Zehn Jahre nach den Razzien gegen den Nationalkongress Kurdistan (KNK) in Belgien entschied Brüsseler Gericht in letzter Instanz

Die PKK ist keine Terrororganisation

Elmar Millich


Demonstration in Hamburg gegen das PKK-Verbot am 30.11.2019 zum Jahrestag des Verbotes. Foto: anfDer Kassationshof in Brüssel hat am 28. Januar 2020 endgültig die Entscheidung des Revisionsgerichts vom März 2019 bestätigt, wonach die Arbeiterpartei Kurdistan PKK keine »terroristische Organisation«, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Vor zwei Wochen hatte der Generalstaatsanwalt beim Brüsseler Kassationshof bereits eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen. Die heutige Entscheidung ist somit endgültig und für die Parteien verbindlich.

Jan Fermon, einer der Verteidiger*innen in den Brüsseler Verfahren, begrüßte die Entscheidung des Kassationshofs und erklärte gegenüber ANF: »Das ist ganz klar ein bedeutendes Urteil, das im Einklang mit internationalem Recht steht. Ich hoffe, dass es in Europa zu einem Umdenken führt und dazu beiträgt, die kurdische Frage auf dem politischen Weg zu lösen. Mit der Entscheidung, dass die PKK keine terroristische Organisation, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist, wurde Europa die Perspektive eröffnet, diesen Konflikt durch Verhandlungen zu lösen.«

Fermon gab an, dass die heutige Entscheidung auch Auswirkungen auf die Haltung der belgischen Regierung gegenüber der EU-Terrorliste haben könnte: »Es handelt sich um eine juristische Entscheidung, keine politische. Auf Regierungsebene wird sie zumindest indirekt Auswirkungen haben.«

Anwendung von Anti-Terror-Gesetz gegen die PKK ist nach belgischem Recht nicht zulässig

Rückblick: Mit einem Großaufgebot an Polizei waren 2010 in Brüssel legale kurdische Organisationen und Produktionsstätten des kurdischen Fernsehens in Belgien durchsucht und einige Repräsentant*innen des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) festgenommen worden. Die Ermittlungen mündeten in einer Anklage durch die Staatsanwaltschaft gegen insgesamt vierzig Personen, die sie der Spendensammlung, Propaganda und Rekrutierung für die PKK beschuldigte. In einem zweiten Fall wurde einem Kurden aus Nordsyrien vorgeworfen, Kommunikationsgeräte nach Hewlêr (Erbil) in Südkurdistan/Nordirak exportiert zu haben, die laut Staatsanwaltschaft an die kurdische HPG-Guerilla (Volksverteidigungskräfte) weitergereicht worden seien.

Das Revisionsgericht stellte nach neun Jahren letztinstanzlich fest, dass in diesen Verfahren das Anti-Terror-Gesetz nach belgischem Recht nicht angewendet werden könne. Daher werde es keinen Prozess geben und alle Angeklagten würden von sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen.

Gegen heftige Widerstände der Staatsanwaltschaft hatte die Verteidigung von Beginn an die Frage in den Mittelpunkt der Verfahren gestellt, ob es sich bei der PKK überhaupt um eine »terroristische« Organisation handele und das belgische Anti-Terror-Gesetz zur Anwendung kommen könne. Dieses hat den Vorbehalt, dass es nicht auf bewaffnete Kräfte innerhalb eines Konfliktes nach internationalem Recht anwendbar ist. Die Regelung wurde 2003 im Zuge der europäischen Rahmenvereinbarung über Terrorismus buchstabengetreu in belgisches Recht übernommen und sollte eigentlich als Grundlage der Anti-Terror-Gesetze in den meisten europäischen Staaten gelten.

Nach Auffassung der Verteidigung ist der Konflikt in der Türkei zwischen Kurd*innen und der türkischen Armee selbstverständlich keine Terrorismusangelegenheit, sondern ein Bürgerkrieg zwischen einem Staat und einer Gruppe, die es als notwendig erachtet, sich mit Gewalt gegen Diskriminierung und Unterdrückung zu verteidigen. Der Konflikt habe eine hinreichende Intensität, um als Krieg angesehen zu werden und nicht als terroristische Aktivität oder bewaffnete Zwischenfälle.

Die kurdische Guerilla HPG sei hinreichend organisiert und strukturiert, um als bewaffnete Kraft und nicht nur als eine irreguläre Gruppe bezeichnet zu werden. Deshalb müsse das Kriegsrecht und nicht das Anti-Terror-Gesetz angewendet werden. So könnten Angriffe auf militärische Ziele nicht als kriminelle Handlungen bewertet werden.

Während das Revisionsgericht dieser Einschätzung im Wesentlichen zugestimmt hatte, widersprach die Anklage beim Obersten Gerichtshof. Dieser hob zwar die vorherige Entscheidung auf, allerdings nicht in den zentralen Punkten. Deshalb mussten die Verfahren wieder vor dem Revisionsgericht in Brüssel verhandelt werden.

»Terrorismus-Argument« legitimiert Unterdrückung der Opposition

Zu den politischen Implikationen des Urteils äußerten sich zwei Tage später kurdische Politiker*innen, Abgeordnete des Europaparlaments und die im Prozess bevollmächtigten Anwält*innen.

Zunächst äußerten sich der sozialdemokratische EP-Abgeordnete Andreas Schieder, Nikolaj Villumsen (Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken) und François Alfonsi von der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Villumsen erklärte, dass die Gerichtsentscheidung Konsequenzen haben müsse. Er verwies auf die Unterdrückung der Opposition in der Türkei, insbesondere der Demokratischen Partei der Völker (HDP), durch das AKP-Regime, die mit Terrorismusvorwürfen begründet werde. Auch für den Einmarsch in Syrien sei das »Terrorismus-Argument« herangezogen worden. Das Problem lasse sich jedoch nicht mit Gewalt lösen, sagte Villumsen und rief die türkische Regierung und die PKK zu Verhandlungen über eine politische Lösung auf. Andreas Schieder erklärte, es gehe bei dem Problem nicht um Terrorismus, sondern um die Rechte einer Bevölkerungsgruppe. Für kulturelle, politische und ökonomische Rechte zu kämpfen, sei legitim.

Anschließend ergriff wieder Villumsen das Wort und sagte, die Listung der PKK als Terrororganisation sei ein Fehler der EU, der eine Lösung der kurdischen Frage verhindere. Das belgische Urteil könne dazu beitragen, einen politischen Prozess zu starten. Auf die Frage von ANF, wie die Erklärung des belgischen Außenministers Philippe Goffin zu dem Urteil zu bewerten sei, erklärte Villumsen, es handele sich um eine sehr unglückliche Äußerung. Goffin hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass sich die Einstellung der belgischen Regierung durch das Gerichtsurteil nicht ändere, die PKK gelte weiterhin als terroristische Vereinigung. Villumsen kündigte an, das Urteil auch im Europaparlament zu thematisieren.

Der Grünen-Abgeordnete François Alfonsi bezeichnete die Brüsseler Gerichtsentscheidung als positiven Schritt gegen die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung. Jetzt gehe es darum, den Beschluss in allen EU-Ländern durchzusetzen.

Anschließend äußerten sich die vier Rechtsanwält*innen Jan Fermon, Joke Callewaert, Paul Bekaert und Luc Walleyn, die die kurdische Seite vertreten hatten, zum juristischen Prozess und seiner Bedeutung. Paul Bekaert verwies darauf, dass die Unterdrückung durch die Terrorismus-Anschuldigung sich nicht nur gegen die PKK richte, sondern gegen alle Kurdinnen und Kurden. Jetzt stelle sich die Frage, ob die belgische Regierung den Gerichtsentscheid respektieren werde. Die belgische Justiz habe ein eindeutiges Urteil gefällt, das sich auch auf die EU-Terrorliste auswirken müsse. Jan Fermon erläuterte den Ablauf des Verfahrens und wies auf die Wikileaks-Dokumente hin, mit denen öffentlich geworden sei, dass die US-Botschaft entsprechenden Druck ausgeübt habe. Auch bei der Listung der PKK als Terrororganisation durch die EU handele es sich um eine politische Entscheidung, die revidiert werden müsse. Die Äußerung des belgischen Außenministers bezeichnete Fermon als »Eingriff in die Justiz«.

Zuletzt sprachen Remzi Kartal als Ko-Vorsitzender vom Volkskongress Kurdistan (Kongra-Gel) und Zübeyir Aydar vom Exekutivrat des KNK. Die beiden kurdischen Politiker gehörten zu den Angeklagten im ursprünglichen Verfahren in Belgien.

Kartal brachte den Wunsch zum Ausdruck, dass das Urteil die gegen die Kurd*innen gerichtete Kriminalisierungspolitik in Europa verändere: »Das Problem ist nicht die PKK. Die PKK wird zum Vorwand für einen Angriff auf das kurdische Volk genommen.« Die EU rief er dazu auf, den belgischen Gerichtsbeschluss als Präzedenzurteil zu behandeln und einen neuen Umgang mit der kurdischen Frage zu finden.

Zübeyir Aydar erklärte, dass über die EU-Terrorliste die Verhaftungen, Folter und Morde des türkischen Staates legitimiert werden: »Niemand sollte sich weiterhin zum Komplizen Erdoğans machen. In Europa sind Zehntausende Menschen über die Definition der PKK als terroristische Vereinigung kriminalisiert worden. Wir sind eine Kriegspartei und treten für die Freiheit unseres Volkes ein. Wir sind dazu bereit, das Problem friedlich über einen Dialog zu lösen. Ich rufe die belgische Regierung und die EU dazu auf, sich nach dem Gerichtsurteil zu richten und die PKK von der Terrorliste zu streichen.«

Bereit für eine politische Lösung

Am 2. Februar nahm auch die PKK-Führung Stellung: »Wir hoffen, dass sich das Urteil in der EU im Sinne einer demokratisch-politischen Lösung der kurdischen Frage durchsetzen wird. Damit könnte Europa das tun, was es vor 21 Jahren verpasst hat. Abdullah Öcalan stellte vor mehr als zwei Jahrzehnten die Möglichkeit in Aussicht, die kurdische Frage im Rahmen der Demokratie zu lösen – Europa nahm diese Chance nicht wahr. Wie damals ist Öcalan auch heute für eine friedliche Verhandlungslösung der kurdischen Frage bereit. Konsequent richtet er Gesprächsangebote an die verantwortlichen Stellen und signalisierte im vergangenen Mai einmal mehr seine Bereitschaft, für Gespräche über eine politische Lösung der kurdischen Frage zur Verfügung zu stehen. Nun liegt es an Europa und den verantwortlichen Kräften dieses Konflikts, die die kurdische Frage stets in eine Sackgasse manövrieren. Doch angesichts des belgischen Urteils und des Widerstands für Freiheit, der sich in Kurdistan entwickelt, wird es für diese Kräfte schwierig, an ihrem bisherigen Ansatz festzuhalten.«

Aus ANF-Meldungen vom 28. und 30.01. und 02.02.2020


 Kurdistan Report 208 | März/April 2020