das friedlichen Zusammenleben mit anderen Stämmen und der Schutz der eigenen kulturellen Existenz vor den Versuchen der Assimilation. Das Thema bedarf ausführlicher historischer, politischer und soziologischer Bewertungen. Angesichts der Folgen des Dorfschützersystems ist das leicht erkennbar.

Zweitens scheint es eine Warnung an die demokratische Politik zu sein. Eines der charakteristischen Merkmale solcher feudalen Vereinigungen ist ihre Verschlossenheit und dass sie sich ausschließlich mit ihren eigenen Problemen auseinandersetzen. In dieser Hinsicht könnte Öcalan auch auf die Ausweitung der demokratischen Politik, der demokratischen Bündnisse und der Beziehungen mit anderen gesellschaftlichen Kreisen aufmerksam gemacht haben.

Bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl hat sich mit der HDP ein dritter Weg gezeigt. Welche Verantwortung tragen die Demokratiekräfte für diesen von Öcalan aufgezeigten Weg?

Sowohl die Kommunalwahl vom 31. März als auch die wiederholte Istanbul-Wahl am 23. Juni hat in der politischen Geschichte der Türkei wichtige Ergebnisse hervorgebracht und Brüche aufgezeigt. Da viel darüber geschrieben wurde, möchte ich nicht auf die Details eingehen.

Die künftige politische Agenda wird von der internen Situation der AKP, ihrem Verhältnis zur MHP und dem Verhalten des Regierungsbündnisses gegenüber Demokratie und demokratischer Lösung abhängen und bestimmt sein.

Die HDP sollte sich natürlich bemühen, in diesen Prozessen mitzuwirken, ihre eigene Position und Politik in breitere gesellschaftliche Kreise zu tragen und sie für ein gemeinsames Ziel in wirksame politische Subjekte zu verwandeln. In diesem Sinne wird erwartet, dass die demokratischen Bündnisse ausgeweitet werden. Kreise, die zur HDP bislang Distanz wahren, müssen miteinbezogen werden. Alle dürsten nach Demokratie, Frieden, Menschenrechten und universellen Rechtsnormen. Die HDP ist die Kraft und die Linie, die das Land demokratisieren und den Völkern des Mittleren Ostens Frieden bringen wird. Sie verfügt über den Schlüssel, den beiden zentralen politischen Strömungen in der Türkei die Demokratie näherzubringen.

Das komplette Originalinterview online: http://www.yeniyasamgazetesi1.com/baluken-imrali-onundeki-engeller-kaldirilmali/

Fußnote:

1 - Anm. d. Ü.: In beiden Städten gab es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen miteinander verwandten Familien, unter anderem um Landbesitz.


 Kurdistan Report 205 | September/Oktober 2019