Über den Aufbau einer Kooperativwirtschaft in Rojava

Vom kolonialen Objekt zum demokratischen Subjekt

Interview mit dem Ökonomie-Komitee Rojava/Nordsyrien

Das Interview mit dem Ökonomie-Komitee über den Aufbau einer Kooperativwirtschaft in Rojava/Nordsyrien führten wir noch vor Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der Türkei gegen die Gesellschaften Nordsyriens. Doch auch schon vor dem 9. Oktober war der gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufbau Rojavas von den Angriffsdrohungen und einem umfassenden Embargo bestimmt.

Vom kolonialen Objekt zum demokratischen SubjektWie überzeugt ihr die Menschen, sich in Kooperativen zusammenzutun? Wie sieht die Gründung einer Kooperative in der Praxis aus, kann jeder oder jede eine aufbauen? Wird der Aufbau gefördert?

Ich muss zuerst betonen, dass wir eure Fragen im Kontext eines tiefgreifenden Wirtschaftsembargos beantworten, das von einer politischen und militärischen Isolation bestimmt wird. Wir befinden uns also nicht unter normalen Bedingungen. Um eure Frage zu den Kooperativen in Rojava zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die Wirtschaftspolitik werfen, der Rojava in der Zeit des kolonialistischen Regimes ausgesetzt war. Das syrische Baath-Regime war im Kontext des politischen Klimas der 1950er Jahre als ein Beispiel des kleinbürgerlichen Radikalismus im Mittleren Osten entstanden. Dieser kleinbürgerliche Radikalismus, der als Baath betitelt wird, hat sich im Zusammenhang des arabischen Nationalismus in einigen Ländern als rechter Baathismus und in anderen als linker Baathismus entwickelt. Bestimmt wurde dieser rechte und linke Baathismus vom damaligen politischen Klima und dem Beziehungsgeflecht, der jeweiligen sozioökonomischen und kulturellen Realität sowie dem jeweiligen führenden politisch-militärischen Gruppencharakter.

Das syrische Baath-Regime und sein Anführer Hafiz al-Assad repräsentierten den linken Baathismus. Auch wenn sich das Regime in der Ära der bipolaren Weltordnung in der Bewegung der Blockfreien Staaten zu verorten suchte, stützte es sich auf die Sowjetunion und bestimmte die sozioökonomische und kulturelle Politik Syriens entsprechend dem kleinbürgerlichen Radikalismus linker Politik. Somit wurde in Syrien wie auch in anderen sozialistischen Ländern eine zentralistische Planwirtschaft angewandt.

Rojava wurde von dieser Politik der Planwirtschaft vollständig auf kolonialistische Art und Weise geformt. Sie hatte negative Auswirkungen auf soziokultureller und individueller Ebene. All diese Punkte sind Diskussionspunkte und müssen bei diesen Fragen mitgedacht werden.

In der wirtschaftlichen Herangehensweise des kolonialistischen syrischen Regimes an die Rojava-Revolution sind zwei Aspekte bestimmend. Einer davon ist Erdöl auf der Basis von Energieressourcen, wobei es hauptsächlich um städtische und industrielle Ressourcen geht.

Um später nicht mit den sozioökonomischen Transformationen und politisch-kulturellen Konsequenzen zu leben, wurde das Öl nicht vor Ort, sondern in den kolonialen Metropolen verarbeitet. Auf diese Weise konnten positive Auswirkungen für die gesellschaftliche Basis – auf die sich das politische Regime stützt – erzielt werden.

Neben der künstlichen Verstädterung infolge der Positionierung der politischen und militärischen Bürokratie für den Aufbau und die Bedürfnisse des Kolonialismus sollten an den Orten, wo das Erdöl gefördert wurde, neue Städte entstehen. Hier sollten die kurdischen Bauern durch ungelernte Arbeitskräfte und einfache Beamte ersetzt werden. Vervollständigt wurde eine solche soziale Ausformung durch die Entwicklung kleiner Einzelhändler, die die Bedürfnisse der militärpolitischen und wirtschaftlichen Bürokratie befriedigten. Während die soziale Struktur auf diese Weise durch die städtische und industrielle Wirtschaft geformt wurde, gab es als eine zweite Wirtschaftseinheit die Bauern- und Agrarpolitik der kolonialen zentralistischen Wirtschaftspolitik.

Außer Efrîn (aufgrund seiner geographischen Lage) wurde der Rest von Rojava als Insel bezeichnet, da es zwischen den Flüssen Euphrat (kurd.: Firat) und Tigris (kurd.: Dicle) liegt. Dieser äußerst fruchtbare Boden wurde im Rahmen der kolonialen Zentralplanwirtschaft für den Trockenbau, also den Getreidebedarf vorgesehen. Da sich die kurdische Gesellschaft vor allem auf das Dorfleben stützt, hat die Politik des Trockenbaus eine entscheidende Rolle für die Formung der kurdischen Gesellschaft gespielt. Als die Realität des Trockenbaus, die nicht viel Arbeit braucht, mit den Subventionen des Staates zusammentraf, die darauf abzielten, die tiefgreifende Kolonialisierung zu kaschieren, entstand ein äußerst arbeitsscheuer Lebensstil.

Die Entfremdung und Geringschätzung der Kurden im Hinblick auf die Arbeit, die ihnen im Rahmen der sozialpolitischen und wirtschaftlichen Praktiken des zentralistisch-autoritären Staates zugesprochen wurde, hat eine von der Produktion abgekoppelte soziale Realität hervorgebracht. Selbstverständlich können die gesellschaftlichen Folgen solch eines sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konzepts detaillierter analysiert werden. Doch ohne auf diese Details einzugehen, möchte ich auf die Antworten auf eure Fragen zu sprechen kommen.

Die autonome Selbstverwaltung als politischer Wille von Rojava sieht als grundlegende Wirtschaftspolitik ein kommunales Wirtschaftsmodell vor und in dessen Zentrum die Entwicklung und Unterstützung der Politik der Kooperativen. Die Methodik der Kooperativen ist nicht die einzige der kommunalen Wirtschaft, steht aber im Vordergrund. Insbesondere innerhalb der Kommunen, die die zentrale Organisationseinheit des politisch-sozialen Systems darstellen, gelten die Kooperativen als wirtschaftliche Einheit der Kommunen und sind eine Methode, um die gesellschaftliche Arbeit funktionsfähig und qualifiziert zu machen. Zudem sind sie als eine Methode gedacht, die Wirtschaft auf lokaler Ebene zu institutionalisieren. Die Kooperativen-Politik zielt außerdem darauf ab, mithilfe der landwirtschaftlichen Kooperativen, die an die Dorfkommunen angebunden sind, die zentrale wirtschaftliche Einheit des Landes, den Boden, auf produktive Art und Weise zu nutzen. Mit den Frauenkooperativen wird darüber hinaus neben der Demokratisierung der Wirtschaft auch die materielle Grundlage für eine politische und soziale Gleichheit gelegt. Autonome Frauenkooperativen sind eine kreative Methode, um die Frauenarbeit, die in traditionellen Gesellschaften als Objekt der Kolonialisierung auf die Hausarbeit beschränkt wird, zum Subjekt zu machen.

Aus diesen Gründen wird das System der Kooperativen als stärkstes Wirtschaftsmodell gedacht und unterstützt. Die Frage, wie Menschen für die Kooperativen überzeugt werden, ist eine technische Frage. Es gibt zwar für jede Situation verschiedene Methoden und Argumente, doch im Kern werden die Bedürfnisse der Menschen für die Kooperativen richtig festgestellt und kanalisiert. Auch die für die Entwicklung der Wirtschaft geleistete Unterstützung und Förderungspolitik durch den politischen Willen ist ein weiterer Faktor. Darüber hinaus reichen die Mitwirkenden in einem laufenden Prozess ihre Projekte, deren Bereiche sie selbst bestimmt haben, bei den Kooperativen-Zentren ein, die werden dann dort angenommen. Bei solchen Entwicklungen bedarf es keiner weiteren Überzeugung. Doch bei direkt von den Kooperativen-Zentren vorangetriebenen Förderungen wird mit den jeweiligen gesellschaftlichen Kreisen auf Sitzungen über den materiellen und immateriellen Nutzen von Kooperativen gesprochen. In beiden Prozessen, ob bei bereits überzeugten oder noch zu überzeugenden, nehmen die Mitwirkenden am formalen Prozess der Ratsbildung teil, bei dem die Ko-Vorsitzenden der Kooperative, die Geschäftsführung, die Finanzen, das Archiv etc. und weitere Organe festgelegt werden.

Wie viele Kooperativen haben sich mittlerweile gegründet?

In Rojava, wo sich alles im Umbruch befindet, kann man auch bei den Kooperativen von einer Übergangsphase sprechen. Das Merkmal solcher Phasen ist das Fehlen von Beständigkeit und statistischen Daten. In dieser dynamischen Phase ist es unrealistisch, genau zu sagen, wie viele Kooperativen mittlerweile gegründet wurden. Doch man kann sagen, dass sich die Kooperativen mit jedem Tag mehr entwickeln und zunehmend zur bestimmenden Methode in unserer wirtschaftlichen Realität werden.

Welche Bereiche umfassen sie?

Das sind verschiedene Bereiche, doch am meisten entwickeln sich landwirtschaftliche Kooperativen. Insbesondere Kooperativen, die sich auf das Nutzungsrecht für große produktive öffentliche Flächen stützen und auf die Kollektivierung der Arbeit, stechen hervor. Darüber hinaus sind landwirtschaftliche Kooperativen zu nennen, die sich auf die Wassernutzung stützen. Daneben entwickeln sich vermehrt Viehzuchtkooperativen. Es gibt jedoch auch welche in den Bereichen Industrie und Handel. Im industriellen Bereich entwickeln sie sich hauptsächlich in der Form kleinerer und mittlerer Unternehmen und Werkstätten. Die Form der Kooperativen, auf die wir uns in der kommenden Zeit am meisten konzentrieren werden, sind bedürfnisorientierte Kooperativen und solche, die sich auf bestimmte Berufe und Produktionsbereiche fokussieren. Frauenkooperativen sind hierbei die bedeutendsten in allen Produktionsbereichen.

Kann nach eurer Einschätzung eine Kooperativwirtschaft die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen?

Auch wenn eine Kooperativwirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht auf alle wirtschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft eingehen kann, dann aber doch auf die meisten. Insbesondere im Kontext der Kriegswirtschaft und des bereits erwähnten Embargos und Krieges kann diese Wirtschaftsmethode auf lokaler Ebene genügend leisten. Doch zu behaupten, dass Kooperativen auf alle wirtschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft eine Antwort darstellten, würde sie überfrachten. Kooperativwirtschaft bedeutet zuerst, dass sich die Gesellschaft aus der früheren wirtschaftlichen, kolonialistischen Ausbeutung durch das Regime befreit und einen ausreichenden, wenn nicht sogar relativ besseren Reichtum erwirtschaftet. Sie gewährleistet ein Zusammentreffen der gesellschaftlichen Arbeit mit den reichhaltigen wirtschaftlichen Möglichkeiten und schafft eine produktive Gesellschaft. Die unqualifizierte menschliche Arbeit wird durch diese Methode zu einer qualifizierten. Sie leistet einen Beitrag dazu, die Arbeit und das Bewusstsein zu kollektivieren und die politische und soziale Einheit zu gewährleisten. Der durch den Rückzug des Regimes entstandene Reichtum wird – statt sich in bestimmten Händen anzuhäufen – in der gesellschaftlichen Basis verbreitet, und auf diese Weise wird eine demokratischere Wirtschaftsstruktur geschaffen.


 Kurdistan Report 206 | November/Dezember 2019