Irak, Iran, USA – Die Hintergründe des Konfliktes im Mittleren Osten

Der Machtkampf im Irak

Seyit Evran, Journalist


Tausende Menschen demonstrieren im südkurdischen Silêmanî gegen die Besetzung Nordsyriens durch den türkischen Staat. Foto: anfDie Krise und das Chaos im Irak haben sich mit der Ermordung von Ghassem Soleimani, dem Anführer der Islamischen Revolutionsgarden, und Abu Mahdi al-Muhandis, dem Leiter der al-Haschd asch-Schaabi im Irak, durch einen gezielten Angriff der USA weiter vertieft. Die historischen und gesellschaftlichen Grundlagen der gegenwärtigen Probleme und die Widersprüche zwischen den Kräften, die sich in einem Machtkampf um den Irak befinden, geben einige Anhaltspunkte für mögliche Entwicklungen. Diese Widersprüche scheinen die innenpolitische Fragmentierung im Irak noch weiter zu verstärken.

Der historische Hintergrund

Das System des zum Tode verurteilten und hingerichteten irakischen Diktators, Saddam Hussein, stützte sich auf sunnitische Strukturen und schuf damit Widersprüche zwischen schiitischen und sunnitischen sowie kurdischen und arabischen Bevölkerungsteilen. Die schiitische und die kurdische Bevölkerung war mit unvergleichlicher Repression konfrontiert. Schiitische Anführer wurden auf offener Straße ermordet und hingerichtet. Einer der Ermordeten war Mohammed Sadeqık as-Sadr, der Vater des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr. Auch Muhammad Baqir as-Sadr wurde hingerichtet. Er war der Schwiegervater von Muqtada as-Sadr.

An den Kurd*innen wurden mithilfe chemischer Waffen abscheuliche Massaker verübt. Helepçe ist das deutlichste Beispiel dafür. Tausende Dörfer in Behdînan, Silêmanî, Qendîl und Xakurkê wurden zerstört. Vor diesem Genozid fliehend sind die Kurd*innen nach Nordkurdistan, Ostkurdistan und einige wenige auch nach Rojava gegangen. Später, als sich die Möglichkeit ergab, kämpften sie auch gegen Saddam Hussein.

Die Intervention der USA im Irak

Die USA waren nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait Anfang der 1990er bestrebt, Saddam Hussein zu stürzen. Die Ende der 1990er begonnene Intervention der USA endete 2003 mit dem Sturz Saddams, die US-amerikanische Armee blieb im Irak stationiert und die USA begannen, den Irak mit einem Sonderbeauftragten zu verwalten. Den Kurd*innen wurde nördlich des 36. Breitengrades ein Autonomiegebiet zugestanden.

Sunnitische Teile der Bevölkerung im Irak organisierten sich als ehemalige Anhänger*innen von Saddam und verkündeten ihren Kampf gegen die USA. Infolgedessen entstanden im Irak der sogenannte Islamische Staat (IS) und eine Vielzahl von Al-Qaida-Gruppen.

Organisationen der arabisch-schiitischen Bevökerungsgruppe eröffneten ebenfalls den Krieg gegen die USA. Die Vorreiterrolle hierbei spielte trotz seines jungen Alters Muqtada as-Sadr. As-Sadr und die von ihm gegründete Mahdi-Armee kämpften in Bagdad und Umgebung, sowie in Basra, Babil, Zikkar, Musena, Missan, Nadschaf und Kerbela gegen die USA. Sie erklärten die USA zur Besatzungsmacht und kündigten den Kampf bis zum Rückzug der USA aus dem Irak an.

Die neue im Jahre 2005 verabschiedete Verfassung teilte die Verwaltung des Irak in schiitische, sunnitische und kurdische Gebiete auf.

Das Erstarken des Iran

Besonders der Iran profitierte von der neuen Verfassung und der Aufteilung der staatlichen Institutionen. Weil das Amt des Premierministers verfassungsgemäß schiitisch besetzt sein sollte, versuchte der Iran von Anfang an darauf Einfluss zu nehmen. Die irannahe und alte Dava-Partei wurde aktiv, und auch wenn sie bei den Wahlen nur wenig Stimmen erzielte, bekamen irannahe Personen das Amt des Premierministers. Nicht mit dem Iran verbündete Premierminister blieben nicht lange im Amt.

Die USA hatten sich in einem Teil des Irak festgesetzt und versuchten sich zu halten, indem sie Widersprüche zwischen den Sunnit*innen und den Kurd*innen schufen. Darüber hinaus erklärten die USA, dass das eigentliche Zentrum des Schiitentums die Stadt Nadschaf sei und nicht das iranische Kum, weshalb die irakischen Schiit*innen ihren geistlichen Anführer selbst wählen müssten. Auf diese Weise schufen die USA Widersprüche zwischen den arabischen und iranischen Schiit*innen. Doch der Krieg der Mahdi-Armee von as-Sadr richtete sich nicht nur gegen die USA in der Hauptstadt Bagdad und den schiitischen Regionen: Sie kämpfte gegen alle Staaten, die Teil der internationalen Koalition waren. Die heftigsten Auseinandersetzungen gab es in Basra gegen die Soldaten Großbritanniens.

Das Aufbrechen interner Probleme nach dem Sieg

Die stärksten Gefechte ereigneten sich 2011 in Basra. An einem Tag sollen 700 Mitglieder der Mahdi-Armee getötet worden sein. Trotzdem begann die internationale Koalition sich aus den von der Mahdi-Armee beeinflussten Gebieten zurückzuziehen. Kurz nachdem daraufhin die Mahdi-Armee ihre Siegesparade abhielt, machten sich ihre inneren Probleme bemerkbar, vor allem zwischen Qeys Xez Ali, dem offiziellen Sprecher der Armee, Asaib Ehlil Hak, dem heutigen Verantwortlichen der irannahen Gruppe, und Muqtada as-Sadr. Muqtada as-Sadr beschuldigte Qeys Xez Ali, innerhalb der Mahdi-Armee eine eigene Gruppe zu organisieren.

Aufstand in der arabischen Welt

Ab 2011 begannen in der arabischen Welt wichtige Entwicklungen. Die Aufstände gegen die langjährigen Diktaturen in der Region begannen in Tunesien und breiteten sich in Ägypten, Libyen bis hin nach Syrien aus. Die USA, Russland, europäische Länder und regionale Staaten wie die Türkei und der Iran nutzten die Aufstände für ihre eigenen Interessen. In Tunesien, Ägypten und Libyen bauten die Muslimbrüder ihr System mit der Unterstützung der Türkei auf.

Eingriff in die Einflusszone der Muslimbrüder

Aus diesem Grunde stockten die Aufstände in Syrien. Es gab Interventionen in Ägypten, Tunesien und Libyen. Die Situation in Syrien mündete in einen Krieg innerhalb der syrischen Grenzen. Es wurde versucht, den Einfluss der Muslimbrüder, die von der Türkei unterstützt wurden, zurückzudrängen.

Der Iran hingegen verfolgte weiterhin das Ziel, den schiitischen Halbmond auszubauen. Während Erdoğan mithilfe der Muslimbrüder und der Vernichtung der Kurd*innen seine regionale Macht erweitern wollte, verfolgte der Iran das Ziel, im Irak, Syrien, Jemen, Libanon und anderen Staaten seinen Einfluss mithilfe lokaler Kräfte auszudehnen.

Der IS in der Region

Als die Maske der von der Türkei unterstützten Gruppen fiel, wurde der IS im Jahr 2013 zu einem aktiven Faktor in Syrien und im Irak. In Syrien richtete sich der IS vor allem gegen die kurdischen Gebiete. Die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien hielten ab 2014 ununterbrochen an. Im Irak besetzte der IS Gebiete wie Mûsil, Tikrît, Diyala, Kerkûk, Şengal und Zumar, wobei sich die irakische Armee aus den meisten Städten kampflos zurückzog. Infolge dieser Angriffe musste der damalige irannahe Premierminister Nuri al-Maliki von seinem Amt zurücktreten. Die Angriffe des IS und der Rücktritt von al-Maliki bedeuteten für den Iran einen enormen Einflussverlust. Als Premierminister folgte Haydar al-Abadi.

Der innerschiitische Widerspruch

Auch wenn er Mitglied der Dava-Partei war, dessen Vorsitzender Nuri al-Maliki ist, stimmte Haydar al-Abadi nicht in allen Punkten mit dem Iran überein und stand Muqtada as-Sadr näher. Die Anführer der schiitischen Front, an deren Seite Haydar al-Abadi stand, verstehen sich selbst als Iraker und arabische Alewiten. Sie erklärten, das Zentrum des Schiitentums sei nicht Kum, sondern Nadschaf. Die religiöse Autorität der arabischen Alewit*innen müsse nicht vom Iran, sondern von den irakischen arabischen Schiit*innen bestimmt werden.

Nachdem Haydar al-Abadi Premierminister wurde, bereitete er eine Offensive vor, um die antiiranische Gruppe zum Erfolg zu führen. Sie konzentrierte sich auf den Kampf gegen den IS. Ein Jahr nach der Amtsübernahme wurden Vorbereitungen getroffen zur Rückeroberung der vom IS besetzten irakischen Gebiete, allen voran Mûsil.

Al-Haschd asch-Schaabi als Karte des Iran

Angesichts der Schwächung der den Iran unterstützenden Parteien und Politiker einerseits und der Vorbereitungen einer Militäroperation gegen den IS von Seiten des Premierministers Haydar al-Abadi andererseits unternahm der Iran einen neuen Vorstoß, indem er al-Haschd asch-Schaabi gründete, vorwiegend aus Schiiten bestehend. Dies geschah unter Führung des irannahen Nuri al-Maliki, der während seiner Amtszeit als Premierminister einen großen Teil des Irak an den IS verloren hatte. Am 13. März 2014 verkündete er – flankiert von einer Fetva des irakisch-schiitisch Geistlichen Ali as-Sistani – offiziell die Gründung der al-Haschd asch-Schaabi. Die al-Haschd asch-Schaabi bestehen aus über 100 Gruppen, mehr als 40 davon stehen dem Iran nahe.

Der Schachzug der Türkei

Auch der türkische Staat führte im Irak einen Machtkampf mit dem Iran, da er die Ölfelder in Mûsil und Kerkûk kontrollieren möchte und die südkurdische Region als Teil seines Einflussgebietes betrachtet. Tariq al-Haschimi und Esil Nuceyfi schmiedeten dafür in Ankara einen Plan. Zu Beginn des Jahres 2012 floh Tariq al-Haschimi, stellvertretender Staatspräsident des Irak und Vorsitzender der Islamischen Partei, nach Südkurdistan, um sich der Verantwortung für ein Massaker an Schiit*innen im Irak zu entziehen; von dort aus wurde er an die Türkei weitergereicht. Irakische Gerichte verurteilten ihn in Abwesenheit zum Tode. Esil Nuceyfi ist der ehemaligen Gouverneur von Mûsil. Er hatte Mûsil trotz massiver Truppenpräsenz kampflos wenigen hundert IS-Dschihadisten überlassen. Im Irak wurde unter anderem wegen Kollaboration mit der Türkei ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt. Nuceyfi floh anschließend in die Türkei. Es sollte gegen die al-Haschd asch-Schaabi eine aus Sunniten bestehende paramilitärische Gruppe namens Haşdi Watani aufgebaut werden. Dafür wurden in Absprache mit der kurdischen Regionalregierung militärische Kräfte nach Başika geschickt. Dieser Plan erregte die Aufmerksamkeit des irakischen Premierministers Haydar al-Abadi, der den sofortigen Rückzug dieser Kräfte forderte und mit Militärschlägen drohte. Die Türkei erklärte ihre Truppenpräsenz mit einem Abkommen mit der kurdschen Regionalregierung zur Ausbildung ihrer Peschmerga-Kräfte.

Der Kampf um Macht im Kontext des IS

Um seine eigene Position angesichts der Vorbereitungen des Iran sowie den Status der Haşdi Watani durch die Türkei zu stärken, plante Haşdi Watani mit den USA und der internationalen Koalition eine Operation gegen den IS. Diese »Mûsil« genannte Operation im Sommer 2015 wurde aufgrund des Verlustes von Ramadi und der fehlenden Erfolge der irakischen Armee bis ins Jahr 2016 verlängert. Haydar al-Abadi verkündete dann am 17. Oktober 2016 den Beginn der Operation, die von den Peschmerga, den USA und den von der Türkei im Başika-Camp ausgebildeten »Wächtern von Ninive« unterstützt wurde. Im Rahmen dieser Operation, bei der auch circa 30 Gruppen teilnahmen, die Teil der al-Haschd asch-Schaabi sind, wurden bis Mitte 2017 Bakuba, Diyala, Ambar, Tikrît, Telafer und zuletzt Mûsil und das Umfeld vom IS befreit. Damit hatte Haydar al-Abadi seine eigene Position gestärkt.

Das größte Problem für al-Abadi war die Balance zwischen dem Iran und den USA. Da die USA, der Iran und die Türkei bei der Anti-IS-Operation teilnahmen, konnte trotz aller bestehenden Interessenskonflikte vorübergehend ein Gleichgewicht aufrechterhalten werden.

Das Referendum hat das Gleichgewicht zerstört

Genau in diesem Zeitabschnitt aber wurde das »Unabhängigkeitsreferendum« zum Thema, das der Präsident der kurdischen Regionalregierung Mesûd Barzanî initiiert hatte. Die USA, UN und anderen internationalen Kräfte versuchten die Durchführung dieses Referendums zu verhindern. Die USA und UN schlugen vor, das Referendum um zwei Jahre zu verschieben, bis die Probleme mit der irakischen Zentralregierung gelöst sind, und dann ein Referendum unter internationaler Aufsicht stattfinden zu lassen. Doch es wurde am 26. September 2017 durchgeführt. Der Iran, der Irak und die Türkei legten kurz darauf all ihre Spannungen untereinander auf Eis, um gemeinsam dieses Referendum zu blockieren. Auf Wunsch des irakischen Präsidenten Haydar al-Abadi führten die türkische und die iranische Armee jeweils an der Grenze zu Südkurdistan zur Abschreckung Militärmanöver durch. Der Iran schloss die Grenzübergänge und der Irak die Flughäfen in Südkurdistan. Am 16. Oktober griff der Irak mithilfe der al-Haschd asch-Schaabi die »umstrittenen Gebiete« an und besetzte sie innerhalb einer Nacht. Dies kehrte die Situation zugunsten des Iran um, wo doch die USA seit Jahren versuchten, den iranischen Einfluss im Irak einzudämmen. Der Iran intervenierte mithilfe seiner Miliz in Kerkûk und weiteren Gebieten, in denen sie zuvor keinerlei Einfluss hatte. Damit hatte sich der Iran im Irak ausgebreitet. Das antikurdische Bündnis zwischen dem Iran, dem Irak und der Türkei hatte damit das Gleichgewicht zerstört. Auslöser war das Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan.

Die notwendige Offensive der USA

Dies nötigte die USA zum Handeln. Bei den irakischen Parlamentswahlen am 12. Mai 2018 haben die irannahen schiitischen Gruppen einen bedeutenden Sieg davongetragen. Sechs Tage danach, am 18. Mai 2018, begannen die USA sich einseitig aus dem im Jahr 2015 festgelegten Atomabkommen mit dem Iran zurückzuziehen und flankierten dies mit einem verschärften Embargo gegen den Iran. Die Ausweitung des Embargos am 5. November 2018 auf alle Länder, die Öl vom Iran beziehen, verschärfte die Spannungen zwischen den USA und dem Iran. Auch wenn am 12. Mai die Wahlen stattfanden, blieb der Irak bis zum Oktober ohne eine Regierung, da sich weder die Kurd*innen auf einen Staatspräsidenten noch die Schiit*innen auf einen Premierminister noch die Sunnit*innen auf einen Parlamentspräsidenten einigen konnten.

Durch einen minimalen Kompromiss zwischen den USA und dem Iran wurde zunächst der Parlamentspräsident im Oktober gewählt. Darauf folgte Barham Salih von der Patriotischen Union Kurdistan YNK als Staatspräsident. Dieser gab dem Technokraten Adil Abd al-Mahdi die Aufgabe, eine neue Regierung zu bilden. Ende Oktober wurde die Regierung von Adil Abd al-Mahdi zur Wahl gestellt, aber acht der vorgeschlagenen Ministern wurde nicht das Vertrauen ausgesprochen. Doch schlussendlich konnte wieder eine Regierung gebildet werden. Dann vertieften sich die Spannungen zwischen den USA und dem Iran erneut.

Die Frist von as-Sadr und die Protestwelle

Einen Monat, bevor die befristete Unterstützung von as-Sadr für die Regierung endete, begannen in der Hauptstadt Bagdad und in den vor allem von arabischen Schiit*innen besiedelten Städten Nadschaf, Kerbela, Basra, Nasiriya, Diwaniye, Missan, Mussena und Zikar Proteste. Die regierungskritischen Proteste richteten sich gegen Korruption, Misswirtschaft und Armut. Um Einfluss zu gewinnen, unterstützten neben as-Sadr auch die beiden dem Iran eher kritisch gegenüberstehenden Amr Hekim und Haydar al-Abadi die Proteste. Auch der schiitische geistliche Führer Ali as-Sistani sagte den Protesten seine Unterstützung zu.

Diese wurden immer gewalttätiger. Auch die USA erklärten die Unterstützung für die Proteste. Im zweiten Protestmonat trat der irakische Premierminister zurück. Da immer noch keine Regierung gebildet werden konnte, führt ein vorübergehender Premierminister das Amt weiter. Die Proteste richteten sich mit der Zeit auch gegen den Iran und die Krise vertiefte sich.

Die Karten werden mit dem Tod von Soleimani neu gemischt

Das Ausmaß der Spannungen zwischen den USA und dem Iran hat sich mit der Ermordung des iranischen Generals Ghassem Soleimani und Abu Mahdi al-Muhandis, des Leiters der al-Haschd asch-Schaabi, deutlich gezeigt. Solch ein Akt wurde von den USA nicht erwartet. Damit wurde in gewisser Weise die seit 40 Jahren andauernde Aggression, die über Stellvertreterkriege und Embargos geführt wurde, auf eine neue, offenere Stufe gehoben. Stellvertreter werden aber weiterhin in diesem Konflikt eine Rolle spielen.
Iran fordert eine Klarstellung der Positionen
Der Iran hat auf eine indirekte Art und Weise durch Nachrichten, Analysen und Kommentare in den Medien eine Klarstellung der Position der Türkei verlangt. Darüber hinaus hat der Iran auch Druck auf die Regierung im Irak aufgebaut. Infolgedessen kam am 5. Januar das irakische Parlament zusammen und plädierte für einen Rückzug aller ausländischen Kräfte aus dem Irak. Der vorübergehende irakische Premierminister Adil Abd al-Mahdi und der Präsident der kurdischen Autonomieregion Nêçîrvan Barzanî wurden in die iranische Hauptstadt eingeladen. Doch trotz dreimaliger Einladung ist keiner dieser politischen Führer nach Teheran gegangen. Zur selben Zeit haben beide auch eine Einladung aus den USA erhalten. Abd al-Mahdi und Nêçîrvan Barzanî ließen auch diese Einladung der USA unbeantwortet.
Während der Iran von diesen Kräften eine klare Position forderte, gab er Kräften, mit denen er sich im Konflikt befand, zu verstehen, die Probleme lösen zu wollen. Hierbei gab es vor allem Signale an Saudi-Arabien. Saudi-Arabien reagierte positiv auf das Verhandlungsinteresse des Iran und interpretierte das als dessen Absicht, über Saudi-Arabien indirekte Beziehungen mit den USA aufzunehmen.

Klare Positionen in Davos

Die USA haben zuletzt Nêçîrvan Barzanî und Adil Abd al-Mahdi zum Weltwirtschaftsforum in Davos eingeladen. Barzanî nahm mit einer Delegation teil. Nach einer Rede auf dem Forum kam er mit dem US-Präsidenten Donald Trump zusammen. Bei seiner Rückkehr aus Davos erklärte er angesichts der anhaltenden Diskussionen über den Rückzug der US-Streitkräfte aus dem Irak, die USA und die internationale Koalition müssten im Irak bleiben. Der Iran wird dies nicht stillschweigend hinnehmen.

Adil Abd al-Mahdi fuhr trotz Einladung nicht nach Davos. Stattdessen wurde der kurdischstämmige Staatspräsident des Irak Barham Sali gebeten, daran teilzunehmen. Barham Sali traf sich dort mit Donald Trump und wurde dafür von al-Haschd asch-Schaabi kritisiert. In den iranischen Medien wurde von einem Verrat Barham Salihs am Irak und am Iran gesprochen.

Warum hat sich as-Sadr erneut dem Iran angenähert?

As-Sadr rief für den 24. Januar zu einem Massenprotest auf, um den Rückzug der US-Streitkräfte aus dem Irak zu fordern. Mit dieser Entscheidung zeigt sich sein erneuter Annäherungsversuch an den Iran. Der schiitische Geistliche Ali as-Sistani hat sich gegen diese Initiative von as-Sadr gestellt. Dennoch wurde die Kundgebung am 24. Januar durchgeführt. Danach erklärte as-Sadr die seit vier Monaten andauernden Proteste nicht mehr zu unterstützen, woraufhin sich einige Unterstützer*innen der Protestierenden zurückzogen, und die irakische Armee und Polizei begann brutal gegen die Proteste vorzugehen. Die Protest-Koordination erklärte, as-Sadr habe sie verraten, und verkündete die Fortsetzung der Proteste sowie die eigene Unabhängigkeit von as-Sadr.

As-Sadrs Haltung hat die bestehende Fragmentierung der Schiiten im Irak weiter vertieft. As-Sadr nähert sich statt dem Iran mehr Saudi-Arabien an. Gleichzeitig gibt es zwischen Iran und Saudi-Arabien gemäßigtere Töne, weshalb as-Sadrs Verhalten so interpretiert wird, dass er sich ein Hintertürchen Richtung Iran offenhält.

Ausblick

All die dargelegten Aspekte zeigen, dass die Spannungen zwischen den USA und dem Iran weiter andauern werden. Auch die politische Unklarheit und die Regierungskrise werden sich fortsetzen. Es besteht auch das Risiko einer verschärften Auseinandersetzung zwischen den Kurd*innen und den irannahen Schiit*innen. Die der Türkei nahe stehenden Sunnit*innen scheinen ebenfalls einige Vorstöße im Irak und in Südkurdistan zu unternehmen. Die jüngsten Äußerungen des ehemaligen Präsidenten des irakischen Repräsentantenrats Salim al-Dschaburi in der Presse, Mûsil und Kerkûk befänden sich innerhalb der Grenzen des Misak-ı Milli, machen deutlich, dass die Türkei weiter Pläne für den Irak schmiedet.


 Kurdistan Report 208 | März/April 2020