Bericht über eine kurdische Delegationsreise nach Südafrika im März 2020

Die Macht – dem Volke! Dem Volke?

Ercan Ayboga, Ökologiebewegung Mesopotamien


Veranstaltung im Khanya CollegeAmandla, Amandla! bekommen wir oft zu hören im Staat Südafrika – und zwar mit einer geballten Faust. Darauf rufen die anderen Anwesenden »Ngawethu« oder »Awethu« zurück. Dies stammt aus der Zeit des Widerstandes gegen das Apartheid-System. Zweimal rufen wir das auch vor versammelten Menschen. Es ist zweifellos ein schöner Moment, auch wenn wir zu jenem Zeitpunkt nicht wissen, was diese Wörter bedeuten. »Amandla« heißt Macht und Ngawethu/Awethu »dem Volk«.

Aber wurde die Macht denn wirklich dem Volk übertragen? Diese Frage stellen wir immer wieder den Menschen, denen wir zwei Wochen lang in Südafrika Anfang März begegnen. Die Antwort lautet entweder »nein« oder »kaum«. Das ist natürlich enttäuschend, denn viele erinnern sich noch an den jahrzehntelangen, starken Kampf von Millionen Menschen gegen den Rassismus.

Zwar wussten wir schon vor unserer Delegationsreise, vielmehr seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass in Südafrika nach Ende der Apartheid keine soziale Revolution stattgefunden hat und dass die frühere Widerstandspartei ANC (Afrikanischer Nationalkongress) die Regierungsposition für Selbstbereicherung und Herrschaft missbraucht. Dass es aber so schlimm ist, wie wir es hören und sehen können, haben wir uns nicht ganz so vorgestellt.

Dies vertieft unsere Enttäuschung, aber genauso bestätigt es den Weg, den einige revolutionäre Prozesse in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen haben. Zu diesem gehört auch die Freiheitsbewegung von Kurdistan, über die wir in Südafrika sprechen und die wir diskutieren. Das »wir« besteht aus Aktivist*innen von Kongra Star, der Frauenbewegung von Rojava, und der Ökologiebewegung Mesopotamien, die Ökologieaktivist*innen in Nordkurdistan (Bakur) zusammenbringt. Keine schlechte Kombination, um die politischen Ansätze und die Praxis der revolutionären Prozesse in Kurdistan zu vermitteln.

Wenn wir in unseren Vorträgen von der Rolle der vielen Kommunen im befreiten Rojava berichten, wird uns fast jedes Mal von den Straßenkomitees der 80er Jahre in den Townships, den Armenvierteln rund um die Städte, erzählt. Diese Straßenkomitees wurden in fast allen Straßenzügen durch die »Schwarzen«, »Farbigen« (Coloured) und »Asiat*innen« (Asians) – nach diesen rassistischen Kategorien wurden die Townships durch das Apartheid-Regime angelegt – durch politische Aktivist*innen der legalen UDF (Vereinigte Demokratische Front) aufgebaut. Die UDF ist nicht gleichzusetzen mit dem ANC, aber die meisten sympathisierten mit ihr. Die Straßenkomitees sorgten dafür, dass die Gesellschaft sich besser politisch organisieren, mit Bedürfnissen des Alltags versorgen und gegen die Repression verteidigen konnte – und gaben der Bevölkerung damit viel Kraft. Es gab jedoch auch Probleme, wie die Exekution von Kollaborateur*innen. Dennoch sind wir beeindruckt, wie diese Komitees Millionen organisieren konnten. Mit der Zeit weicht das Beeindrucktsein der Frage, warum sie nach 1990 verschwanden.

Als 1990 der seit 1962 auf der Insel Robben Island inhaftierte ANC-Vorsitzende Nelson Mandela freikam, begann ein Prozess, der zweifellos allen Unterdrückten viel Hoffnung machte. Der ANC propagierte den eigenen Anhänger*innen, dass mit seiner Regierungsübernahme mittels Wahlen die Unterdrückung aufgehoben und die soziale Lage sich schnell verbessern werde. Die UDF, wie auch andere Organisationen (darunter die Gewerkschaft COSATU), gingen so mit dem ANC einen Pakt ein (einige Personen aus diesen sozialen Bewegungen wurden Minister*innen und Sekretär*innen in den ersten ANC-geführten Regierungen). Hinzu kommt, dass Anfang der 90er Jahre das Bewusstsein für eine demokratische Selbstorganisation der Gesellschaft auf unterster Ebene sowohl in Südafrika als auch weltweit deutlich weniger verbreitet war als heutzutage. Und es gab zu wenige Aktivist*innen, die sich stark für die Beibehaltung der Straßenkomitees einsetzten.

Nach spätestens zehn Jahren ANC-Regierung wurde ganz offensichtlich klar, dass die ANC-Führung von Anfang an kein Interesse hatte, den reichen Unternehmen und Privatpersonen – also der weißen Kapitalistenklasse – irgendetwas wegzunehmen. Dies muss wohl die Vorbedingung des Apartheid-Regimes für den ANC gewesen sein, um die Transition von 1990 bis 1994 anzuleiten. Einer der berühmtesten politischen Häftlinge unserer Zeit, Nelson Mandela, ist dabei nicht auszunehmen. Selbst wenn er dabei nicht aktiv mitgewirkt haben sollte, tolerierte er dies, hören wir von mehreren Aktivist*innen.

Die Politik des ANC verfolgte das Ziel, dass die vielen Millionen Ausgebeuteten vom wirtschaftlichen Wachstum etwas abbekommen sollten, um ihre materielle Lage zu verbessern – so wie in Brasilien und Bolivien in den letzten zwei Jahrzehnten. Dies geschah bis heute nur minimal. Denn die ANC-Führungskräfte rissen fast alle Einkommen des Staates an sich und bereicherten sich in extremer Weise. So ist die ausgeprägte Korruption ab den 1990er Jahren zu erklären. Die hohe Kriminalität ist vor allem hiermit zu verstehen.

Eine der Folgen dieses Prozesses ist, nach dem, was wir hören, dass die sozialen Bewegungen in Südafrika in den letzten Jahren relativ schwach sind und die Kritik am politisch-wirtschaftlichen System nicht wirklich greift. Alle Alternativen zum ANC werden innerhalb des bestehenden Systems formuliert, so wie es die neue Partei »Economic Freedom Fighters« tut, die bei den letzten Parlamentswahlen mit fast zehn Prozent der Stimmen einen großen Erfolg erzielte. Ihre Führungsriege ist genauso korrupt und machtsüchtig wie die des ANC. Die Kommunistische Partei (SAC) war von Anfang an Teil des ANC und damit Teil des Problems. Es gibt viele kleine interessante Initiativen und Selbstorganisationsstrukturen, doch sind sie kaum miteinander vernetzt.

So lassen sich auch die Reaktionen der Menschen besser verstehen: Unsere Betonung der Kommunen als auch der Kooperativen der ökonomischen Selbstständigkeit, der Akademien der permanenten Selbstbildung und der (Volks-)Räte der Vernetzung aller Strukturen der demokratischen Selbstverwaltung (bzw. »demokratischen Autonomie«) kommt in einem Staat wie Südafrika mit einer langen Geschichte des Widerstands gegen die kapitalistische Moderne anders an als in Europa. Nach jedem Vortrag gibt es so viele Fragen, dass nicht alle beantwortet werden können, selbst wenn über eine Stunde für die Diskussion vorgesehen ist. So etwas hatten wir nirgendwo sonst erlebt, was das Interesse an der Revolution in Kurdistan und die Suche nach Alternativen ausdrückt. Es muss anscheinend seit Jahren eine intensive Auseinandersetzung der kritischen Menschen und Aktivist*innen geben, die eine neue Form von Demokratie, Freiheit und Solidarität suchen, die über den für Korruption offenen Parlamentarismus hinausgeht.

Die meisten Fragen beziehen sich auf die Kommunen und inwiefern sie Teil der gesamten demokratischen Autonomie sind (»Wie stark beteiligen sich die Menschen daran?«, »Was tun sie genau?«, »Wie vernetzen sie sich?«), auf die Frauenbefreiung und wie sie das Patriarchat herausfordert (»Was ist die Jineolojî?«, »Gelten das Ko-Vorsitzendensystem und die Genderquote tatsächlich auch überall?«, »Welche Rolle spielen die LGBTI*?«, »Wie sieht es denn zuhause zwischen Mann und Frau tatsächlich aus?«), auf das Justizsystem (»Wie arbeiten und entscheiden die Friedenskomitees?«, »Wie viele der Konflikte können sie lösen?«, »Wer entscheidet in schweren Fällen?«) und auf die ökonomische Lage und damit die Selbstversorgung (»Wer besitzt das Land?«, »Wie entstehen Kooperativen?«, »Wie stark sind Kooperativen in der gesamten Wirtschaft?«, »Was passiert mit dem Öl?«, »Womit können sich die Menschen denn tatsächlich selbst versorgen?«). Es gibt eine Reihe weiterer interessanter Fragen wie zur Rolle der politischen Avantgarde, zu den inhaftierten IS-Mitgliedern, zu den Beziehungen zum syrischen und anderen Staaten, zur Rolle der politischen Parteien im neuen System, zur aktuellen politischen Lage und dazu, welche Ideologien den Demokratischen Konföderalismus beeinflussen.

An diesen Fragen ist auch die NGO ILRIG (International Labour Research Information Group, www.ilrig.org.za) interessiert, weshalb sie uns zu dieser Veranstaltungsreihe eingeladen hat. ILRIG wurde in den 1980er Jahren gegründet und setzt sich vor allem mit Bildungsangeboten für Arbeiter*innen und Internationalismus auseinander. An Demonstrationen und Kampagnen zu Rojava/Kurdistan beteiligt sie sich seit Ende 2014 immer wieder, als der IS in und um Kobanê von der Rojava-Revolution bekämpft wurde. Wir fahren in die Städte Johannesburg, Kapstadt, Durban und Makhanda (früher Grahamstown) und halten insgesamt zehn Vorträge.

In Südafrika lebt eine wirklich spezielle Gesellschaft. Dies hängt vor allem mit der Apartheid zusammen, die die Bevölkerung nach ethnischen Merkmalen territorial voneinander getrennt hat. Einige der Schwarzen leben nun in den reichen Stadtteilen als Neureiche. Doch der ökonomische Unterschied zwischen den Zentren der Städte und den sie umgebenden Townships ist nach wie vor gravierend. Von Sandton bei Johannesburg, dem reichsten Bezirk auf dem Kontinent, bis Alexandria, einem der ärmsten Stadtteile, sind es nur zwei Kilometer. Als wir von Sandton nach Alexandria mit dem Auto fahren, sehen wir diese krasse Diskrepanz. Das Elend in Alexandria ist so groß, dass es im Mittleren Osten nichts Vergleichbares an Armut gibt. Hier leben, wie in vielen anderen Townships, Millionen von Menschen in notdürftig errichteten Unterkünften aus Wellblech ohne fließendes Wasser und Strom. Und wenn hier nun der Staat eine Ausgangssperre wegen der Covid-19-Pandemie mit Polizeigewalt durchzusetzen versucht, stellt dies eine weitere Repression gegen diese extrem ausgebeuteten Menschen dar. Wir werden sehen, ob es zu einer sozialen Explosion kommen wird.

Fast alle »Schwarzen« der Townships sind dazu verdammt, immer hier zu leben. Zurück in ihr Dorf können sie kaum. Denn rund neunzig Prozent des Agrarlandes gehören den »Weißen«, also den Nachfahren der Kolonisator*innen. Diese haben riesige Farmen und bedienen mit ihren Produkten auch die Weltmärkte, wofür sie die früheren Bewirtschafter*innen als moderne Sklav*innen arbeiten lassen. Ein bedeutender Teil des besetzten Landes sind die von Tourist*innen geliebten Naturreservate (einschließlich der »Game Reserves« mit den so oft beworbenen »Big Five«, die bei Safaris zu begutachten sind), die den Weißen gehören. Hierfür wurden so viele Wälder abgeholzt, dass heute nur ein Prozent der Fläche dieses Staates bewaldet ist. Eine Landreform ist nicht in Sicht, auch wenn es vor mehreren Jahren erste Versuche gab. Aber da die neuen (alten) Besitzer*innen seit Generationen nicht mehr Land bewirtschaften und keine Unterstützung für den Aufbau von Landwirtschaft vom Staat erhalten, haben sie zu einem Großteil das Land zurück an die Weißen verkauft. Aufgrund dieses Landproblems in Südafrika werden uns viele Fragen zum Landbesitz in Rojava und ganz Kurdistan gestellt.

Hier stellt sich heraus, wie wichtig die Landfrage ist, wenn Selbstversorgung ein strategisches Ziel einer Gesellschaft sein soll. Selbst in Zeiten von »High-Tech« und moderner Industrie und auch gerade angesichts von Pandemien zeigt sich, dass eine Gesellschaft nur wirklich autonom sein kann, wenn sie das Wichtigste zum Leben selbst produziert. Zwei Teile Kurdistans, Rojava und Südkurdistan, offenbaren dies als Beispiele für die beiden Extreme. Ein Teilnehmer in Kapstadt sagt zu Recht, dass der mit der neoliberalen Welthandelsorganisation (WTO) stark gestiegene Welthandel und vor allem die Konzentration der Produktion auf wenige profitable Produkte in den meisten Staaten die Gesellschaften in Zeiten von Krisen deutlich vulnerabler gemacht hätten.

Was uns in Südafrika stört: Wir können tagsüber nicht allein zu Fuß in den Straßen spazieren gehen – außer im Zentrum von Kapstadt. Genauer gesagt, uns wird dies angesichts der hohen Kriminalitätsrate von den Freund*innen, die uns eingeladen hatten, dringend empfohlen. Durch unsere Art und Weise würden wir zu schnell auffallen. Das sind wir so nicht gewohnt, denn selbst im Mittleren Osten ist es trotz der politischen Repression und Armut großteils möglich, sich in den allermeisten Städten tagsüber allein aufzuhalten. So befindet sich immer eine*r der Freund*innen neben uns und so können wir die Orte nicht wirklich selbst erfahren. Diese Kriminalität ist nicht heraufbeschworen, sie ist real. Wir sehen auf der Straße mehrmals Gewalt und zweimal einen Raub mit eigenen Augen.

Diese Kriminalität ist so brutal und organisiert, dass sie selbst politische Aktivist*innen spüren. Ein Mensch berichtet uns nach einem unserer Vorträge, als wir über Selbstorganisation auf Straßenebene sprechen: In einem Township hatten vor einem Jahr einige engagierte Menschen angefangen, mit Unterstützung einiger linker Aktivist*innen aus der gleichen Stadt ein Straßenkomitee aufzubauen. Sie wollten die Gemeinschaft vor Ort in vieler Hinsicht stärken und sich gegen die Armut und Perspektivlosigkeit organisieren. Doch hatte nach einigen Monaten die kriminelle Bande in einem brutalen Akt nachts drei der lokalen Aktivist*innen ermordet. Die Mörder wurden nicht gefasst und das Straßenkomitee damit leider zerschlagen.

Dieses Beispiel zeigt, wie schwer es ist, sich politisch an der Basis zu organisieren, und wie sehr der Staat ein Interesse an Kriminalität in den ärmeren Gesellschaftsschichten hat. Umso wichtiger ist es aus unserer Sicht, dass Strukturen der Selbstorganisation an der Basis und deren Aktivist*innen sich besser vernetzen und sich selbst verteidigen müssen. Selbstverteidigung sei kein Monopol des Staates, betonen wir immer wieder auch in Südafrika. Der Staat schützt nicht wirklich Menschen auf dem eigenen Staatsgebiet, wenn es um gewisse andere Interessen geht.

Auffällig ist in Südafrika außerdem, dass wir zum 8. März keine Demonstrationen zum Internationalen Weltfrauen(kampf)tag sehen oder mitbekommen. Auf Nachfrage bekommen wir die Antwort, dass ein frauenbezogener Tag eher im Winter (bei uns Sommer) gefeiert wird, dies aber auch nur sehr klein und dass vor allem die Frauenbewegung relativ schwach sei. Zwar nehmen viele Frauen an den Diskussionsveranstaltungen teil, doch hören wir selten die Namen von Frauenorganisationen. Die Genossin von Kongra Star merkt dazu mehrmals an, dass dies inakzeptabel sei, wenn eine starke Gegenbewegung der Bevölkerung gegen Staat, Patriarchat und Kapital geschaffen werden soll. Angesichts der sehr hohen Rate von sexueller Gewalt und auch Vergewaltigung – insbesondere in den Townships – kann keine Alternative ohne eine starke Frauenbewegung entstehen. Sie beeindruckt die Zuhörer*innen sehr stark mit ihren Vorträgen, wenn sie einzeln aufführt, was Kongra Star in Rojava und in Zusammenarbeit mit anderen Frauenorganisationen in den anderen Teilen in Nord- und Ostsyrien aufgebaut hat.

Die Aktivistinnen, die wir in Südafrika sprechen, fügen oft hinzu, dass in den letzten Jahren eine intensivere Diskussion um Frauenselbstorganisation eingesetzt, dies jedoch noch nicht zu auffallenden konkreten politischen Formen geführt habe. Wir sind gespannt, wie eine aufstrebende Frauenbewegung in Südafrika den ganzen Diskurs unter den linken und revolutionären Kräften verändern wird.

Die ökologischen bzw. Umweltbewegungen scheinen gegenüber der Frauenbewegung etwas stärker ausgeprägt zu sein. Das ist zumindest unser Empfinden, denn wir treffen viele Menschen und Organisationen, die uns nach ökologischen Kämpfen in und um Kurdistan fragen oder die von den ökologischen Kämpfen in Südafrika berichten. In Durban treffen wir die NGO SCDEA, die seit den 1990er Jahren mit NGOs und sozialen Bewegungen vor Ort Kämpfe vor allem gegen die Verschmutzung durch die Ölraffinerie führt, welche viele tausende Menschen erkranken ließ. Und das mit einem gewissen Erfolg. Zwar läuft die Raffinerie in der Stadt immer noch mit der alten schlechten Technik, aber ihr Ausbau konnte verhindert werden. Es ist ein langandauernder Kampf, der immer wieder durch Repression und öffentliche Denunziation zurückgeschlagen wird. Aber er gibt vielen anderen Mut. So auch in Kapstadt, wo Wasser das große Thema ist, denn es sei dort auch sehr knapp. In den Jahren von 2015 bis 2017 durfte jede*r Einwohner*in nur noch fünfzig Liter pro Tag für den gesamten Bedarf nutzen. Inzwischen habe es wieder mehr geregnet und die Stauseen seien voll. Doch die nächste Krise kommt sicher bald angesichts der Klimakrise; die Frage ist nur, wann. Das Hauptproblem dabei ist, dass zu viele Menschen – mehr als vier Millionen – in einer kleinen Region mit relativ wenig Niederschlag leben. Und diese Zahl steigt täglich, während die ländlichen Gebiete entleert und umfunktioniert werden. Die politisch Verantwortlichen unternehmen nichts dagegen. Als Lösung werden weitere Stauseen mit Talsperren und der Wassertransport aus ferneren Orten vorgeschlagen, so wie für Istanbul, Teheran und Barcelona. Megastädte werden zu Monstern, die Wasser und andere Ressourcen aus immer ferneren Gebieten verschlingen. Die weiter ausgreifende Urbanisierung verschärft die ökologischen und sozialen Konflikte immer mehr, das bekommen wir in Südafrika noch einmal bestätigt.

In Südafrika zu sein und nicht die frühere Gefängnisinsel Robben Island zu sehen, ist für uns von Anfang an unmöglich. Also machen wir uns auf den Weg dorthin, mit einer Fähre und hunderten Tourist*innen. Autoritäre Staaten lieben es, Inhaftierte – insbesondere politische – auf einer Insel einzusperren. Das taten die erste Kolonisator*innen von Südafrika im 17. Jahrhundert schon auf Robben Island, das in der Sprache der indigenen Xhosa »Esiquithini« heißt. Einer der früheren Inhaftierten erzählt uns vor Ort detailliert, wie das Leben für sie in den 1980er Jahren war: äußerst brutal. Vieles ähnelt den speziellen Gefängnissen der Türkei – vor allem der Insel Imralı im Marmara-Meer, wo der kurdische Repräsentant, Abdullah Öcalan, inhaftiert ist. Aber ein Aspekt ist doch anders: Die Inhaftierten mussten täglich acht Stunden in einem Schiefer-Steinbruch arbeiten. Für den Staat hatte diese gesundheitsgefährdende Arbeit keinen ökonomischen Ausbeutungswert, aber damit sollten die Inhaftierten auf Dauer krankgemacht werden und früh sterben. Und sie sollten wenig Zeit zur politischen Bildung und Organisierung haben. Nichtsdestotrotz bildeten sich die hunderten Inhaftierten mit Disziplin ununterbrochen fort, was wichtig für den Widerstand gegen die Apartheid insgesamt war. Weitere zwei interessante Punkte im Zusammenhang mit Robben Island sind die Tatsache, dass vor genau 200 Jahren der berühmte aufständische Anführer der Xhosa, »Makana«, der gegen die britischen Kolonialist*innen erheblichen Widerstand geleistet hatte, wie Nelson Mandela ebenfalls gekidnappt wurde, und der Umstand, dass während der Apartheid keine Frauen inhaftiert waren.

Wir treffen immer wieder Menschen, die uns über ihre Muttersprache einiges erzählen und sich freuen, wenn sie uns einige Wörter in ihrer Sprache beibringen können. Das machen so manche von uns in Kurdistan auch ganz gern. Neun der indigenen Sprachen sind heute neben Englisch und Afrikaans offizielle Sprachen. Die meisten der Xhosa oder Zulu lernen in den Schulen mittlerweile hauptsächlich in ihren Muttersprachen, was sehr erfreulich ist. Die indigenen Sprachen entwickeln sich weiter, aber es gibt doch einen Punkt, der verwundert: Es gibt keine Universitäten, an denen in den indigenen Sprachen unterrichtet wird. Und das 26 Jahre nach dem Ende der Apartheid. Dies wird uns mehrfach kritisch berichtet. Diese Lage ähnelt der in Südkurdistan, was irgendwie ein Desaster ist. Aber das mit Krieg und Embargo überzogene Rojava/Nordostsyrien hat es geschafft, innerhalb weniger Jahre drei Universitäten mit Bildung in kurdischer Sprache aufzubauen. Trotz aller Herausforderungen werden sie sukzessive besser und immer mehr junge Menschen wollen dort studieren. Dies ist ein Beispiel, wie eine stark selbstorganisierte Gesellschaft Entwicklungen vorantreiben kann, was Staaten mit vielen Milliarden Euros nicht schaffen. Menschen, die tagtäglich für die Emanzipation, Befreiung und freies Denken und gegen Ausbeutung und Hierarchie organisiert arbeiten, können viel schaffen in dieser immer verrückter werdenden Welt!

Es gibt eine Welt zu gewinnen für die Völker und Geschlechter dieser Welt! Es gilt, das Ökosystem Erde mit all seinem Leben zu retten!