Die türkische IS-Prüfung

Und alle wissen Bescheid ...

Hamide Yiğit


Und alle wissen Bescheid ...Als der syrische Bürgerkrieg seinen Anfang nahm, hatten zentrale regionale und globale Akteure das Ziel eines regime change und einer Neuordnung Syriens ausgerufen. Schon ab 2011 wurden zu diesem Zwecke verschiedene bewaffnete Gruppen massiv unterstützt. Dadurch entwickelte sich Syrien zu einem Schlachtfeld multinationaler dschihadistischer Organisationen. Unterstützt durch dutzende Staaten strömten von überall aus der Welt islamistische Kämpfer in das Land. Dem syrischen Regime wurde eine nur kurze Überlebenszeit prophezeit. Doch es überstand die Angriffe besser als erwartet, und es entwickelte sich ein jahrelanger blutiger Krieg. Mit der Zeit kamen auch die wahren Interessen der internationalen Mächte in diesem Konflikt klarer zum Vorschein. Das Argument, das syrische Regime müsse weg, weil es seine eigene Bevölkerung brutal unterdrückt, konnte vor dem Hintergrund des Erstarkens der menschenverachtenden dschihadistischen Gruppen kaum noch glaubhaft vertreten werden. Und so zogen vor allem die westlichen Staaten langsam ihre Unterstützung für die Islamisten zurück. Nur ein Land hält bis heute die Unterstützung für diese Gruppen aufrecht: die Türkei.

Der türkische Staat ist von Anfang an in diesen Krieg involviert. Während andere Akteure die verschiedenen islamistischen Gruppierungen indirekt und über Umwege unterstützten, tat die Türkei dies ganz unverhohlen und offen. Heute ist sie der letzte Staat, der den Dschihadisten den Rücken deckt, sie sogar anleitet.

Dschihadisten aus aller Welt

Unter dem Dach der sogenannten Freien Syrischen Armee (FSA) tummelten sich bereits zu Beginn des Bürgerkriegs kleinere und größere Dschihadistentruppen. Die FSA organisierte sich unter der Obhut des türkischen Staates. Sieben aus der syrischen Armee desertierte Stabsoffiziere hatten 2011 per Video die Gründung der FSA bekanntgegeben. Doch schon bald wurde klar, dass dieses Bündnis alles andere war als die vermeintlich gemäßigte Opposition, als die sie in der westlichen Welt präsentiert wurde. Salafistische Gruppierungen sahen unter dem Label die Chance, breite Unterstützung für ihren Dschihad gegen das syrische Regime zu erhalten. Spätere Kämpfer des IS und der Al-Nusra-Front wurden unter diesem Dach vereint. Die Türkei übernahm die Leitungsfunktion für diese Gruppen. Auch ist sie Garantiemacht für die in Idlib versammelten islamistischen Kräfte.

2011 strömten aus aller Welt Dschihadisten nach Syrien und bildeten dort Gruppen, die sich entsprechend den Interessen ihrer Geldgeber organisierten. So bildeten Dschihadisten aus dem Irak ebenso eine eigene Gruppe wie die marokkanischen, die tschetschenischen oder die uigurischen Islamisten. Andere Gruppierungen standen unter dem direkten Einfluss Saudi-Arabiens, Katars oder anderer Golfstaaten. Indirekte geheimdienstliche und logistische Unterstützung erhielten die Gruppen wiederum von den USA, von Großbritannien, von Frankreich und natürlich von der Türkei. Und natürlich kooperierten diese Gruppen in ihrem Kampf gegen das Al-Assad-Regime auch und führten breitangelegte Operationen durch. Eine der wenigen erfolgreichen Operationen gelang den Dschihadisten 2015 mit der Eroberung von Idlib. Katar und die Saudis unterstützten diese Operation finanziell, während die logistische Unterstützung aus der Türkei kam. Der Plan für die Eroberung Idlibs war in Istanbul geschmiedet worden. Die syrischen Al-Qaida-Ableger spielten bei dieser Operation eine herausragende Rolle. Die Türkei bezeichnete Idlib nach der Eroberung durch die Dschihadisten als befreite Zone.

In direkte militärische Kooperation mit den Dschihadisten trat die türkische Armee bei ihrer Operation »Schutzschild Euphrat«. Zuvor waren die verschiedenen Gruppierungen erneut unter dem Label FSA vereint worden. Mit grünem Licht aus Russland und einer schweigenden Zustimmung der USA besetzte die Türkei mit diesen Gruppen erstmals direkt Teile Nordsyriens. Russland verfolgte mit diesem Schritt selbstverständlich eigene Ziele. Moskau will die von den Dschihadisten besetzten Gebiete in Syrien säubern. Doch statt allein auf die direkte militärische Auseinandersetzung mit den Islamisten zu setzen, versucht Russland über diplomatische Verhandlungen die Türkei für ihre Zwecke einzuspannen. In Aleppo wurde diese Politik erfolgreich umgesetzt. Der türkische Staat drängte die Islamisten im Gegenzug für das russische Einverständnis zur Operation »Schutzschild Euphrat« in Aleppo zur Aufgabe. Dieselben Gruppen, die aus Aleppo geschlagen den Rückzug antreten mussten, sollten daraufhin an der Seite der türkischen Armee in Cerablus und anderen Städten Nordsyriens einmarschieren.

Bis zur Operation »Schutzschild Euphrat« leugnete die Türkei ihre organische Verbindung mit den islamistischen Kräften. Doch mit dem Beginn der Operation, die vermeintlich gegen den IS gerichtet war, sah Ankara kein Bedürfnis mehr darin, diese Bindung zu verheimlichen. Denn fortan konnten die protürkischen Dschihadisten gegenüber dem IS als »gemäßigt« verkauft werden.

Tatsächlich diente der IS als der perfekte Vorwand für die Türkei, ihrer kurdenfeindlichen Politik in Nordsyrien den Weg zu ebnen. Denn Ankara verkaufte sich auf internationaler Bühne als derjenige Staat, der wie kein anderer gegen den Terror des IS vorging. Die türkischen Besatzungspläne in der Region wurden unter diesem Deckmantel verkauft, auch wenn die Türkei zu keinem Zeitpunkt davor zurückschreckte, alle islamistischen Kräfte in Syrien einschließlich des IS im Kampf gegen die Kurden zu unterstützen.

Von der Türkei kontrollierte dschihadistische Armee-Verbände

So verwundert es auch nicht weiter, dass es während der Operation »Schutzschild Euphrat« nur punktuell zu wirklichen Kämpfen zwischen der Türkei und ihren Partnern mit dem IS kam. Viele Orte zwischen Cerablus und al-Bab wurden vom IS der Türkei und ihren islamistischen Brüdern im Geiste kampflos überlassen. In Cerablus und Dabiq legten gar zahlreiche Berichte nahe, dass die IS-Kämpfer schlichtweg die Uniform wechselten und fortan auf Seiten der Türkei agierten. Mit eben diesen Truppen weitete die Türkei schließlich ihren Besatzungskrieg zunächst auf Efrîn aus, um nun den Krieg östlich des Euphrats fortzusetzen.

Von Cerablus aus bildete die Türkei ihre Partner kontinuierlich weiter aus. So wurden unter dem Dach der FSA vermeintliche Polizeikräfte, die sogenannte Freie Polizei, durch türkische Sicherheitskräfte geschult. Parallel wurden die Angehörigen der Dschihadisten in den türkisch besetzten Gebieten angesiedelt und auf diese Weise wurde eine Politik des demographischen Wandels vorangetrieben. Die AKP bemühte sich weiterhin, die Dschihadisten in Syrien unter einem Dach zu versammeln. Die »Syrische Nationalarmee« (SNA) ist die jüngste Frucht dieser Bemühungen. Die Führung dieses Bündnisses wurde eigens von Ankara auserkoren. Auch wenn dieses Bündnis nun einen neuen Namen trägt, ändert das nichts an der Tatsache, dass sich unter diesem Dach dieselben dschihadistischen Mörderbanden sammeln, die im langjährigen syrischen Bürgerkrieg für unzählige Kriegsverbrechen verantwortlich sind.

»Sicherer Hafen« für Dschihadisten

Die internationalen Akteure hüllen sich gegenüber diesem Vorgehen der Türkei weiter in Schweigen. Über welches Gedankengut diese Dschihadisten verfügen, ist bei der Besetzung Efrîns ebenso deutlich geworden wie im gegenwärtigen Besatzungskrieg, dem der Name »Operation Friedensquelle« gegeben wurde. Ermutigt von diesem Schweigen hat die Türkei auch kein Bedürfnis mehr, der Welt zu versichern, dass ihre Partner angeblich gemäßigter seien als der IS. Es fordert schließlich auch niemand mehr von der Türkei, das zu beweisen. Jeder ist sich dessen bewusst, dass die »Syrische Nationalarmee« auch aus den Überresten des IS in Syrien besteht, die nun neue Uniformen tragen. Jeder Staat weiß, wo diejenigen ISler zu suchen sind, die nicht in die Hände der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gefallen sind. Sie stecken in Idlib, in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens und in der Türkei selbst. Und so wie die übrigen dschihadistischen Gruppen auch betrachtet der IS die Türkei als »sicheren Hafen«. Es verwundert deshalb auch nicht weiter, dass die Spur Abu Bakr al-Baghdadis in einem fünf Kilometer von der türkischen Grenze entfernten Dorf gefunden wurde. Ähnliches gilt auch für andere hochrangige Mitglieder der Organisation und die Familienangehörigen al-Baghdadis. Glaubt noch irgendwer daran, dass es sich bei alldem um einen Zufall handelt?

Weshalb wird vor diesem Hintergrund geschwiegen, wenn die Türkei für ihre dschihadistischen Partner nun eine »Sicherheitszone« einrichten will? Die Türkei ist tatsächlich gezwungen, eine solche Zone einzufordern. Denn sie braucht neuen Raum für ihre Partner. Die Rede von drei Millionen syrischen Geflüchteten, die dort angesiedelt werden sollen, ist der passende Vorwand dafür. Und deshalb werden die in diesen Gebieten eigentlich beheimateten Kurden und Araber systematisch vertrieben. Das wissen auch die USA und der Westen. Sie haben ebenso ein Interesse daran, dass die zahlreichen Dschihadisten unter türkischer Obhut unter Kontrolle gehalten werden, und unterstützen deshalb die Türkei in ihrem Vorgehen. Die Türkei hat letztlich auch keine Idee, wo sie die islamistischen Kämpfer und ihre Familien unterbringen soll. Entweder muss sie ihnen dort neuen Raum schaffen oder sie werden sich früher oder später zu einer unkalkulierbaren Gefahr für die Türkei selbst entwickeln. Um aus dieser Zwickmühle herauszukommen, greift sie die selbstverwalteten Gebiete der Kurden an und verkauft dies als Maßnahme, um ihre Grenzen gegen die »separatistische Gefahr des kurdischen Terrors« zu schützen. Auf lange Sicht wird aber auch dieser Schritt das internationale Problem im Umgang mit der in Syrien geschaffenen Dschihadistenarmee nicht lösen können.


Hamide Yiğit ist politische Analystin, schreibt für das Internetportal sendika.org. Sie hat unter anderem Bücher über den Syrienkrieg der Türkei und die Auswirkungen des Dschihadismus auf Frauen im Mittleren Osten geschrieben.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020