Trotz Staubeginn am Ilısu-Staudamm:

Es ist nie zu spät für Hasankeyf und den Tigris!

Ercan Ayboga

»Der Kampf ist verloren«, sagen einige FreundInnen mutlos. »Was können wir noch für Heskîf (Hasankeyf) und den Dicle (Tigris) tun? Denn der Aufstau hat begonnen«, fahren sie fort. Wir halten dagegen mit dem seit Juni immer wieder verwendeten Satz »Es ist nicht zu spät für Heskîf!«. Denn es ist tatsächlich nicht zu spät, es ist nie zu spät für diese wichtige Region. Ein Kampf wird oft im Kopf verloren, dann draußen im Felde. Außerdem gibt es viele Faktoren in einer politisch immer unvorhersehbareren Lage.

Protest in diesem Sommer gegen den Beginn der Aufstauung des Tigiris in Heskîf. Mit den globalen Aktionstagen für Heskîf und den Dicle vom 7. und 8. Juni 2019 ist der zerstörerische Ilısu-Staudamm wieder auf die Tagesordnung zurückgekehrt. Jahrelang brachten große Medien in der Türkei und Nordkurdistan als auch international vereinzelt – oft zu bestimmten Anlässen – größere Beiträge. Doch seit Juni 2019 ist es ein Dauerthema. Weltweit haben die meisten größeren Medien in den vergangenen Wochen und Monaten berichtet, oft dabei ihre JournalistInnen an den Dicle geschickt. Aber auch sehr viele (kleinere) kritische Medien sind angereist, um zu berichten und den Widerstand hervorzuheben.

Zu den Aktionstagen im Juni wurde aufgerufen, weil im März die türkische Regierung den Beginn des Aufstaus für den 10. Juni 2019 angekündigt hatte. Knapp zwei Jahre war es still gewesen. Als im August 2017 Felsen in Heskîf gesprengt worden waren, hatte es einen kurz währenden großen Aufschrei gegeben, der auch von den türkischen und selbst internationalen Medien wahrgenommen wurde. Die seit diesem Juni anwachsende Kampagne entstand leider nicht 2017. Sonst wäre es für die türkische Regierung viel schwieriger gewesen, den Bau des Dammkörpers Anfang 2019 abzuschließen und mit dem Aufstau um den 20. Juli 2019 herum zu beginnen.

Nichtsdestotrotz haben wir in den vergangenen Monaten in der Gesellschaft der Türkei und Kurdistans viel erreichen können. Viele Tausend Menschen äußerten sich in verschiedener Form kritisch. Sie wurden auch von einer Reihe sich zu Wort meldender kurdischer und türkischer KünstlerInnen angetrieben. Etliche berühmte KünstlerInnen wie Erkan Oğur, Xero Abbas, Mikail Aslan, Zehra Doğan, Haluk Levent wandten sich mit Erklärungen offen dagegen, Heskîf und das Dicle-Tal zu fluten. Auch oppositionelle politische Parteien stellten sich in den vergangenen Monaten offen gegen Ilısu, dabei stach vor allem die Demokratische Partei der Völker (HDP) hervor. Zum ersten Mal zeigte sich auch die Republikanische Volkspartei (CHP) an der Thematik interessiert. Selbst die SP (Glückseligkeitspartei) empfing AktivistInnen der Kampagne gegen den Ilısu-Staudamm.

Die Folge des Aufschreis in der Gesellschaft war die Gründung der Heskîf-Koordination am 5. Juli 2019, die neben der seit 2006 aktiven Initiative zur Rettung von Heskîf weitere Vereine, Berufsorganisationen, ökologische Gruppen, die HDP und HDK (Demokratischer Kongress der Völker) und Einzelpersonen einschließt. Seitdem finden die meisten Aktivitäten im Namen der Heskîf-Koordination statt.

In Anbetracht der letzten Monate ist es u. a. wichtig für uns, dass eine Reihe sozialer Bewegungen und NGOs aus der Türkei, die gegen ökologisch-soziale Zerstörung durch Bergbau-, Talsperren-, Gentrifizierungs- oder Tourismusprojekte kämpfen, in ihren Aktivitäten und Erklärungen immer wieder den Widerstand in und um Heskîf nennen und grüßen. Das ist ein Novum in dieser Form und auch das Ergebnis eines längeren Prozesses der Zusammenarbeit ökologischer Organisationen in der Türkei und Nordkurdistan, der vom türkischen Nationalismus über Jahre eingeschränkt wurde. Ein wichtiger Schritt in diesem Sinne war die Anfang 2018 erfolgte Gründung der »Ökologieunion« (türkisch: Ekoloji Birliği) aus 52 ökologisch arbeitenden zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem gesamten Land.

Im Juli, also einen Monat, nachdem Heskîf und das Ilısu-Projekt einen gewissen Platz in den Diskussionen gefunden hatten, rückte der Kampf von AktivistInnen gegen das Alamos-Goldminenprojekt in der ägäischen Provinz Çanakkale ebenfalls in den Vordergrund. Innerhalb weniger Wochen beteiligten sich Zehntausende an Demonstrationen und anderen Aktionen, als Bilder von der Abholzung von mehr als zwei Millionen Bäumen nahe den Ida-(türk.: Kaz-)Bergen veröffentlicht worden waren. Ein Teil der AktivistInnen von den Ida-Bergen (leider nicht der türkisch-nationalistische Teil) als auch andere Ökologiebewegungen begannen seitdem, im Kampf gegen die ökologiefeindliche Politik der AKP-Regierung die Begriffe »Heskîf« und »Kaz-Berge« zu verwenden. Auch wir tun es. Damit wollen wir unter anderem zum Ausdruck bringen, dass es unbedingt notwendig ist, gemeinsam der zunehmenden zerstörerischen Politik auf Staatsebene durch immer mehr Investitionsprojekte im Energie- und Infrastrukturbereich etwas politisch Nennenswertes entgegenzusetzen. Denn die Politik der autoritären Regierung wird sich nicht grundsätzlich durch eine einzelne territorial abgegrenzte ökologische Bewegung ändern, auch wenn eine Bewegung viel zu einem gesteigerten Bewusstsein beiträgt. Ebenso ist die Zusammenarbeit mit den sozialen und politischen Bewegungen anderer Sektoren wichtig. Genau diesen Punkt verstehen immer mehr Organisationen, die gegen zerstörerische Investitionsprojekte kämpfen.

Es ist ein Kampf der gesamten Gesellschaft

Nach den Aktionstagen vom 7. und 8. Juni 2019 war das Interesse in der Öffentlichkeit außergewöhnlich groß. Das war teilweise auch ein Aufschrei vor der drohenden nahenden Katastrophe – irgendwie ein Ohnmachtsreflex. Nach dem Beginn des Baus des Ilısu-Staudamms 2010 haben wir immer wieder Menschen und Organisationen dazu aufgerufen, sich bei uns oder sonst wie aktiv an der Kampagne gegen Ilısu zu beteiligen. Doch es kam nicht viel, nur wenige ÖkologieaktivistInnen zeigten sich interessiert – einige wie der türkische Umweltverein Doğa Derneği zogen sich sogar zurück. Wir machten natürlich weiter und mit der Stärkung der Ökologiebewegung Mesopotamiens 2015 fanden wir einen Moment, als die Kampagne wieder stärker wurde.

Der Kampf gegen das Ilısu-Projekt ist nicht nur die Sache von wenigen ÖkologieaktivistInnen, sondern der gesamten Gesellschaft – insbesondere der von Nordkurdistan –, die das Dicle-Tal nicht überflutet sehen will. Denn das Ilısu-Projekt soll ein großes Gebiet mit 200 Siedlungen mitten in Nordkurdistan überfluten und würde gravierendste soziale, kulturelle und ökologische Folgen haben wie kaum ein anderes Einzelprojekt. Dem wurden die der kurdischen Freiheitsbewegung nahestehenden Organisationen bis 2010 gerecht, aber dann nicht mehr. Doch wir müssen uns als ÖkologieaktivistInnen auch selbst kritisieren, denn es ist unsere Pflicht, in dem Maße eigene starke Strukturen aufzubauen, dass der Bedarf an anderen nicht so kritisch wird. Das haben wir nicht ausreichend geschafft. Dies lag an den gesetzten Prioritäten und der Strategieschwäche der AktivistInnen wie auch an der politischen Repression durch den türkischen Staat.

Während sich einige der AktivistInnen in den letzten Monaten mit einer gewissen Ohnmacht und Traurigkeit engagieren, glauben viele andere hingegen daran, dass der Ilısu-Staudamm noch aufzuhalten ist. Wir wollen die kleinste Chance nutzen, doch noch die Flutung von Heskîf zu stoppen. Dies kann einerseits durch einen größer werdenden Protest und breite Kritik geschehen, andererseits können externe (politische bzw. ökonomische) Faktoren die Regierung dazu zwingen, das Projekt anzuhalten. Wir arbeiten auf Ersteres hin, denn Letzteres liegt außerhalb unseres Einflusses.

Mit der Aufstauung wurde »heimlich« begonnen

Nach den Juni-Aktionstagen hat die türkische Regierung den Aufstau verschoben. Offiziell, weil der Dicle zu viel Wasser geführt habe. Wir denken jedoch, dass die Regierung angesichts der Kritik bis zum Sommerloch warten wollte. In der Tat hat der Dicle 2019 wegen der extremen Niederschlagsmenge Rekorddurchflüsse, so viel wie seit genau fünfzig Jahren nicht mehr. Es ist eine Ironie, dass genau im Jahr des Aufstaubeginns so viel Wasser im Flusssystem vorhanden ist, während 2018 zu den größten Dürrejahren der letzten Jahrzehnte gehörte.

Dann am 23. Juli 2019 erfuhren wir aus uns von AnwohnerInnen zugesandten Bildern, dass der Aufstau begonnen hatte. Die staatliche Wasserbehörde DSI schwieg dazu lange Zeit, die Menschen in den betroffenen Gebieten wurden auch nicht informiert. Erst 16 Tage später ließ die DSI kurz verlauten, es handele sich um eine Probestauung. Zuvor hatten wir mit Satellitenbildern zusätzlich nachgewiesen, dass der Aufstau begonnen hatte. Der Begriff »Probestauung« war gezielt ausgewählt worden, um darüber hinwegzutäuschen, dass es sich um den richtigen Aufstau handelt. So spät wie möglich sollte von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, dass Fakten geschaffen werden. Bis heute geht der Aufstau ununterbrochen weiter, mehr als die Hälfte der Durchflussmenge wird dafür verwendet. Inzwischen spricht niemand mehr von Probestauung. Am 6. Oktober ließ die DSI mitteilen, dass der Aufstau eine Höhe von 45 m erreicht habe und Ende Dezember 2019 Heskîf erreichen würde.

Im September 2019 hatten wir von unseren Partnern, der »Save the Tigris Campaign« (www.savethetigris.org) erfahren, dass die irakische Regierung darauf gedrängt habe, im Jahr 2019 weitgehend den Aufstau durch Ilısu zu realisieren. Das hat uns sehr überrascht, denn die Menschen im Irak wären von Ilısu und den anderen Talsperren ernsthaft betroffen. Da die irakische Regierung seit zwei, drei Jahren zu Wasserfragen und insgesamt mit der türkischen Regierung leider besser zusammenarbeitet und ihre Kritik komplett aufgegeben hat, ist ihr daran gelegen, dass der Aufstau eher weitgehend in einem wasserreichen Jahr passiert als in einem Dürrejahr wie 2018. Erinnern wir uns daran, dass der Aufstand in Basra vom Sommer 2018 auch viel mit der geringen Wassermenge in schlechter Qualität zu tun hatte.

Internationale Kampagnen konnten die Aufstauung des Dicle nicht verhindern

Der folgende internationale Aktionstag fand am 14. August 2019 mit dem Big Jump (»Großer Sprung ins Wasser«) für Heskîf und den Dicle statt. Wie im Juni nahmen Menschen in rund drei Dutzend Orten weltweit daran teil, dieses Mal vor allem in der Türkei. In mehr als zwölf Orten der ganzen Türkei sprangen Menschen für Heskîf ins Wasser, kein schlechtes Zeichen der Solidarität. Aber dieses Mal ließ der Staat keine Aktion in Heskîf zu. Erst verbot der Gouverneur der Provinz Batman wenige Tage zuvor für zwei Wochen das Schwimmen in Heskîf – ein Novum in der Absurdität dieses Staates. Dann wurden hunderte »Sicherheitskräfte« nach Heskîf verlegt, um dies auch durchzusetzen. So durften die knapp 200 versammelten Menschen nur eine kurze Erklärung an einem Ende der Brücke abgeben. Anschließend fuhr jedoch die Hälfte von ihnen vierzig Kilometer weiter an den Batman-Fluss, um dort hineinzuspringen. Eine gelungene Alternative!

Einen Tag zuvor hatten sich vierzehn HDP-Abgeordnete zum Ilısu-Staudamm begeben, um dort den Stopp des Projekts zu verlangen. Sie versammelten sich im Dorf Neu-Hasankeyf, wohin die Menschen des Dorfes Ilısu (kurd.: Germav) zwangsweise umgesiedelt wurden, und verlasen eine Presseerklärung. Die HDP hat durch diese und andere Aktionen und Erklärungen seit Mai 2019 spürbar dazu beigetragen, dass das Ilısu-Projekt in der Öffentlichkeit kritisch behandelt wird.

Nachdem der Aufstau bekannt geworden war, beschloss die HDP-Jugend, in Heskîf eine »Wache des Widerstandes« gegen die Zerstörung von Heskîf und des Dicle einzurichten. So wie die kurz zuvor eingerichtete »Wache des Gewissens und Wassers« an den Ida-Bergen bei Çanakkale. Doch der Unterschied, dass es sich hier um Kurdistan handelte, machte sich bemerkbar. Wieder setzte der Staat hunderte Soldaten und Polizisten ein, um dies gewalttätig zu verhindern. Insgesamt vier Versuche wurden abgewehrt. Sie hörten auf, als die Regierung am 19. August wie im Jahr 2016 auch in den großen Kommunalverwaltungen von Amed (Diyarbakır), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) eine Zwangsverwaltung einsetzte. Dieser Akt der Repression ohne jegliche juristische Grundlage führte zu viel Kritik und Protest in der kurdischen Gesellschaft wie auch unter den DemokratInnen der Türkei. Das hieß aber auch, dass diese neue Entwicklung das Thema Heskîf/Ilısu weiter zurückdrängte.

Dann verkündete Ende August der Gouverneur von Batman, dass mit der Inbetriebnahme der neuen großen Brücke über den Dicle zwei Kilometer östlich von Heskîf der Ort selbst ab dem 8. Oktober der Öffentlichkeit verschlossen bleiben würde. Damit begann der Prozess, die Menschen aus Heskîf systematisch in das zwei Kilometer nördlich gelegene Neu-Hasankeyf umzusiedeln. DSI-Teams bringen seitdem die Familien mit ihren Habseligkeiten in die neuen Wohnungen an den Hang des Raman-Berges. Dort erwartet sie eine Trabantenstadt ohne irgendeine Seele und mit vielen Problemen und einem in vielerlei Hinsicht schlechten Leben. Kaum errichtet haben die neuen Gebäude schon Risse in den Wänden. Ein sehr großes Problem ist das Leitungswasser, das nicht trinkbar ist. Die neu angesiedelten Menschen müssen daher ihr ganzes Trinkwasser einkaufen und es sieht auf absehbare Zeit nicht nach einer Lösung aus. Das Trinkwasser hat das Potenzial für einen ernsthaften Konflikt. Die Regierung zwingt auf überhastete Weise tausende Menschen an einen neuen Ort mit äußerst schlechten Lebensbedingungen. Wovon die Menschen leben werden, ist völlig unklar – nur wenige sind Beamte und ob TouristInnen wirklich kommen, ist kaum anzunehmen. Ein weiteres großes Problem ist, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus diskriminierenden Gründen nicht das Recht bekam, eine Wohnung in Neu-Hasankeyf zu kaufen, obwohl sie sich dabei verschulden würden. Denn die Entschädigung für die alten Wohnungen ist nur halb so hoch, wie die neuen Wohnungen kosten. Wohnungen in Batman und anderen Städten sind noch teurer.

Angesichts dieser Entwicklungen wurde am 14. September der dritte globale Aktionstag 2019 durchgeführt, wenn auch unter schwierigeren Bedingungen. Mit dem Aufruf »Sing, male oder tu was für Heskîf« haben Menschen aus aller Welt mit Liedern, Gedichten, Zeichnungen, Bildern, Tänzen und anderen kreativen Beiträgen und Aktivitäten zur Verteidigung Heskîfs und des Dicles beigetragen. Tagelang verbreiteten sie ihre Beiträge über die sozialen und anderen Medien. Das trug dazu bei, dass der Ilısu-Staudamm wieder mehr in der Öffentlichkeit behandelt wurde.

Als Nächstes folgte am 28. September eine Kulturveranstaltung im Yoğurtçu-Park in Istanbul-Kadıköy. Theater, Tanz, Zeichnungen, Bilder und Musik brachten Tausende Menschen zusammen, um laut gegen den Ilısu-Staudamm zu protestieren.

Die Hoffnung nicht verlieren

Seit der Verkündung der geplanten Abriegelung Heskîfs am 8. Oktober stieg die Zahl der TouristInnen und vor allem der JournalistInnen. Wie nie zuvor kamen sie nach Heskîf, darunter mehrere Dutzend internationale. Alle wollten noch mal dieses Open-Air-Museum sehen und berichten. Das spiegelt sich in den Dutzenden Nachrichten der westlichen, aber auch mittel- und fernöstlichen Medien im September und Oktober 2019 wider. Während sich alle auf die Orte Heskîf und Ilısu-Staudamm konzentrierten, besuchten lokale JournalistInnen in einer umfangreichen Aktion die bedrohten Dörfer und dokumentierten die Orte.

Währenddessen reichten AktivistInnen beim Europarat Klage ein auf Grundlage der Berner Konvention. Diese war vom Europarat 1979 auf den Weg gebracht worden und ist ein verbindliches Übereinkommen zur Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume. Es soll die Türkei zwingen, das Ilısu-Projekt zu stoppen, da dieses bis zu einhundert endemische und bedrohte Tier- und Pflanzenarten gefährdet. Dieser Schritt hätte natürlich viel früher unternommen werden sollen. Dass er so spät kommt, liegt daran, dass es in der Türkei keine Erfahrungen der NGOs und sozialen Bewegungen damit gibt, zerstörerische Projekte wegen ihrer biologischen Folgen zu Fall zu bringen. Wir konnten von keinen anderen Fällen profitieren.

Als sich der 8. Oktober 2019 näherte, wurde klar, dass die Bevölkerung bis dahin nicht rechtzeitig umgesiedelt werden kann. Nicht mal ein Drittel der 900 neuen Wohnungen in Neu-Hasankeyf sind bezogen. Deshalb weigerten sich die GeschäftsinhaberInnen von Heskîf, zum 10. Oktober ihre Geschäfte zu leeren. Auch war die neue Autobrücke bei Heskîf noch nicht in Betrieb genommen. So war der 8. Oktober ein Tag wie in den Wochen zuvor: Menschen halten sich in Heskîf auf und leben dort, sofern sie nicht nach Neu-Hasankeyf »umgesiedelt« wurden. Selbst Umgesiedelte kommen täglich nach Heskîf, um sich zu treffen und einzukaufen.

Wie es sich in den nächsten Wochen weiter entwickelt, ist unklar. Anzunehmen sind Drohungen und physische Repressionen des Staates, wenn Anfang November die Menschen Heskîf immer noch nicht verlassen. Denn viele Menschen dort haben angekündigt, bis zuletzt zu verweilen. Einige wollen ihren Heimatort überhaupt nicht verlassen. Daran anzusetzen ist wichtig für uns AktivistInnen und alle anderen, die die Flutung von Heskîf verhindern wollen.

Bei einer Analyse dürfen wir nicht vergessen: Die allgemeine politische Lage in der Türkei, in Kurdistan und im Mittleren Osten ändert sich fast täglich und könnte vielleicht dazu beitragen, dass das Ilısu-Projekt doch nicht weiter umgesetzt wird. Zum Beispiel könnte der Angriffskrieg des türkischen Staates gegen das revolutionäre Rojava und Nord- und Ostsyrien als auch die Proteste der Bevölkerung im Irak gegen ihre Regierung und Politik in kurzer Zeit zu neuen Situationen führen. Der verbrecherische Krieg der AKP-Regierung gegen Nord- und Ostsyrien könnte Proteste in der Türkei und Nordkurdistan mit ungeahnten Folgen nach sich ziehen. Unter anderem könnte der finanzielle Kollaps kommen. Vergessen wir auch nicht, dass die AKP gerade dabei ist, sich zu zerlegen. Bei der Kampagne gegen den Ilısu-Staudamm und anderen Kampagnen dürfen solche potenziellen Entwicklungen nicht vergessen werden.

Elementar ist es zurzeit, die Hoffnung nicht zu verlieren. In letzter Minute können wir vielleicht doch noch diesen Damm der Zerstörung, Ausbeutung und Kontrolle verhindern, aber nur, wenn wir kämpfen. Wenn wir nicht kämpfen, die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit auflisten und bejammern, schaffen wir nichts. Wir müssen konzentriert weiterarbeiten und weitere Menschen einbinden, die Öffentlichkeit noch mehr erreichen. Es ist die Pflicht gegenüber dem Erbe, das am Dicle über tausende Jahre hinweg geschaffen wurde, und gegenüber der Natur, der Quelle unseres Lebens, weiterzuarbeiten.

Nochmal wollen wir daran erinnern, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von milliardenschweren Großprojekten nach ihrer Fertigstellung nie in Betrieb genommen wurden. Darunter gibt es auch Talsperren/Wasserkraftwerke (z. B. in Indien, Thailand) und Atomkraftwerke (z. B. in Österreich, Italien). Selbst wenn die Aufstauung Heskîf erreichen sollte, geht der Kampf weiter; mit dem Ziel, die Aufstauung zurückzunehmen! Es geht hier um die Verteidigung unserer Lebensgrundlagen und des Lebens.


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019