Über Zarife, Leyal und Sakine zu Zehra, Hebûn und Mutter Emîne

Freie Frauen – Dornen in den Augen patriarchaler Staaten

Kampagne Women Defend Rojava


Freie Frauen – Dornen in den Augen patriarchaler Staaten Am 23. Juni 2020 führte die Türkei mit bewaffneten Drohnen einen Luftangriff auf das Dorf Helincê bei Kobanê durch. Ein bestimmtes Haus war das Angriffsziel in diesem Ort. Bei dieser gezielten Bombardierung sind drei gemeinsam im Garten sitzende Frauen ums Leben gekommen: Zehra Berkel, Hebûn Mele Xelîl und Emîne Weysî. Alle drei waren Aktivistinnen der Frauenbewegung Kongreya Star in Rojava, die ihr Leben lang für Frauenrechte und eine demokratische Gesellschaft kämpften und eine wichtige Rolle in der Revolution in Rojava spielten.

Die Rojava-Revolution, die eine demokratische, frauenbefreite und ökologische Gesellschaft anstrebt, ist eine Frauenrevolution – Frauen nehmen in ihr eine führende Rolle sowohl in der bewaffneten Verteidigung als auch in der Gesellschaft und der Umsetzung ihrer Werte ein. Sie sind ein aktiver Teil in der Gestaltung aller Lebensbereiche.

Das kurdische Volk kämpft seit Hunderten von Jahren für eine freie Gesellschaft, für Grundrechte, gegen Verleugnung und eine lange Reihe von Genoziden. An all diesen Kämpfen haben sich Frauen immer aktiv beteiligt. Es sind freie Frauen gewesen, die gegen das System, das sie zu unterdrücken versuchte, bis zum letzten Atemzug Widerstand leisteten. Sie haben sich zu keinem Zeitpunkt den Herrschenden, den Unterdrückern, gebeugt. Gerade das macht jene Frauen so gefährlich für die Herrschenden, weshalb sie gezielt angegriffen wurden. In der Geschichte gab es viele solcher Frauen.

Freie selbstbewusste Frauen im Kampf gegen Unterdrückung

Eine dieser Frauen war Zarife, die als eine der ersten Kommandantinnen Kurdistans im kurdischen Widerstand organisiert war. Sie überlebte den Qocgirî-Aufstand (1920) und organisierte den Widerstand in Dersim mit, wo sie 1938 vom türkischen Staat getötet wurde. Leyla Qasim, eine kurdische Aktivistin, die Unterdrückung und Ungerechtigkeit ebenfalls nie akzeptiert hat, wurde am 12. Mai 1974 in Bagdad vom Baath-Regime hingerichtet. Am 9. Januar 2013 wurden Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan in Paris vom türkischen Geheimdienst hingerichtet ‒ alle drei kurdischen Frauen widmeten ihre Leben dem Kampf für eine bessere Welt. Sakine Cansız hat ihr Leben lang gegen Ungerechtigkeit gekämpft, in Kurdistan, in türkischen Gefängnissen und zuletzt in Europa. 2016 wurden erneut drei Frauen ins Visier genommen: Sêvê Demir (DBP), Pakize Nayır (Ko-Vorsitzende des Volksrates von Silopiya) und Fatma Uyar (Aktivistin des Kongresses Freier Frauen, KJA) wurden gezielt von türkischen Sicherheitskräften in Silopîya in Nordkurdistan ermordet, auch sie konnten sich den Besatzern ihrer Heimat nicht ergeben. Die patriarchalen, kapitalistischen Nationalstaaten sehen freie Frauen und eine freie Gesellschaft als Bedrohung ihrer Existenz und greifen deshalb gezielt dort an, wo Alternativen geschaffen werden.

Die Angst des Staates vor der Frauenrevolution

Das demokratische System in Rojava/Nord- und Ostsyrien ist ein System, in dem alle Teile der pluralistischen Gesellschaft das Recht auf Mitsprache und autonome Organisierung haben. Die faschistische türkische AKP-Regierung fürchtet, dass das Streben nach Demokratie und Freiheit sich bis in die Türkei ausweiten und ihre diktatorische Regierungsweise in Frage stellen könnte. Deswegen greift die Türkei im Namen der »Terrorbekämpfung« Nord- und Ostsyrien an. Die gezielten Angriffe auf Frauen durch den türkischen Staat und seine dschihadistischen Söldnergruppen, welche die Türkei bei ihrer expansionistischen und illegalen Besatzung in Nordsyrien einsetzt, sind umfassend. Wir können deutlich sehen, wie der türkische Staat Femizide begeht, sowohl an Zivilistinnen in den von ihm besetzten Gebieten als auch an organisierten Frauen, an allen, die Erdoğans Regime nicht akzeptieren. Deutlich wurde dies auch am brutalen Mord an Hevrîn Xelef (auch Havrin Khalaf). Sie wurde am 12. Oktober 2019 getötet, als eine Bande von protürkischen dschihadistischen Söldnern sie im Auto überfiel und brutal ermordete. Dabei machten sie Bilder von ihrem verstümmelten Körper, den sie zuvor geschändet hatten, mit dem klaren Ziel, andere Frauen abzuschrecken. Als Generalsekretärin der Syrischen Zukunftspartei setzte sich Xelef politisch für die Demokratisierung Syriens ein.

Mit seiner aktuellen Politik nimmt der türkische Staat vor allem Frauen gezielt ins Visier, die sich organisieren, um ihre Rechte zu verteidigen. Dabei verfolgt er das Ziel, den übrigen Frauen Angst zu machen und davon abzuschrecken, sich politisch zu betätigen sowie sich zu organisieren, um patriarchale Gewalt zu überwinden.

Gezielte Ermordungen von organisierten Frauen im Kampf für Frauenbefreiung

Bei seinem letzten gezielten Angriff hat der türkische Staat drei Mitglieder der Frauenbewegung, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Frauen in Nord- und Ostsyrien sowie im gesamten Mittleren Osten einsetzten, getötet. Dies zeigt deutlich die Brutalität und Unmenschlichkeit, mit der die Türkei handelt. Alle drei Frauen stehen mit ihrer Lebensgeschichte symbolisch für die Frauenrevolution in Rojava:

Zehra Berkel kam 1987 als Kind einer aus Kobanê stammenden Familie zur Welt und studierte bis 2013 Jura in Aleppo. Sie war Koordinationsmitglied des Frauendachverbands Kongreya Star für die Euphrat-Region. Schon vor der Revolution in Rojava nahm sie trotz der Repression seitens des syrischen Baath-Regimes an der Organisierung und Bildung von Frauen teil.

Hebûn Mele Xelîl ist 1979 im Dorf Pêndir bei Kobanê geboren und aufgewachsen. Seit 2013 nahm sie an den gesellschaftlichen Arbeiten in Cizîrê teil. Als der sogenannte Islamische Staat (IS) 2014 Kobanê angriff, entschloss sich Hebûn, an der Verteidigung der Stadt mitzuwirken.
Emîne Weysî wohnte in dem Haus, das von der türkischen Drohne angegriffen wurde. Sie ist 1965 im Dorf Helincê bei Kobanê geboren und war Mutter von fünf Kindern. Ihre Tochter ist ebenfalls Mitglied in der Kongreya-Star-Koordination und war während des Angriffes in der Küche des Hauses. Emîne selbst nahm an allen Aktivitäten der Frauenbewegung teil und widmete ihre gesamte Energie der Freiheit von Frauen.

Diese zielgerichteten Drohnenangriffe, bei denen konkrete Angaben von Koordinaten genutzt werden, um punktgenau anzugreifen, zeigen ein weiteres Mal sehr deutlich, dass die Ermordung der drei Frauen vorsätzlich war und Teil des schmutzigen Krieges ist, den die Türkei gegen die Kurd*innen führt.

Die Morde an den drei Frauen in Kobanê und an Hevrîn Xelef reihen sich ein in eine lange Liste getöteter Frauen, die vom türkischen Staat ermordet wurden. Auch auf internationaler Ebene sind diese gezielten Ermordungen von organisierten Frauen im Kampf für Frauenbefreiung Teil einer langen Geschichte von Frauen, die wegen ihres Engagements durch Staaten oder durch eine nationalstaatliche patriarchale Mentalität ihr Leben lassen mussten. All diese Frauen sind Teil einer Geschichte des Widerstandes.

Sei es Rosa Luxemburg, eine Vorreiterin der Arbeiter*innen­bewegung, die von Freikorps in Berlin ermordet wurde, seien es die Mirabal-Schwestern, die von der faschistischen dominikanischen Republik wegen ihres Engagements gegen die Diktatur ermordet wurden, sei es Berta Caceres, eine honduranische Umwelt- und Landrechts-Aktivistin, die von staatlichen Kräften ermordet wurde oder die Aktivistin Daniela Carrasco, die von chilenischen Staatskräften misshandelt und ermordet wurde. All diese Angriffe auf Frauen sind keine Einzelfälle und kein Zufall.

Ziel dieser vergangenen und aktuellen Angriffe auf Politikerinnen, Aktivistinnen und Vorreiterinnen der Gesellschaft, damals wie heute, war und ist es, Frauen davon abzuschrecken, politisch aktiv zu werden. Mit diesen Angriffen wollen sie die Gesellschaft ihrer Vorbilder und damit ihres Willens berauben. Aber so, wie sie den Willen dieser freien Frauen zu Lebzeiten nicht brechen konnten, so werden sie auch künftig nicht in der Lage sein, mit den heimtückischen Morden an ihnen den Willen anderer widerständiger Frauen zu brechen. Leyla Qasim sagte schon damals folgende Worte vor ihrer Hinrichtung: »Tötet mich, aber ihr sollt wissen, dass durch meinen Tod Tausende Kurden aus einem tiefen Schlaf erwachen werden. Ich bin sehr glücklich meine Seele für den Weg zu einem freien Kurdistan zu opfern.«


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020