Interview zur Lage in Rojava

Von fehlenden Alternativen und kriegsbedingten Einschränkungen

Aldar Xelîl, Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM)


Von fehlenden Alternativen und kriegsbedingten EinschränkungenDer kurdische Politiker Aldar Xelîl ist Mitglied des Exekutivrats der Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM). Dem Kurdistan Report beantwortete er einige Fragen zur Lage in Nord- und Ostsyrien/Rojava.

Nach dem Einmarsch der Türkei begann eine intensive Kriegsphase, wie bewerten Sie den Widerstand bisher? Wieso ist der von den QSD im Vorfeld angekündigte Gegenschlag auf der gesamten Grenzlinie nicht eingetreten?

Das Projekt, das wir in Nordsyrien repräsentieren, ist ein historisch einmaliges im Mittleren Osten. So ist beispielsweise im Irak seit dem Jahr 2003, dem Ende der Präsidentschaft Saddam Husseins, in den darauffolgenden 17 Kriegsjahren bis dato kein demokratisches System etabliert worden. Dennoch gab es in der Region des Mittleren Ostens breite gesellschaftliche Proteste. In Mûsil (Mossul), Jemen, Tunesien, Libyen, selbst in der Türkei haben sich die Menschen erhoben. Allerdings gab es kein politisches System, das Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen der Region hätte bieten können. In Nordkurdistan hat es Versuche gegeben, ein solches Modell zu etablieren. Allerdings wurden sie mit einem flächendeckenden Angriff Erdoğans beantwortet. Heute sehen wir, wie ein demokratisches System in Rojava implementiert wird. Dessen Ziele sind zum einen, die Integrität Syriens zu bewahren, und zum anderen, ein demokratisches System für alle Ethnien und Religionen der Region zu etablieren. Letztlich soll natürlich auch die kurdische Frage, ebenso wie die syrische Frage, gelöst werden. Angestrebt ist ein vielfältiges Syrien, in dem sich jede Region selbst verwalten kann. Daher sagen wir, dass es ein dezentralisiertes Syrien geben muss, in dem die kurdische Frage gelöst wird. Wenn wir kein Teil der Lösung werden, werden sich die Konflikte weiter in die Länge ziehen.

Zum Thema Demokratische Kräfte Syriens (QSD) kann der militärische Arm sicherlich mehr sagen. Doch wir erleben in den letzten Jahren kontinuierliche Angriffe der Türkei. Angriffsziele waren vor allem von ZivilistInnen bewohnte Siedlungsgebiete, um die Menschen zur Flucht aus den Städten und Dörfern der Region zu zwingen. Die QSD haben das erkannt und Vorkehrungen getroffen.

Mit Beginn des Krieges hat sich das brüchige Bündnis mit den USA letztlich als obsolet erwiesen. Was bedeutet das Ende dieses Bündnisses für die weitere Entwicklung? Und hat man nicht den USA rückblickend zu viel Vertrauen entgegengebracht?

Bekanntlich begann die Türkei ihren Angriffskrieg gegen Nordostsyrien und insbesondere gegen die kurdischen Gebiete am 9. Oktober 2019. Er erfolgte mit der Unterstützung von Donald Trump und Vladimir Putin, um in der Region entsprechend den eigenen Interessen Veränderungen vorzunehmen. Das Ziel Erdoğans war von Anfang an die Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung und die Neuansiedlung von ihm nahestehenden IslamistInnen. Darauf basiert der Krieg des 9. Oktober. Dieser Tag hatte für die KurdInnen ohnehin eine besondere Bedeutung, denn an diesem Tag war die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan auf der Grundlage des »Adana-Abkommens« 1998 aus Syrien ausgewiesen worden. Mit dieser Botschaft wurde der Krieg begonnen. Die QSD nahmen mit all ihren Einheiten, den kurdischen, assyrischen/christlichen und arabischen KämpferInnen den Widerstand für die Verteidigung der Region auf. Die Kämpfe fokussierten sich insbesondere auf Girê Spî und Serê Kaniyê. Diese Gebiete lagen exakt an der Grenze zur Türkei und sahen sich dem Angriff einer hochgerüsteten NATO-Armee gegenüber. Im Normalfall hätten die Gebiete innerhalb kurzer Zeit eingenommen werden müssen. Doch wir befinden uns weiter im Widerstand und die Kämpfe halten an. In der Nacht vom achten auf den neunten Tag des Widerstands beschlossen Erdoğan und Trump einen sogenannten Waffenstillstand. Den gibt es bis heute nicht und der Krieg geht weiter.

Die Zusammenarbeit mit den USA begann erstmals im Jahr 2014 zu Zeiten des Kampfs um Kobanê. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits gegen den Islamischen Staat Widerstand geleistet und unsere Schlagkräftigkeit unter Beweis gestellt. Das blieb bei den US-AmerikanerInnen natürlich nicht unbemerkt und es wurde Kontakt hergestellt, um ein Bündnis im Kampf gegen den IS zu bilden. Es war klar, dass es sich nicht um ein diplomatisches oder politisches Bündnis zur Lösung der Konflikte handelte. So trat das Bündnis in Kraft und nahm seine Arbeit auf. Mit der Zeit wurde der Kampf gegen den IS aber zu einer Grundlage, um die Beziehungen weiter auszubauen. Mit dem Angriffskrieg wurde dagegen klar, dass die USA, wie man sie kennt, das Bündnis nur im kurzzeitigen Eigeninteresse eingegangen waren und sich nicht in der Verantwortung sahen, die kurdische Frage oder die syrische Frage nachhaltig zu lösen. Hätte es nicht die Unterstützung Trumps gegeben, wäre ein solcher Krieg gar nicht erst denkbar gewesen. Ich würde dennoch sagen, dass nicht zu viel Vertrauen in die USA gesetzt wurde. Seit Beginn der Revolution sagen wir, dass wir den Dritten Weg eingeschlagen haben. Wir haben uns zwar vorgenommen, jederzeit zweckmäßige militärische Bündnisse zu schließen, allerdings setzen wir keine Hoffnung in sie für den Erfolg unserer Revolution. Wir haben unsere Werte, Linien und Herangehensweisen. Wir hatten und haben auch Kontakte zu Russland und zu europäischen wie zu arabischen Ländern. Die USA hätten aber nach der gemeinsamen Befreiung der Region vom Islamischen Staat nicht zulassen dürfen, dass ein solcher Krieg gegen Rojava geführt wird. Trump hätte Erdoğan mit Leichtigkeit aufhalten können. Wir kennen aber das System der kapitalistischen Moderne. Allein am Datum wird der Hintergrund des Angriffskriegs deutlich. Von einer falschen Hoffnung oder einem fehlplatzierten Vertrauen kann da also nicht die Rede sein. Höchstens von einer Alternativlosigkeit und dem Ziel, die Region bestmöglich zu verteidigen.

Wie ist der Zustand der zivilen Selbstverwaltung? Arbeitet sie weiter oder ist sie durch den Krieg paralysiert?

Der Widerstand geht in allen Teilen der Gesellschaft und durch alle Ethnien hindurch weiter. Die Menschen der Region gehen weiterhin ihrer Arbeit nach. Allerdings hat der Krieg natürlich in Teilbereichen seinen Einfluss gehabt. Die zivilen Institutionen können nicht wie in Friedenszeiten ihre Arbeit unter sicheren Bedingungen erledigen. Auch in ökonomischer Hinsicht hat der Krieg seine Auswirkungen und einige Projekte müssen nun bis zu seinem Ende aufgeschoben werden.

Wie nehmen Sie die Unterstützung durch soziale Bewegungen weltweit wahr?

Es ist das erste Mal in der Geschichte der kurdischen Gesellschaft, dass in einer Kriegssituation auf nationaler und internationaler Ebene eine solche Solidarität gegenüber den KurdInnen zum Ausdruck gebracht wurde. Gründe für die breite internationale Unterstützung sind sowohl der Kampf gegen den Islamischen Staat und die Opfer, die gebracht werden mussten, als auch das demokratische System, die Frauenbefreiung und die Geschwisterlichkeit der Völker. Wir haben Solidarität aus allen Teilen Kurdistans erlebt, aus der Diaspora und den arabischen Ländern, die allesamt ihren Protest auf die Straße getragen haben. Das zeigt uns, welchen enormen Einfluss unser Gesellschaftssystem gewonnen hat. Das allein ist ein großer Erfolg der Revolution in Rojava, denn bisher wurden die Genozide an den KurdInnen immer totgeschwiegen.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020