Der Anschlag in Hanau: Rassismus tötet – überall

Gegen das Vergessen – Warum?

Dîlan Karacadağ, Journalistin


Vier Monate nach dem rassistischen Anschlag von Hanau ist in Frankfurt am Main ein Wandbild in Gedenken an die Opfer eingeweiht worden. | Foto: Dîlan Karacadağ | YÖPAm 19. Februar 2020 wurden beim rassistischen Anschlag in Hanau neun Menschen ermordet. Täglich schreibe ich diesen Satz, aus verschiedenen Gründen: Berichterstattung, Teilen von neuen Erkenntnissen auf Twitter, Mittwochs: der Tag des Attentats und jeden 19. des Monats. Alle Gründe haben den gemeinsamen Nenner: Gegen das Vergessen. Der Tod schmerzt, das Leid belastet die Menschen. Trotzdem dürfen wir Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu nicht vergessen. Und warum? Ich habe die Tatorte in Hanau mehrere Male besichtigt, sie betrachtet und möchte über meine Erkenntnisse berichten, und den Grund erläutern, warum sie nicht vergessen werden dürfen.

In den Wochen nach der Tat haben sich die Hinterbliebenen, Angehörige der Opfer, antirassistische Aktivist*innen und solidarische Hanauer zusammengetan und die »Initiative 19. Februar Hanau« gegründet: Ein Ort gegen das Vergessen. Ein Gedenkort, ein Ort für Aktivismus, ein Ort für Familien, die zusammenkommen, sich stärken und beraten werden wollen. Ein Ort, sowohl zum Weinen als auch zum Kämpfen. Ein 140 Quadratmeter großer Laden mit einem großen Schaufenster, in dem Fotos der Opfer zu sehen sind. Wenn man in den Raum kommt, gibt es am Eingang eine Sitzbank am Schaufenster. Etwas weiter stehen Tische, an denen sich in Gruppen austauscht oder gearbeitet werden kann. Auch gibt es im Raum eine Gedenkecke mit Blumen, Kerzen und Fotos und eine Pinnwand mit Fotos vom Aufbau, vom Gedenken oder von sonstigen Aktivitäten. Es gibt eine Küche, in der es immer etwas zu essen gibt und ein Büro für den juristischen Kampf oder die üblichen Büroarbeiten. Der Ort bietet auch Beratung an und vermittelt Anwälte an Angehörige. Aber er ist auch ein zweites Zuhause. »Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, bei meinem Bruder zu Besuch zu sein«, sagt Çetin, der Bruder von Gökhan Gültekin. Dieser Raum bringt Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und aus unterschiedlichen Gründen zusammen. Meistens passiert vieles parallel.

Dieser Raum ist offen für alle, die sich mit den Angehörigen der Opfer solidarisch zeigen wollen. Beim Reinkommen wird nicht gefragt, wer man ist. Man begrüßt sich einfach.

Das Versagen der Behörden

Drei Monate nach dem rassistisch motivierten Anschlag sitzt der Schmerz bei den Angehörigen zwar noch tief, doch sie sind stärker als zuvor. Denn sie haben ein gemeinsames Ziel: Aufklärung. Viele Fragen sind offen. Der rechtsextreme Täter Tobias Rathjen war bereits vor dem Anschlag in Hanau mit rassistischen und bewaffneten Drohungen aufgefallen. Tobias Rathjen soll bereits im Jahr 2000 während einer privaten Feier in Hanau mit einem Schwarzen Menschen gestritten und ihm schließlich mit einer Pistole gedroht haben. Es heißt, die Polizei sei gerufen worden, habe sich aber nicht für den Streit und die Pistole interessiert, nur für den Cannabis-Konsum einiger Gäste.

Weitere Warnsignale und Versäumnisse gab es auch 2017. Acht Jugendliche, die von Tobias Rathjen bedroht wurden, haben den Fall gemeldet und ausgesagt. Armin Kurtović, der Vater von Hamza Kurtović erklärt, dass weder die Aussagen richtig aufgeschrieben wurden, noch eine Ermittlung eingeleitet wurde. Im Mai 2018 gab es den Vorfall am Juz in Kesselstadt. Jugendliche haben gegenüber der Frankfurter Rundschau1 detailliert beschrieben, wie sie das Geschehen erlebten: Demnach sei ein vermummter Mann aus dem Gebüsch gekommen und habe sie rassistisch beleidigt. Er habe mit einem Sturmgewehr auf sie gezielt. Sie sollten abhauen, sonst gebe es Tote. Die Jugendlichen alarmierten die Polizei, die den Mann nicht mehr antraf, hätte dann auch nicht nach ihm gesucht. Stattdessen sollen die Beamten gleich gefragt haben, wer angerufen habe und somit den Einsatz bezahlen müsse.

Fragen wirft auch der Umgang des Generalbundesanwalts mit der Strafanzeige auf, die er von Tobias Rathjen am 8. November 2019 erhielt. In der 19-seitige Anzeige von Rathjen ist die Rede von der Vernichtung bestimmter Nationalitäten, darunter sind auch die der in Hanau ermordeten Opfer.

Es ist gut nachvollziehbar wenn Çetin, der Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin sagt: »Hätten die (Ämter und Behörden) ihre Arbeit richtig gemacht, wäre mein Bruder noch am Leben.«2

Warum musste Vili sterben?

Am 14. Mai sind die Angehörigen der Opfer nach Wiesbaden gekommen, weil viele Fragen noch offen waren. Nach überwiegend unbeantwortet gebliebenen Fragen war die Aktion beendet. Den Angehörigen stand der Frust ins Gesicht geschrieben. Eine wesentliche Information kam aus der Sicht von Familie Păun. Niculescu Păun, Vater des ermordeten Vili Viorel Păun berichtet, er habe das Handy seines Sohnes erhalten. In einem Interview mit dem ZDF3 zeigt Niculescu Păun das Handy von seinem Sohn. Darauf ist zu erkennen, dass Vili Minuten vor der Tat am 19. Februar vier Mal versucht hat, die Polizei zu erreichen, die er jedoch nicht erreichen konnte. Wie üblich ist es, dass die Polizei unter dem Notruf 110 nicht zu erreichen ist – und das vier Mal in fünf Minuten? Vili Viorel hat im Fall Hanau eine besondere Geschichte: Am 19. Februar um 21.56 Uhr ruft Vili die Polizei vier Mal hintereinander an. Anscheinend, weil er den Täter sah! Tobias Rathjen hat vor dem ersten Tatort am Heumarkt auf ihn – das heißt, auf das Auto, in dem Vili saß – geschossen. Vili ist trotzdem dem Täter gefolgt. Auf den Bildern der Überwachungskameras ist zu sehen, wie Vili rückwärts fährt. Der Täter rennt in den Kiosk von Kemal Kocak. Vili fährt mit dem Auto hinterher. Der Täter schießt in Kemals Kiosk, kommt dann raus, steigt in sein Auto, und Vili folgt ihm. Vili fährt dem Täter bis zum zweiten Tatort hinterher, obwohl auf sein Auto geschossen wurde ... Dort wurde er ermordet. Hierzu müssen noch diese Fragen beantwortet werden: Hätte Vili überleben können, wenn die Polizei seinen Notruf angenommen hätte!? Eins ist klar: Vili ist gestorben, weil er Courage zeigte! Wenn der Tod des einzelnen Opfers vergessen wird, werden weitere Attentate unaufgeklärt bleiben.

»Tot sind wir erst ...«

Die NSU-Morde sollten uns eins lehren: Die Ämter und Behörden versuchen alles, um die Zusammenarbeit mit Nazis/Rassisten zu decken. Immer wieder tauchen Berichte auf, Polizistinnen und Polizisten kooperieren mit oder beteiligen sich in rassistischen Organisationen. Die Aufdeckung solcher Zusammenarbeit braucht einen langen harten Kampf, der nur geführt werden kann, wenn die Namen der Opfer nicht vergessen werden. Weder die Namen, noch die Tat!

»Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst«, schreibt Ferhat Unvar 2015 auf Facebook. 4 Jahre, 4 Monte und 2 Tage später wurde er mit acht weiteren Freund*innen ermordet. Die Mutter Serpil Temiz Unvar, sagt: »Mein Sohn darf nicht umsonst gestorben sein.« Dies bedeutet: Solange die Tat nicht aufgeklärt wird und die Tat als »Mord eines Einzeltäters« bewertet wird, wird es keinen Rückgang solcher rassistischen Anschläge geben und die Täter können sich auf den Schutz durch die Behörden verlassen. Alles was als Nährboden für Rassismus und rassistische Morde dient, muss aufgedeckt werden. Täter Tobias Rathjen »war kein Mitglied der AfD« – so die AfD, die wiederum von Tobias-Ähnlichen gewählt werden. Alle, die Rassismus vor allem in Parlamenten salonfähig machen, sind schuld an rassistischen Attentaten! Hanau hat viele daran erinnert, dass Rassismus tötet – und das überall. Auch in Deutschland. Für diejenigen, die schon länger hier leben, ist spätestens seit den Morden des NSU klar, dass Faschismus und Rassismus in Deutschland zutiefst verankert sind. Es braucht den Ort, die Grundlagen und den Aktivismus »Gegen das Vergessen«, damit Rassismus in Deutschland bekämpft werden kann!

Fußnoten:

1 - https://www.fr.de/rhein-main/main-kinzig-kreis/hanau-ort66348/hanau-rechtsextremer-attentaeter-schon-anschlag-auffaellig-13752901.html

2 - https://www.hessenschau.de/gesellschaft/hanau-attentat-zu-wenige-antworten-auf-zu-viele-fragen,hanau-opfer-landtag-100.html

3 - https://www.zdf.de/nachrichten/drehscheibe/drei-monate-nach-dem-anschlag-in-hanau-100.html