Eine Kriegsorganisation, die sich Regierung nennt

Der Fahrplan des chronischen Putsches

Interview mit dem HDP-Ehrenpräsident Ertuğrul Kürkçü

Im Jahr 2017 erfolgte ein Verfassungsreferendum, welches die Türkei weitreichend umgestaltete. An die Stelle einer parlamentarischen Demokratie mit einem starken vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten trat ein Präsidial­system, in dem der türkische Präsident umfangreiche exekutive Vollmachten erhält. Über die aktuell verbliebene Bedeutung des türkischen Parlaments, von der AKP gestreuten Gerüchten über einen angeblich bevorstehenden Putsch der Opposition und die aktuelle Diskussion um vorgezogene Neuwahlen führten wir ein Gespräch mit dem Ehrenpräsidenten und Parlamentsabgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Ertuğrul Kürkçü.

Die Samstagmütter forderten auf ihrer 756 Kundgebung Gerechtigkeit für den Kommunalpolitiker Abdülmecit Baskin, der am 2. Oktober 1993 in Ankara ermordet wurde. | Foto: anfMit Blick auf die kürzlichen Geschehnisse in der Türkei – wie charakterisieren Sie die Krise, die mit dem Wechsel des »präsidialen Regierungssystems« genannten Präsidialsystems begonnen hat?

Selbstverständlich ist es die Krise der herrschenden Klasse. Der zentralistische Aufbau der Türkei wird durch die neue Welle des Widerstands durchbrochen, die sich insbesondere durch einen breiten Volksblock rund um die HDP gebildet hat und grundlegend an der Architektur des Regimes rüttelt. Das »präsidiale Regierungssystem« ist zur Verteidigung des Regimes entwickelt worden, und es ist, aus jeder möglichen Perspektive betrachtet, eine Diktatur à la Türkei.

Während der Umgestaltung der Verfassung hatte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli ohne jegliche Bedenken folgendes gesagt: »Dieser Präsident begeht täglich Verbrechen. Da es im Rahmen der Verfassung nicht möglich ist, das Präsidialamt ohne die Begehung von Straftaten auszuüben, muss der Präsident entweder die Straftaten unterlassen, oder wir müssen die Verfassung den Gegebenheiten anpassen. Falls er einen entsprechenden Plan hat, soll er damit herausrücken.« Zusammenfassend kann gesagt werden, dass diese Worte Bahçelis ganz klar den der Verfassung von 1982 widersprechenden Aufstieg einer Verbrecherorganisation an die Macht in Worte fasst. Es bedeutet also, dass das Regime auf gänzlich illegitime Weise die Verfassung seiner illegalen Praxis angeglichen hat.

Einer der wichtigsten Gründe für die Entwicklung des Regimes zu seiner aktuellen Gestalt ist die Vereinigung oppositioneller demokratischer Kräfte der kurdischen und türkischen Gesellschaft in einem Block um die HDP. Der Aufstieg dieses dritten Pols in einem Herrschaftssystem, das nur auf zwei politische Richtungen ausgelegt war, führte zu einer Disfunktionalität der herrschenden Ordnung. Auch der derzeitigen Krise liegt der Umstand zugrunde, dass dieser dritte Block um die HDP sich in der Politik der Türkei seinen legitimen Platz geschaffen hat, was das Regime als illegal darzustellen versucht und entsprechend kriminalisiert.

Dem Parlament wurde durch die Dekrete des Präsidialamts das Recht zur Gesetzgebung geraubt. Was vertritt das türkische Parlament denn, wenn die Grenzen der Gewaltenteilung nicht mehr eindeutig erkennbar sind?

In seiner jetzigen Form ist das Parlament ein Torso und dient dem Regime dazu, sich auf internationaler Ebene nicht als Diktatur abstempeln zu lassen. So wie sich Verfassung und Demokratie in der Türkei entwickelt haben, hat ein Parlament ohne Haushaltsbefugnis seinen Namen nicht verdient. Sogar die osmanische Verfassung von 1876 gab dem damaligen Abgeordnetenhaus weit mehr Rechte. Es war das Zentrum des gesellschaftlichen Willens, der dem Absolutismus die Macht entrissen hatte. Dieses Haus hat es geschafft, nach dem 1. Weltkrieg mit seinen übrig gebliebenen Fraktionen einen Befreiungskrieg aufzunehmen und der Besetzung ein Ende zu bereiten. Daher nannte es sich selbst das Invalidenparlament. Nun ist es aber ein Parlament der leeren Plätze. Der einzige Grund, weshalb es derzeit immer noch existiert und nicht aufgelöst wurde, ist, zu verschleiern, dass es sich bei der Türkei um eine Diktatur handelt.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Gesellschaft sich nicht als Ganzes diesem Regime ergeben hat. Oppositionelle Dynamiken sind noch immer sehr aktiv. Seine Majestät [Tayyip Erdoğan] braucht das Parlament, um diese Kräfte daran zu hindern zu einer revolutionären Opposition heranzuwachsen. Es dient dazu, der Gesellschaft vorzugaukeln, politische Parteien hätten noch immer eine Funktion, ein Relikt aus der alten Verfassung.

Die Missstände bedeuten jedoch nicht, dass die Vertretungs- und Tätigkeitsbefugnisse für Abgeordnete abzulehnen sind. Es wäre ein Irrsinn, eine Möglichkeit unsere Stimme zu erheben nicht wahrzunehmen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass das Schicksal der Türkei nicht im Parlament bestimmt wird. Für die Mächtigen ist es im Palast1 und für die Opposition in der Gesellschaft zu finden. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Blöcke wird die Zukunft der Türkei bestimmen.

Dieses neue Regime ist ein Kriegsapparat

Erdoğan ist nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Parlament 2015 eine Allianz mit der MHP eingegangen. Was verbindet diese Allianz?

Zunächst ist die Vorgeschichte dieser Allianz zu betrachten. Das Auftreten der HDP ist in der Phase der Friedensverhandlungen von 2013 bis 2015 vorangeschritten. Die herrschenden türkischen Klasse sind in dieser Phase mit der Möglichkeit konfrontiert worden, dass das Ergebnis dieser Gespräche eine neue gesellschaftliche Machtverteilung bedeuten konnte. Sie haben entschieden, dass ein solches Resultat nicht tragbar ist, und erkannt, dass der Frieden teurer ist als der Krieg und ihre Vormachtstellung in Wirklichkeit auf Türkentum und türkischen Nationalismus gegründet ist. Der türkische Zentralstaat in seiner jetzigen Form war in Gefahr. Als sie feststellten, dass eine unabhängige Volksvertretung das Ende ihrer zentralen Machtposition bedeutet, haben sie eine Wende vollzogen. Entsprechend bildete sich daraus das neue Regime des Kriegs­apparates.

Dieses neue Regime ist ein Kriegsapparat. Es ist ein Mechanismus des Angriffes, des Krieges der herrschenden Nation gegen die unterdrückte Nation, des Krieges des Mannes gegen die Frau, des Krieges des Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse, des Krieges des sunnitischen Staates gegen andere Glaubensrichtungen und Religionen und des Krieges des Kapitals gegen die Natur. Die jetzige Regierung ist ein Bürgerkriegsapparat. Nur auf diese Weise ist sie zu beschreiben. Entfernt man die Dekoration, dann erkennen und fühlen wir es tagtäglich. Das Regime führt seinen Krieg in einer bestimmten Reihenfolge, nach einer bestimmten Dringlichkeit. Das Vorgehen ist vergleichbar mit dem Militärputsch vom 12. September 1980, nur streckt das aktuelle Regime seinen Krieg gegen die Bevölkerung über einen längeren Zeitraum. Seine Feinde und die Kräfte, die es vernichten oder unterwerfen will, kommen der Reihe nach dran. Dabei fühlte sich das bestehende Regime bislang unbesiegbar, aber langsam gibt es Zweifel.

Der angebotene und dann doch nicht vollzogene Rücktritt des türkischen Innenministers Soylu anlässlich der Corona-Krise gab uns zu erkennen, dass Erdoğan einen Zusammenbruch der Allianz nicht in Kauf nehmen würde. Wann wurde diese Allianz gegründet und wie arbeitet sie?

Diese Allianz hat sich im Grunde vor 2015 zusammengetan. Während der Alleinherrschaft der AKP wurde die Macht mit der Fethullah-Gülen-Bewegung geteilt. Nach dem Zusammenbruch dieser Allianz infolge interner Auseinandersetzungen, hat sich Erdoğan nicht wie angenommen erst mit der MHP, sondern im Gegenteil mit den Kräften der Ergenekon2 zusammengetan. Diese Allianz war jedoch nicht ausreichend. Die folgende Allianz mit der MHP ist erst zustande gekommen, als Erdoğan bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 seine Quittung bekommen hat. Der wichtigste Punkt dieser neuen Allianz war die Unterwerfung der kurdischen Freiheitsbewegung. Mit der Logik, den Norden Kurdistans nicht beherschen zu können, ohne das gesamte Kurdistan zu beherrschen, führt die Türkei weiterhin ihre Angriffe auf Nordsyrien fort.

Die internationale Weltlage half teilweise dabei, zum Beispiel die Zustimmung der USA für einen militärischen Angriff der AKP und ihrer dschihadistischen Verbündeten auf Nordsyrien, wodurch die Kurden und Kurdinnen und alle Teile Kurdistans einem regelrechten Massaker ausgeliefert wurden. Das war jedoch noch nicht alles. In Wellen versuchte die Türkei in das politische Vakuum der arabischen und islamischen Welt einzudringen. Die sich sonst üblicherweise einmischenden ausländischen Mächte versahen diesmal die Türkei mit der Rolle eines imperialistischen Staates. Sie drängten die türkische Regierung zu Invasion und Intervention, welche jedoch am Ende das von den ausländischen Mächten vorgesehene Maß überschritten haben.

Die aktuellen Ereignisse zeigen jedoch die Aussichtslosigkeit auf, in der sich diese Allianz befindet. Das Vorgehen Süleyman Soylus und was darauf folgte haben uns gezeigt, dass diese Allianz dazu verdammt ist, nicht auseinander zu brechen. Denn durch den Zerfall dieser Allianz würde eine große gesellschaftliche Opposition voranschreiten, die auf friedliche Mittel setzt. Dann könnten sich die Mächtigen nicht mehr halten und die bestehenden Verhältnisse würden sich auflösen. Da sie sich von Krieg ernähren, sind AKP und MHP auf ein tägliches Miteinander angewiesen, um ihn weiterzuführen. Es ist eine auf Verbrechen ausgelegte Allianz, eine Verbrecherorganisation. Als eine gegen das Volk gerichtete Kriegsorganisation ist sie dazu verurteilt, ihre eigenen internen Kämpfe und Ausgrenzungen beiseitezulegen.

Wir sehen zum anderen, dass die wirtschaftliche Krise im vollen Gange ist und sich die vier Reiter der Apokalypse quasi auf den Weg nach Ankara gemacht haben. Krieg, Hunger, Krankheit und Tod bedrohen auf jede mögliche Weise die Gesellschaft in der Türkei, und das Kriegsbündnis namens Regierung ist nicht in der Lage dagegen anzukommen, denn es ist selbst die Quelle dieser Bedrohung. Der Gedanke, dass die Gesellschaft sich nur von diesem Unheil befreien kann, wenn sie sich von diesem Regime befreit, findet immer mehr Anklang. Das kann so gesagt werden. Es ist für die Opposition von enormer Bedeutung, dass zukünftige Planungen in diese Richtung stattfinden. Es wäre sehr schön, wenn diese Ideen den Sieg davon tragen.

Wir erkennen jedoch, dass in der İYİ Parti3, die der Volksallianz unter Führung der AKP angeblich entgegensteht, anderes Gedankengut vorherrscht. Es entgeht uns nicht, dass sie die HDP ausgegrenzt hat, damit sich kein breiter Volksblock etabliert und dass sie dem Regime beim Überleben hilft, um sich den Segen der Machthaber nutzbar zu machen. Wir können aber sagen, dass dieses Wasser des Lebens, das die İYİ Parti dem Regime reicht, der Schierlingsbecher ist. Sowohl für den, der ihn reicht als auch für den, der ihn trinkt. Sie werden alle von ihren Machtposten herabstürzen. Diese Welle mag erst im Entstehen sein, sie mag noch nicht sehr groß erscheinen, aber ich denke nicht, dass irgendjemand diese Welle am Horizont noch nicht bemerkt hat. Denn wenn es nicht so wäre, dann hätte das Regime nicht diese Armee des Lumpenpacks gegen das Volk mobilisiert und mit einer geheimen Amnestie freigelassen. Bahçeli hätte die AKP nicht zu diesem Schritt bewegen können.

Keine Zeichen einer Putschvorbereitung zu erkennen

Erdoğan, Bahçeli, Kılıçdaroğlu4 und Davutoğlu haben nacheinander Erklärungen abgegeben, sie seien gegen Putsche. Gibt es Vorbereitungen eines Putsches oder will die AKP ihren Niedergang mit einem Putsch in Verbindung bringen?

Ich sehe keine Anzeichen einer Putschvorbereitung. Die AKP betrachtet mit großer Angst die wachsende Opposition, mit der sich die Gesellschaft ihre eigene Führung gibt und sich nach ihren eigenen Vorstellungen entwickelt. Sie erinnern lauthals an das Szenario des 15. Juli 2016. Der einzige echte Putschist in der Türkei ist die AKP, ist Erdoğan. Für jeden einzelnen Schritt zur Festigung seiner Herrschaft hat er geputscht.

Lassen Sie uns im Einzelnen rekapitulieren:

  • Obwohl nach den Wahlen vom 7. Juli 2015 eigentlich die CHP das Mandat zur Regierungsbildung hätte erhalten müssen, sollte der damalige Ministerpräsident Davutoğlu eine Kriegsregierung aufstellen, was ein Putsch gegen die Verfassung war. Wir haben das schon damals gesagt.
  • Die Neuwahlen vom 1. November 2015 unter ständigen bewaffneten Einschüchterungen waren die Weiterführung dieses Putsches. Auch das haben wir damals so benannt.
  • Die dahingehende Verfassungsänderung, dass der gewählte Präsident gleichzeitig Vorsitzender seiner Partei bleiben kann, ist genauso ein Putsch wie das Zählen ungültiger Stimmzettel.
  • Der Putsch vom 15. Juli 2016 unter der Aufsicht der AKP selbst ist ein Putsch dieser Partei. Der Aufstand vom 15. Juli ist eine Karikatur eines Putsches, um dem eigentlichen Putsch der AKP den Weg zu ebnen.
  • Der eigentliche Putsch fand am 20. Juli 2016 vor den Augen der gesamten Welt statt, als der Ausnahmezustand ausgerufen wurde.

Die Schritte, mit denen Erdoğan an die Spitze des Regimes aufstieg, folgten einander wie Nachbeben eines großen Erdbebens. Die jeweils nachträgliche Einholung des Einverständnisses der Öffentlichkeit vor oder nach jedem dieser Putschschritte, kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen. Ganz im Gegenteil ist es nicht die Verhinderung, sondern der Beweis für einen Putsch, wenn die Opposition unter Druck gesetzt wird, das Wahlrecht ständig geändert wird und der Staat gegen das Volk »wählt«. Die Einwilligungen zu den verschiedenen Schritten wurden de facto unter Ausübung von Gewalt eingeholt.

Das derzeitige Gerede über die Hintergründe eines bevorstehenden neuen Putsches können wir folgendermaßen deuten. Die große Ungewissheit und das Chaos, das am Horizont für die Türkei erkennbar ist, sollen den Putsch des Palastes rechtfertigen. Die natürlichen legitimen Aktivitäten der gesellschaftlichen Opposition werden unter Putschverdacht gestellt, um weiteres autoritäres Vorgehen der Regierung mit der angeblichen Putschabwehr gegen die Opposition zu begründen. Die AKP hat kein Recht dazu, sich über einen Putsch zu beschweren. Sie ist heute in der Türkei die einzige Kraft, die die reale Möglichkeit zu einem Putsch hat. Der bisherige Ablauf kündigt im Grunde genommen einen weiteren Putsch der AKP an. Die Bevölkerung darf sich dadurch nicht einschüchtern und zurückdrängen lassen, sie muss ihren Kampf weiterführen und den Putsch der AKP enttarnen. Sie muss sich so schnell wie möglich vom Schatten der Angst lösen.

Die HDP ist die erste Wahl, insbesondere für das kurdische Volk

Es gibt anscheinend Diskussionen über »vorgezogene Wahlen«. Ist die HDP bereit für eine Wahl und erwarten Sie »vorgezogene Wahlen«?

Seit den letzten Wahlen sind keine zwei Jahre vergangen, und die Erwägung »vorgezogener Wahlen« aus den Kreisen der AKP und MHP zeigt vor allem, dass die Allianz um den Palast die schwindende gesellschaftliche Unterstützung spürt.

Andererseits deuten alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Anzeichen darauf hin, dass die Regierung in der zweiten Jahreshälfte 2020 und 2021 einem starken wirtschaftlichen Einbruch, der Verdoppelung der Arbeitslosigkeit, dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit bis an die 40%-Marke und einem massiven Anstieg der Armut gegenübersteht.

Und da derselbe Druck auf der Weltwirtschaft lastet, ist der einzige Weg zur Überbrückung des fehlenden Kapitals ein Unterstützungsgesuch beim IWF oder eine innerstaatlich breit angelegte Verstaatlichung und Enteignung konkurrierender Kapitalgruppen. Dazu müssen aber die werktätigen Klassen kontrolliert und ihre politischen Rechte eingeschränkt werden.

Wenn im kommenden Herbst keine vorgezogenen Wahlen stattfinden, wird sich der sichtbare Absturz der gesellschaftlichen und politischen Unterstützung des Regimes in der Bevölkerung in das Jahr 2021 verschieben. Das Regime mag die Wahlen auf 2020 oder 2021 vorziehen. Um als Sieger hervorzugehen, muss es die Voraussetzungen für die Präsidentschaftswahlen ändern. Dazu müssen die Verfassung und das Wahlrecht geändert werden, und das ist in 2020 nicht mehr möglich. Auch bei einer Änderung im Jahr 2021 stehen die Chancen schlecht, dass es gebilligt würde. Ohnehin sieht es nicht danach aus, dass das Regime bei einer »Wahl« ohne die Ausübung politischer Gewalt und ohne innere Spannungen Chancen auf Erfolg hätte.

Ungeachtet dessen ist die HDP immer dazu bereit, überall dort, wo wir das Wort ergreifen und die Hoffnung schüren können, den politischen Kampf weiterführen. Wir arbeiten unter Berücksichtigung aller Eventualitäten weiter am Ausbau der Basis der »demokratischen Allianz« für einen demokratischen Wandel.

Die HDP ist insbesondere für das kurdische Volk die erste Wahl und hat auf der politischen Landkarte der Türkei eine strategische Position erlangt, durch die sie eine Schlüsselrolle für alle möglichen Regierungskonstellationen einnimmt. Wenn die Regierung keine Nuklearwaffe entwickeln kann, die nur die HDP trifft, dann folgt daraus in der Logik der Geschichte der Türkei, dass ein Weg eingeschlagen werden muss, der sich aus der Kraft und den Forderungen der HDP ergibt.

Während wir dieses Interview führen, ist die Nachricht eingegangen, dass die von der HDP geführten Kommunalverwaltungen in Reşqelas (Iğdır), Sêrt (Siirt), Hawêl (Baykan), Misirc (Kurtalan) und Vartnîs (Altınova) unter Zwangsverwaltung gestellt worden sind. Haben Sie das erwartet? Steht die Politik der sieben eingesetzten Zwangsverwalter in Verbindung mit dem Vernichtungsplan, der nach dem Ende Juli geführten Gespräch zwischen Baykal und Erdoğan auf die Tagesordnung gebracht wurde und anschließend Razzien mit sich brachte?

Ja, die Ereignisse stehen tatsächlich in Verbindung zueinander. Der als »Vernichtungsplan« bezeichnete Fahrplan wird Schritt für Schritt umgesetzt. Dieser Fahrplan zeigt den Weg des chronischen Putsches der AKP. Leider sehen wir diesen Plan nicht vollständig, sondern nur die durchgesickerten Teile. Doch diese lassen darauf schließen, wie der Rest aussehen könnte, und die Einrichtung von Zwangsverwaltungen in den von der HDP geführten Kommunen gehört dazu.

In verschiedenen Belegen, die wir zwischen 2016 und 2018 zu unterschiedlichen Anlässen im Parlament vorgelegt haben, steht unter anderem folgendes: »Die Auflösung des Kaders der besagten Partei und der Verwaltungen der von ihr geführten Kommunen hat höchste Priorität. Die Kommunalverwaltungen sind den Handlangern der Terrororganisation zu entreißen und der Aufsicht unseres Staates zu übergeben.«

Der zitierte Beleg ist aus dem Jahr 2014. Die erste Umsetzung fand zwischen 2015 und 2016 statt. Es waren Maßnahmen, die im Rahmen der Gesetze zur inneren Sicherheit erfolgten. Während des Ausnahmezustands und nach dessen Aufhebung gab es keine einzige von der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) geführte Verwaltung mehr, die nicht der »Aufsicht des Staates« untergeordnet wurde. Die Angriffe auf die Immunität der HDP-Abgeordneten in der Nationalversammlung und somit auf den Willen der Wähler*innen, wurden auf regionaler Verwaltungsebene durch die Zwangsverwaltungen als Putsch gegen den kurdischen Volkswillen fortgeführt.

Nach der Aufhebung des Ausnahmezustands hat das kurdische Volk bei den Kommunalwahlen vom 31. März 2019 erneut seinen Willen gezeigt. Trotz aller Repressalien wurden 73 Verwaltungen den Zwangsverwaltern entrissen. Acht der Gewählten wurden trotz ihres passiven Wahlrechts per Entscheidung der Hohen Wahlkommission nicht in ihre Ämter gelassen mit der Begründung, sie seien per Dekret vom öffentlichen Dienst suspendiert. Und in 45 der 65 Verwaltungen, die wir führten, wurden mittlerweile Zwangsverwalter eingesetzt.

Wie auch immer wir es betrachten, dieser Vernichtungsfeldzug ist immer noch im Gange. Der Volkswiderstand, der demokratische Widerstand, Wahlen, die internationale Konjunktur, interne Rivalitäten, alte Rechnungen, unerwartete Entwicklungen und vor allem die diplomatische Isolation der Türkei werden dazu führen, dass dieser Plan nicht wie erwartet umgesetzt werden kann.

Interne Konflikte im Palast führen dazu, dass der Plan von Zeit zu Zeit geändert oder auch durchkreuzt wird. Er wird aber weiterhin umgesetzt und ist wie eine Schablone, die den Weg zur Diktatur zeigt. Wie ich vorhin schon gesagt habe, sind die neu eingesetzten Zwangsverwalter einmal mehr eine Bestätigung für das Vorhandensein einer Kriegsorganisation, die sich Regierung nennt, und für deren strategischem »Vernichtungsplan«.

Das trifft nicht nur die Kurden und Kurdinnen, sondern auch die Arbeiterklasse, die Frauen und die urbane Bevölkerung. Es ist der Plan einer Diktatur, dem wir gegenüberstehen, der einzig auf Gewalt und Kontrolle beruht, den Ausbau eines autoritären Regimes umfasst und alle gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Form der Autokratie infrage stellen, zertritt.


Fußnoten:

1 - Amtssitz des türkischen Präsidenten in Ankara

2 - Ergenekon ist eine mafiöse Struktur innerhalb der staatlichen und ökonomischen Strukturen, die im Hintergrund versucht, politische und ökonomische Entscheidungen zu bestimmen. Oft auch »Tiefer Staat« genannt.

3 - »Gute Partei«: Die Gründung erfolgte 2017 als Abspaltung der MHP.

4 - Vorsitzender der kemalistischen CHP