Widerstand gegen den deutschen Traum vom imperialen Europa

Das Spektrum der Zusammenarbeit erweitern

Arif Rhein, Mitarbeiter von Civaka Azad


"Die historische Widerstandstradition der deutschen Gesellschaft wird seit mehreren Jahrzehnten durch Zugewanderte aus der ganzen Welt bereichert. Eine besonders aktive demokratische Kraft stellen die hunderttausenden Kurdinnen und Kurden dar, deren Lebensgrundlage mit deutschen Waffen in Kurdistan zerstört wurde und die sich gezwungen sahen, nach Deutschland zu fliehen." Politik hat tiefe Wurzeln. Entscheidungen von heute basieren auf Überzeugungen, Ideologien und Ansprüchen, die ohne ihr historisches Fundament nicht verständlich wären. Politische Akteure, ob Staaten, Völker oder revolutionäre Bewegungen, agieren entlang eines eigenen Geschichtsverständnisses, leiten daraus ein Verständnis von sich selbst und der beanspruchten Stellung in der Welt ab. Diese Wahrheit gilt auch für den deutschen Staat – für seine Bürokratie, seine herrschenden Kreise und seine wechselnden Regierungen. Die Gründung des Nationalstaats Deutschland im Jahr 1871 basierte dementsprechend auf einem Selbstverständnis des Bürgertums, das sich von nun an in dieser Form organisieren wollte. Vordenker wie Friedrich List machten schon in den 1840er Jahren deutlich, dass das deutsche Bürgertum, also die treibende Kraft hinter einer nationalstaatlichen Vereinigung des zentraleuropäischen Kulturraums, in Konkurrenz zum damaligen Hegemon England Weltmachtansprüche erhob. Ein starkes Europa sollte Deutschland bei der Durchsetzung dieser Pläne helfen.

Schon früh war man sich in den entsprechenden Machtzirkeln der Bedeutung des Mittleren Ostens für dieses Vorhaben bewusst. Das Osmanische Reich bot sich als strategischer Partner an. Es war geostrategisch als Südflanke Russlands und ­Brücke nach Fernost zentral gelegen, suchte nach Bündnispartnern im Konflikt mit England, Frankreich und Russland und bot sich als Ressourcenquelle und Absatzmarkt an. Spätestens ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde die strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich zum Leben erweckt. In den deutsch-türkischen Beziehungen setzt sie sich bis heute fort und ist weiterhin Teil der globalen Machtstrategie des deutschen Staates und seiner Eliten.

In der multipolaren Weltordnung, die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer deutlicher herausbildet, verfolgt Deutschland die eigenen Ansprüche zunehmend aggressiver. Der deutsche Politikstil, der von einem hohen Grad an Ungeduld, Aggressivität und Starrsinnigkeit geprägt ist, hat das Land zum Hegemon in Europa werden lassen, der seinen Blick verstärkt auf den Maghreb und den Mittleren Osten richtet. Wenn wir also Schlagzeilen wie »Merkel will Schutzzone für Idlib«1 lesen, sollten wir uns an die historisch bedingten Interessen des deutschen Staates erinnern. Betrachten wir innen- und außenpolitische Entwicklungen isoliert voneinander und losgelöst vom Charakter des deutschen Staates, werden wir weder die tagespolitischen Ereignisse verstehen noch als demokratische Kräfte strategischen Widerstand gegen deutsches Weltmachtstreben organisieren können. Gerade wer an Letzterem interessiert ist, sollte eins nicht vergessen: Das Bündnis mit der Türkei spielt eine zentrale Rolle für die globalen Machtansprüche Deutschlands. Die medialen Streitigkeiten zwischen den beiden NATO-Partnern können also nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einer gemeinsamen Strategie im Mittleren Osten folgen. Das globale Machtstreben Deutschlands im Allgemeinen und die deutsch-türkische ­Mittelostpolitik im Speziellen anzugreifen und zum Scheitern zu bringen liegt im Eigeninteresse der Gesellschaft Deutschlands. Gelingen kann dies nur mithilfe eines bundesweiten, breiten Bündnisses aller demokratischen Kräfte.

Der Plan steht

Fast täglich wird eine aggressivere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik beschworen. Während Bundespräsident Steinmeier feststellt »Deutschland ist zu groß, um Außenpolitik nur von der Seitenlinie zu kommentieren«2, flankiert die deutsche EU-Kommissionspräsidentin mit den Worten »Europa muss auch die Sprache der Macht lernen«3. Ob politische Parteien, Think-Tanks, Mittelostexperten oder Journalisten, es herrscht beeindruckende Einigkeit in der Frage, welche Position Deutschland sich in den nächsten Jahrzehnten erkämpfen soll. Angenehm klingende Begriffe wie »Verantwortung«, »Demokratie« oder »Interessen Deutschlands« umschreiben eine Politik, die nicht ohne massive Folgen für die deutsche Gesellschaft und all die vom deutschen Imperialismus betroffenen Völker bleiben wird. Die Planung der deutschen Verantwortungsträger ist weit fortgeschritten und lässt sich beispielhaft anhand einiger Zahlen gut nachvollziehen: In den vergangenen fünf Jahren ist der Rüstungshaushalt um 38 Prozent auf 47,9 Milliarden Euro (2019) angestiegen. Für 2020 sind 50,3 Milliarden Euro vorgesehen. Bis 2025 sollen nach bisherigen Planungen weitere zwölf Milliarden hinzukommen. Eine Ankündigung der deutschen Verteidigungsministerin im Jahr 2019 macht deutlich, wie strategisch weitreichend die Planungen sind: Bis 2031 sollen zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben bereitgestellt werden, was eine Summe knapp unter 100 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten würde.4 Ein Hauptkostenpunkt sind die Entwicklung und Produktion moderner Waffensysteme. Zwei zentrale Projekte sind ein Kampfpanzer (Main Ground Combat System, MGCS) und ein Kampfflugzeug (Future Combat Air System, FCAS), die beide gemeinsam mit Frankreich entwickelt und zu Standardwaffen der EU-Staaten werden sollen.5 Die neuen Waffensysteme werden entwickelt, um sie in zukünftigen Kriegen einzusetzen – insbesondere im Mittleren Osten als Zentrum der globalen Krise. Die NATO-Strategie für die nächsten Jahrzehnte sieht eine zunehmende Arbeitsteilung vor: die Konzentration US-amerikanischen Militärs in Fernost und eine zunehmende Präsenz europäischer Staaten im Mittleren Osten. Kurdistan als das Zentrum des heute in aller Heftigkeit geführten Dritten Weltkrieges im Mittleren Osten wird besonders von der »deutschen Verantwortung« betroffen sein. Abzusehen ist, dass Syrien, der Irak, die Türkei und der Iran auch in den nächsten Jahren weiterhin im Zentrum der Krise stehen werden. Auch wenn aus heutiger Sicht große Militäreinsätze deutscher Soldaten in diesen Ländern noch sehr abstrakt klingen, müssen Medienkampagnen mit Aufmerksamkeit betrachtet werden, die immer wieder die Frage nach mehr deutschem Militär im Mittleren Osten aufwerfen. Politisch und wirtschaftlich werden die Militärplanungen für die Region flankiert, indem Deutschlands Bündnis mit der Türkei trotz aller Kritik aufrechterhalten und mit allen Mitteln versucht wird, die deutschen Beziehungen zu Teheran stabil zu halten. In diesem Zusammenhang ist eine grundlegende Beobachtung Duran Kalkans, Mitglied des PKK-Exekutivrats, zu historischen Konstanten der deutschen Mittelostpolitik interessant: »Ein anderer Punkt ist, dass die deutsche Politik und das deutsche Kapital im Mittleren Osten immer Partner zentraler Staatsstrukturen waren. Die Führung des Osmanischen Reichs war der einzige Gesprächspartner. Das Gleiche gilt auch für den Iran. Das deutsche System hat den lokalen Autoritäten im Osmanischen System nicht sehr viel Beachtung geschenkt und damit einhergehend auch keine Beziehung aufgebaut. Wenn wir bedenken, dass im arabischen Raum solche lokalen Autoritäten stärkeren Einfluss haben, dann hat Deutschland auch an diesem Punkt verloren. Dagegen haben Länder wie Frankreich und England, anstatt die zentralen Leitungen zur Grundlage zu nehmen, dem Aufbau von Beziehungen zu lokalen Autoritäten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Damit haben sie an vielen Orten des Mittleren Ostens, besonders im arabischen Raum, an Einfluss gewonnen und trotz des Osmanischen Reichs die Kontrolle über einen Großteil des Mittleren Ostens gewinnen können. Dies hat dazu geführt, dass die Öl- und Energiequellen unter die Kontrolle von Ländern wie England und Frankreich gerieten und das deutsche Kapital dieser Quellen beraubt wurde.«

Das Bewusstsein fehlt

Wer die aktuelle deutsche Politik verstehen möchte, muss anerkennen, wie langfristig und umfassend ihre Pläne sind. Drei grundlegende Dinge nicht zu vergessen kann dabei helfen: (1) Als Führungsmacht der kapitalistischen Moderne folgt Deutschland einer strategischen Linie, die auf eine Weltmachtstellung des Landes abzielt und dem Mittleren Osten für den deutschen Imperialismus eine zentrale Bedeutung beimisst. (2) Die aktuelle Politik des deutschen Nationalstaats hat eine mindestens 200 Jahre alte Geschichte. (3) Die politisch-wirtschaftlich-militärische Elite Deutschlands ist für die Umsetzung der eigenen Pläne bereit, direkt oder indirekt Krieg, Völkermord und Faschismus zu befördern. Vor diesem Hintergrund erscheinen gesellschaftliche Diskussionen in Bezug auf Syrien, die Situation der Geflüchteten in der Türkei oder die deutsche Rüstungspolitik im besten Fall als naiv, im schlechtesten Fall als menschenverachtend. Liberale Leitmedien, aber auch größere politische Bündnisse oder Kampagnen melden sich immer wieder mit wichtiger Kritik an der aktuellen Politik der Bundesregierung zu Wort. Doch deuten ihre zentralen Kritikpunkte und Forderungen darauf hin, dass sie das Problem entweder nicht in seiner Brisanz erkannt haben oder den entschlossenen Kampf gegen die deutschen Großmachtbestrebungen schlicht scheuen. Man scheint in etwa der Logik zu folgen: »Unsere Grenzen müssen geöffnet werden, um allen die Einreise zu erlauben, die ihre Heimat verlassen mussten. Auf die nationalistische und kriegstreiberische Politik, die im deutschen Staatsapparat und in den Parteien zunehmend offensiv vertreten wird, reagieren wir am besten mit Großdemonstrationen, die sich mit Forderungen nach einer Politikkorrektur an die Bundesregierung richten.« So weit zumindest die am stärksten wahrnehmbaren Tendenzen in den gesellschaftlichen Protesten der letzten Monate. So berechtigt und gut gemeint dieser Protest ist, so gefährlich kann er sein, wenn er weiterhin nur phasenweise praktiziert wird, schwerpunktmäßig auf Demonstrationen setzt und die Bundesregierung als Hauptadressatin des Protests identifiziert. Wer daran festhält, wird gewollt oder ungewollt einen großen Beitrag dazu leisten, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für die strategischen Ziele des deutschen Staates schwach bleibt und der deutsche Imperialismus im Inneren auf dementsprechend wenig effektiven Widerstand stößt. Gerade anhand der weit verbreiteten Kritik an den deutsch-türkischen Beziehungen lässt sich erkennen, wie wenig historisches Bewusstsein und Verständnis für die Funktionsweise der kapitalistischen Moderne vorhanden sind. Abdullah Öcalan bringt in seiner fünften Verteidigungsschrift6 die Rolle der Türkei im kapitalistischen Weltsystem auf den Punkt: »Die Geschichte der Türkei in den vergangenen 200 Jahren ist nicht losgelöst von den hegemonialen Kräften. Der mit großer Sorgfalt geschaffene Status des Landes entspricht dem eines ›speziellen Gouvernements‹, das aufs engste mit den hegemonialen Kräften verwoben ist. Die Lage der Türkei an einer kritischen geographischen Verbindungsstelle hat sehr spezielle Auswirkungen des internationalen hegemonialen Gleichgewichts auf das Land zur Folge. Trotz der eindringlichen Unabhängigkeitsbekundungen wird dieses Land, diese Nation bzw. dieser Nationalstaat vom hegemonialen System am stärksten zu einer Festung ausgebaut und sein Zerfall am stärksten verhindert. Ohne das kapitalistisch-hegemoniale System richtig zu verstehen, kann auch die Türkei nicht verstanden werden. Diese Logik ist auch in der entgegengesetzten Richtung gültig. Eine universelle Lösung auf Ebene des Systems stellt eine Lösung für die Türkei dar. So lässt sich auch die Völkermordpolitik überwinden.«

Widerstand ist möglich

So alt wie der Imperialismus des deutschen Nationalstaates ist auch der Widerstand gegen ihn. Die historische Widerstandstradition der deutschen Gesellschaft wird seit mehreren Jahrzehnten durch Zugewanderte aus der ganzen Welt bereichert. Eine besonders aktive demokratische Kraft stellen die hunderttausenden Kurdinnen und Kurden dar, deren Lebensgrundlage mit deutschen Waffen in Kurdistan zerstört wurde und die sich gezwungen sahen, nach Deutschland zu fliehen. Die Annäherung der deutschen und kurdischen demokratischen Kräfte ist Jahrzehnte alt und hat sich seit dem Kobanê-Widerstand 2014/2015 deutlich verstärkt. Heute wird oft sehr eng zusammengearbeitet. Die gemeinsamen Widerstandserfahrungen der letzten Jahrzehnte sind eine sehr gute Grundlage, um einen notwendigen nächsten Schritt zu gehen: einen strategisch ausgerichteten gemeinsamen Widerstand gegen deutschen Imperialismus – und zwar von Deutschland aus. Der Widerstand gegen imperialistische Mächte wird im Mittleren Osten und insbesondere in Kurdistan mit aller Intensität und großer Selbstlosigkeit geführt. Die zehntausenden Gefallenen und Verletzten sind der deutlichste Beweis dafür. Es gilt, diesen erbitterten Widerstand durch einen ebenso umfassenden und entschlossenen Widerstand im Herzen des deutschen Imperialismus zu ergänzen. Damit geht auch die Notwendigkeit für alle demokratischen Kräfte in Deutschland einher, ihre bisherige Praxis zu hinterfragen und neue Strategien und Taktiken zu entwickeln. Für die kurdischen demokratischen Kräfte in Deutschland wird das u. a. bedeuten, der Bevölkerung des Landes noch klarer zu machen, wie der andauernde Völkermord in Kurdistan und der deutsche Imperialismus zusammenhängen. Die kurdischen demokratischen Kräfte werden einen Widerstand entwickeln müssen, der noch stärker auf Institutionen und Vertreter des deutschen Imperialismus abzielt. Auch die deutschen demokratischen Kräfte stehen vor Herausforderungen: Es gilt für sie, ein realistisches Bild der strategischen Linie ihres Staates und flexiblere und kreativere Protestformen zu entwickeln, aber auch ihre Bereitschaft zu verstärken, für ihren Protest einen ggf. hohen Preis zu zahlen. Letztendlich wird ein bundesweites Bündnis aller demokratischen Kräfte Deutschlands – ob kurdisch, deutsch, arabisch, armenisch, türkisch etc. – notwendig sein, um eine strategische Antwort auf die imperialistische Politik »neuer deutscher Verantwortung« geben zu können. Dieses Bündnis kann auf den umfangreichen Erfahrungen aufbauen, die kurdische, deutsche und andere demokratische Kräfte im Lokalen durch den gemeinsamen Widerstand der vergangenen Jahre gewonnen haben – und das Spektrum der Zusammenarbeit deutlich erweitern. Viele gesellschaftliche Gruppen und Organisationen haben heftige Kritik an deutschen imperialistischen Bestrebungen. Gelingt es der kurdischen Bewegung, anderen migrantischen antisystemischen Gruppen, feministischen Strukturen, Gewerkschaften, antifaschistischen Gruppen, der Ökologiebewegung, Stimmen aus der Kirche, den Jugendorganisationen und demokratischen Stimmen der Parteien etc. im groben Rahmen ein gemeinsames Verständnis für die Politik des deutschen Staates und die Notwendigkeit eines starken gesellschaftlichen Widerstandes zu entwickeln, werden sie auf dieser Grundlage zusammenkommen und praktische Schritte in Richtung eines gemeinsamen bundesweiten Bündnisses gehen können. Dieser historischen Verantwortung gerecht zu werden und damit großen Schaden von der deutschen Gesellschaft und den vom deutschen Imperialismus betroffenen Völkern abzuwenden, muss jede ernstzunehmende demokratische Kraft bestrebt sein.

Fußnoten:

1 - https://www.dw.com/de/merkel-will-schutzzone-f%C3%BCr-idlib/a-52663236

2 - https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/sicherheitskonferenz-startet-mit-grundsatzrede-steinmeiers-li.76085-mit-grundsatzrede-steinmeiers-li.76085

3 - https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/von-der-leyen-europa-muss-auch-die-sprache-der-macht-lernen-16475803.html

4 - Die Zahlen stammen aus einem sehr lesenswerten Hintergrundartikel: https://www.jungewelt.de/artikel/372725.eu-r%C3%BCstungspolitik-milliarden-f

5 - https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8075/

6 - Das Buch verfasste Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı, die im Marmarameer unweit von Istanbul liegt. Es erschien im Jahr 2011 auf Türkisch. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor. Auf Deutsch lautet der Titel des Buches in etwa Die kurdische Frage und die Lösung der Demokratischen Nation.