Die britische Gewerkschaftsbewegung kann auf eine lange Geschichte internationaler Solidarität zurückblicken

Gewerkschaften in Großbritannien und die Freiheit von Abdullah Öcalan

Interview mit Simon Dubbins, Unite the Union


Simon Dubbins, Leiter des Bereichs Internationalismus und Forschung der britischen Gewerkschaft »Unite the Union«, im Gespräch mit dem Kurdistan Report über den Einsatz britischer Gewerkschaften für die Freiheit Abdullah Öcalans.

TUC-Kongress 2019: Alle 700 Kongressdelegierten zeigen ein Plakat mit dem Gesicht von Herrn Öcalan in der Hand und verpflichteten sich zur Solidarität und zur Fortsetzung der Kampagne für seine Freiheit.Foto: https://www.freedomforocalan.org/Hallo Simon, danke für deine Zeit! Wir möchten mit Dir über die Kampagne »Freiheit für Öcalan« der Gewerkschaften in Großbritannien sprechen. In der kurdischen Gemeinschaft in ganz Europa und Kurdistan findet diese Kampagne große Aufmerksamkeit. Kannst du uns kurz die Kampagne vorstellen? Wann hat sie begonnen? Wer unterstützt sie? Und was waren die bisher wichtigsten Etappen der Kampagne?

Die Kampagne »Freiheit für Öcalan« wurde im April 2016 von zwei Gewerkschaften gestartet und wird inzwischen von den 15 größten und einflussreichsten Gewerkschaften Großbritanniens getragen. Sie wird vom gewerkschaftlichen Dachverband in Großbritannien, dem Trades Union Congress (TUC) voll und ganz unterstützt.

Die britische Gewerkschaftsbewegung kann auf eine lange Geschichte internationaler Solidarität zurückblicken. Sie stand in zahlreichen Kämpfen an der Seite vieler Völker. Sie setzte sich gegen die Apartheid in Südafrika ein, unterstütze das kubanische Volk und war in jüngster Zeit solidarisch mit dem palästinensischen Volk.

Was die Türkei und die Kurden betrifft, so hat es immer Solidaritätsbekundungen der britischen Gewerkschaften mit der kurdischen Gesellschaft und all denjenigen gegeben, die in der Türkei gegen Unterdrückung kämpfen. Aber nach den Ereignissen in Kobanê und der aktiven Unterstützung des türkischen Staates für den »Islamischen Staat« (IS) war klar, dass mehr getan werden musste.

Angesichts der sich rapide verschlechternden Lage in der Türkei, in Syrien und im gesamten Nahen Osten war man nach einigen tiefgreifenden Diskussionen der Ansicht, dass der beste Weg darin bestand, eine Solidaritätskampagne aufzubauen, die sich zentral um die Forderung nach Freiheit für Abdullah Öcalan dreht. Es war uns klar, dass viele der Konflikte in der Region mit der kurdischen Frage verknüpft sind und dass eine Lösung nur durch Verhandlungen erzielt werden kann. Der Schlüssel zur Schaffung von Frieden und zur Beendigung des Leids und Blutvergießens liegt in Verhandlungen. Solch ein Verhandlungsprozess kann nur erfolgreich sein, wenn Abdullah Öcalan frei ist und seine Rolle voll ausspielen kann. Außerdem ist es für uns auf rein humanitärer Basis äußerst entsetzlich, dass Herr Öcalan seit über 20 Jahren inhaftiert ist und davon die meiste Zeit in Einzelhaft, ohne Zugang zu den Anwälten und Anwältinnen oder der Familie, verbringen muss. Das ist eine empörende Verletzung der elementarsten Menschenrechte, die zu jedem möglichen Zeitpunkt angefochten werden muss.

Wo siehst du den bisherigen Erfolg der Kampagne? Konntet ihr mit Euren Erklärungen die breitere Gesellschaft erreichen? Und wie sieht es mit den Politikern in Großbritannien aus? Habt ihr zum Beispiel Reaktionen von der Labor Party erhalten?

Die Kampagne »Freiheit für Öcalan« ist seit ihrem Beginn 2016 immer stärker geworden und hat sich zweifellos zu einer etablierten Kampagne in der britischen Gewerkschaftsbewegung entwickelt. Wir betrachten es als wichtigen Erfolg, dass es uns gelungen ist, das Tabu um Herrn Öcalan zu brechen, und dass 15 der größten Gewerkschaften Großbritanniens und der Zentralverband die Kampagne nun aktiv unterstützen. Es war auch ein großer Erfolg, dass die Öcalan-Kampagne als internationales Thema für zwei der größten Gewerkschaftsveranstaltungen im Vereinigten Königreich ausgewählt wurde ‒ die Durham Miners Gala´ 2018, an der über 200.000 Menschen teilnahmen und die Tolpuddle Martyres-Veranstaltung 2019, an der ebenfalls Zehntausende aus dem ganzen Land zusammen kamen. Darüber hinaus veranstaltete der TUC-Kongress 2019 eine äußerst wichtige Solidaritätsveranstaltung, bei der alle 700 Kongressdelegierten ein Plakat mit dem Gesicht von Herrn Öcalan in der Hand hielten und sich zur Solidarität und zur Fortsetzung der Kampagne für seine Freiheit verpflichteten.

All dies war enorm wichtig, um das Bewusstsein zu schärfen und die Kampagne im Vereinigten Königreich aufzubauen. Aber es ist wahr, dass es noch ein sehr langer Weg ist, um weitere Unterstützung zu gewinnen. Wir wissen, dass es in der breiten Bevölkerung immer noch an Bewusstsein fehlt und dass noch viel Arbeit zu tun bleibt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass es in dieser Zeit der Corona-Pandemie sehr schwierig ist, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Menschen zu wecken. Aber wir haben keinen Zweifel daran, dass nun eine viel bessere Grundlage besteht, auf der wir aufbauen können, um so die Pläne schneller umsetzten zu können.

In der politischen Arena gibt es noch viel zu tun und wir müssen uns dem großen Problem der sehr engen wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zwischen der britischen und der türkischen Regierung stellen. Aber es ist auch klar, dass die äußerst aggressiven Militäraktionen der Türkei, ihre Unterstützung für die Dschihadisten und ethnischen Säuberungen die Dinge für die türkische Regierung erschweren. So müssen wir weiter daran arbeiten die Kriegsverbrechen der Türkei aufzudecken und gleichzeitig Unterstützung für eine Lösung des Konflikts durch Verhandlungen zu gewinnen, die Herrn Öcalan einschließt. Wir haben eine sehr gute Unterstützung von vielen Mitgliedern der Labour Party, den schottischen und walisischen Autonomiebewegung sowie der Sinn Fein im Norden Irlands. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Labour Party die Ziele der Kampagne offiziell unterstützt.

Du machst deutlich, dass Öcalan nicht nur der wichtigste politische Gefangene in der Türkei und der Repräsentant der kurdischen Gesellschaft ist, sondern dass seine Ideen und seine Vision auch für eine Demokratisierung des Nahen Ostens wichtig sind. Kannst du das etwas näher ausführen?

Es war immer klar, dass Herr Öcalan und die kurdische politische Bewegung so viele Werte mit der Gewerkschaftsbewegung gemeinsam haben, die der Inklusivität, der Toleranz, der Demokratie, der Antidiskriminierung, der Frauenrechte, des Umweltschutzes und so weiter. Dies sind genau die Werte, die Erdoğan und die Dschihadisten auszulöschen und zu zerstören versuchen. Es ist wichtig, dass wir sie in diesem kritischen Moment noch energischer vertreten. Öcalans demokratisch-konföderalistischer Ansatz bietet eine Vision davon, wie ein neu konstituierter Naher Osten für alle Gesellschaften aussehen könnte und wie der barbarischen Gewalt und dem Töten ein Ende gesetzt werden könnte.

Aber es ist von entscheidender Bedeutung, dass mehr Menschen wirklich verstehen, dass Öcalans Ideen nicht einfach nur Theorien sind, die auf dem Papier existieren. Sondern dass diese Ideen, da wo sie in die Realität umgesetzt wurden und man ihnen die Chance gegeben hat sich in der Praxis zu behaupten, bewiesen haben, dass sie funktionieren können.

Das Beispiel Nord- und Ostsyriens (Rojava) strahlt wie ein Leuchtfeuer, das mehr Menschen bewusst gemacht werden muss. Eine integrative Gesellschaft aufgebaut zu haben, die jeden ungeachtet seiner Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit oder seines Geschlechts wertschätzt, ist eine wirklich erstaunliche Leistung nach dem entsetzlichen Schaden, den der IS und seine Unterstützer der Region zugefügt haben.

Herrn Öcalans Schriften und seine Ansätze geben Hoffnung und eine Vision für eine neue Zukunft im Nahen Osten ‒ eine Zukunft frei von künstlich geschaffenen Nationalstaaten sowie Spaltungen und Hass. Stattdessen schlägt er ein System vor, in dem alle Ethnien, Religionen und Völker friedlich zusammenleben könnten. Ich denke, diese Botschaft wird immer populärer und mächtiger ‒ vor allem unter Frauen und jungen Menschen ‒ und das erklärt wahrscheinlich, warum so viele reaktionäre Kräfte so sehr versuchen das zu zerschlagen, was in Rojava aufgebaut wurde.

Kannst du uns etwas über die nächsten Schritte der Kampagne sagen? Gibt es Überlegungen, die Kampagne internationaler zu gestalten, z. B. indem man die Gewerkschaften in anderen Ländern davon überzeugt die Kampagne zu unterstützen?

Wir wollen die Kampagne im Vereinigten Königreich unter den Beschäftigten in den Betrieben und in der breiteren Öffentlichkeit weiter ausbauen und den politischen Druck aufbauen, um die britische Regierung dazu zu bewegen, die Freilassung von Herrn Öcalan zu fordern. Wir wissen, dass dies im veränderten Kontext von Covid-19 und den vielen anderen Problemen, mit denen das Vereinigte Königreich konfrontiert ist, wie z. B. der Brexit, nicht einfach sein wird, aber wir sind zuversichtlich, dass wir trotz der neuen Herausforderungen weiterhin eine breitere Unterstützung aufbauen können.

Auf internationaler Ebene konzentrieren wir uns absolut darauf zu versuchen, die Unterstützung anderer Gewerkschaftsbewegungen in Europa und darüber hinaus international zu gewinnen. Bei unserer jüngsten Online-Kundgebung erhielten wir Videobotschaften von Kollegen der französischen, italienischen und spanischen Metallarbeitergewerkschaften sowie vom Vorsitzenden des irischen Gewerkschaftsbundes und eine Unterstützungsbotschaft des südafrikanischen Gewerkschaftsbundes.

Wir haben das Thema so oft wie möglich in unseren europäischen und internationalen Gewerkschaftsverbänden zur Sprache gebracht und werden dies auch in den kommenden Monaten tun. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es bereits eine sehr große Unterstützung seitens vieler Gewerkschaftsbewegungen gibt, aber wir müssen diese Unterstützung nutzen und weiter ausbauen.


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020