Die Absetzung gewählter Bürgermeister verstößt gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze

Die Gondeln von Venedig und die Absetzung der Bürgermeister

Rıza Türmen, ehemaliger Richter am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof


»ALLE ZUSAMMEN für Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, Arbeit und Brot« – Demonstration der HDP am 17.6.2020 in Istanbul. | Foto: anfEs gibt einige international anerkannte Prinzipien, die einen Rechtsstaat ausmachen. Zu behaupten, die Türkei sei ein Rechtsstaat, reicht allein leider nicht aus.

Wenn wir an Venedig denken, kommen uns die wunderschönen Kanäle der Stadt und ihre Gondeln in den Sinn. Was gibt es Romantischeres, als einen Gondoliere, der auf seiner Mandoline spielt und eine Barkarole, ein venezianisches Volkslied, singt? Doch solche sind längst nicht die einzigen Klänge, die aus Venedig erklingen.

Denn in der italienischen Stadt ist auch eine wichtige juristische Institution beheimatet: Die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) ist ein zentrales europäisches Justizorgan. Die Gutachten der Venedig-Kommission haben großes Gewicht im Europarat und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie ist zwar ein Organ des Europarates, doch ihre Gutachten verfügen durchaus auch über eine Tragweite innerhalb der Europäischen Union, insbesondere wenn es um Fragen der Menschenrechte und der Demokratie geht.

Am 18. Juni hat die Venedig-Kommission ein Gutachten zur Absetzung der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im Südosten der Türkei verabschiedet. Das Gutachten wurde auf Initiative des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarats verfasst. Seine Verfasser waren unabhängige Fachleute, das ist in der Venedig-Kommission so üblich. Im Falle dieses Türkei-Gutachtens waren es vier Juristen aus den USA, Spanien, Liechtenstein und Großbritannien. Die ersten drei sind angesehene Juristen in ihren Heimatländern. Der britische Fachmann ist ein bekannter Menschenrechtsverteidiger.

Die Verfasser des Gutachtens reisten im Februar 2020 nach Ankara und führten dort Gespräche mit dem Justiz- und dem Innenministerium, mit dem Verfassungsgericht, dem Hohen Wahlausschuss (YSK) sowie Vertreter der politischen Parteien. Das Gutachten ist ein Ergebnis dieser Gespräche.

Zwei Themen stehen im Fokus des Gutachtens:

Erstens die Tatsache, dass mit der Entscheidung des Hohen Wahlausschusses vom 16. April 2019 sechs HDP-Kandidaten trotz ihres Wahlsieges nicht ihre Wahlurkunden erhielten und in ihr Amt eingeführt wurden, weil sie bereits in der vorangegangenen Wahlperiode abgesetzt worden waren. Anstelle der Wahlsieger wurden damals die jeweils zweitplatzieren AKP-Kandidaten zu Bürgermeistern ernannt.

Und zweitens die Absetzung der gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von Amed (Diyarbakır), Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) und die Einsetzung der jeweiligen Provinzgouverneure als Zwangsverwalter.

Zur Nichtaushändigung der Wahlurkunden

a. Rechtliche Grundlagen: Nach türkischer Rechtsprechung gibt es kein Gesetz, das eine Nichtaushändigung der Wahlurkunde nach einem Wahlsieg zulässt. Laut Artikel 22 des Kommunalwahlrechts wird der Kandidat mit dem größten Stimmenanteil zum Wahlsieger erklärt. Es gibt keine gesetzlichen Ausnahmeregelungen hierzu. Lediglich können vor den Wahlen begründete Einwände gegen eine Kandidatur binnen 48 Stunden nach ihrer Verkündung beim Hohen Wahlausschuss eingereicht werden. Dieser hat in einem solchen Fall eine Entscheidung zu treffen; die ist dann nicht mehr anfechtbar. Bei den betroffenen sechs Bürgermeistern waren vor den Wahlen keinerlei Einwände geäußert worden, somit war ihre Kandidatur rechtmäßig.

b. Hinfälligkeit des passiven Wahlrechts: Der Vorwurf gegen die sechs gewählten Bürgermeister, denen die Wahlurkunde nicht ausgehändigt wurde, lautet, dass sie strafrechtlich verurteilt worden seien. Tatsächlich besagt Artikel 11 des türkischen Kommunalwahlrechts, dass bei bestimmten strafrechtlichen Verurteilungen das passive Wahlrecht eingebüßt werden kann. In unserem Fall ist es allerdings so, dass keiner der sechs Bürgermeister tatsächlich verurteilt wurde.

Darüber hinaus gibt es keine rechtliche Grundlage dafür, dass infolge der Nichteinsetzung der rechtmäßig gewählten Bürgermeister die Wahlurkunde an die zweitplatzierten Kandidaten ausgehändigt wird. Der Hohe Wahlausschuss beruft sich hierbei zwar auf Artikel 16 des Kommunalwahlrechts, doch dieser Artikel sieht eine Einsetzung des Zweitplatzierten nur im Falle des Todes oder des Rücktritts des Wahlsiegers vor.

Zur Absetzung der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister von Amed, Mêrdîn und Wan

Laut Artikel 45 des Kommunalwahlrechts wird im Falle des Abtretens eines Bürgermeisters deren Nachfolger durch den Stadtrat bzw. den Gemeinderat gewählt. Die Venedig-Kommission kritisiert, dass an diesem bestehenden Gesetz per Dekret folgende Ergänzung vorgenommen worden ist: Im Falle der Absetzung wegen Terrorismusvergehens übernimmt der Gouverneur die Funktion des Bürgermeisters (Gesetzesdekret Nr. 674).

Laut Artikel 15 der europäischen Menschenrechtskonvention müssen Gesetzesdekrete (im Türkischen Kanun Hükmünde Kararname, kurz KHK), die während eines Ausnahmezustands erlassen werden, begründet, temporär und verhältnismäßig sein. Sollen Dekrete dauerhaften Bestand haben, wird im Nachgang ihre Bestätigung durch das Parlament erwartet. Im Falle des oben genannten KHK 674 wurde das Dekret ganz ohne Einwilligung des Parlaments zum Gesetz erklärt.

Dass gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ihres Amtes enthoben werden, ist nur schwierig mit rechtsstaatlichen Prinzipien unter einen Hut zu bringen. Die Venedig-Kommission fordert daher, dass entweder die rechtmäßigen Bürgermeister wieder in ihre Ämter eingesetzt oder ihre Nachfolger durch den Stadtrat gewählt werden. Außerdem wird in dem Gutachten die Streichung des Gesetzesdekrets Nr. 674 gefordert.

Das Gutachten der Venedig-Kommission macht noch auf eine Besonderheit im Zusammenhang mit dem Dekret 674 aufmerksam: Als dieses erlassen wurde, hätte die größte Oppositionspartei im türkischen Parlament dagegen klagen können. Dieses Recht steht der stärksten Oppositionsfraktion zu. Doch die CHP (Republikanische Volkspartei) hat von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht.

Dem Gutachten zufolge lassen sich eine ganze Reihe von Rechtsverstößen gegen die Bürgermeister der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aufzählen. Wir können diese wie folgt zusammenfassen:

  1. Nachdem ihrer Kandidatur nicht widersprochen worden war, haben sechs Bürgermeisterkandidaten nach ihrem Wahlsieg keine Wahlurkunde erhalten und wurden nicht in ihr Amt eingeführt. Dabei war mit ihrem rechtmäßigen Antritt als Wahlkandidaten auch ihre Zulassung zur Wahl gewährleistet.
  2. Die Nichtzulassung ins Amt hat keinerlei rechtliche Grundlage.
  3. Die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden nicht rechtskräftig verurteilt.
  4. Die gesetzliche Festschreibung des Dekrets 674 im Kommunalwahlrecht verstößt gegen das Prinzip, dass im Ausnahmezustand erlassene Verfügungen begründet, temporär und verhältnismäßig sein müssen.
  5. Damit wird gleich gegen mehrere Artikel der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verstoßen. Über den durch die Wahlen zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung wird sich hinweggesetzt.

Die Entlassung von Bürgermeistern mithilfe solch schwerer Rechtsverletzungen und die Ernennung von Zwangsverwaltern an ihrer Stelle schafft ein rechtsstaatliches Problem. Ein solches äußert sich auch in der ständigne Erfindung neuer Rechtsverstöße, damit z. B. die Polizei gegen den Sternmarsch der Anwaltskammern vorgehen kann, damit Journalistinnen und Journalisten für die Schaffung von Öffentlichkeit bestraft und inhaftiert werden können oder damit die Freilassung von Selahattin Demirtas und Osman Kavala verhindert wird.

Rechtsstaatlichkeit hat international anerkannte Grundsätze. Nur zu erklären »Die Türkei ist ein Rechtsstaat«, ist nicht gleichbedeutend damit, dass die Türkei ein Rechtsstaat wäre. Wir können diese Prinzipien wie folgt zusammenfassen:

  1. Rechtssicherheit: Staatliche Vorgehensweisen müssen eine Rechtsgrundlage haben. Gesetze sollten in einem transparenten, partizipativen, demokratischen Prozess erlassen werden.
  2. Gesetze müssen eindeutig, zugänglich und berechenbar sein.
  3. Es darf keine Willkür geben.
  4. Die Justiz muss unabhängig und unparteiisch sein.
  5. Menschenrechte, Grundrechte und Freiheitsrechte dürfen nicht verletzt, sondern müssen geschützt werden.
  6. Vor dem Gesetz darf es keine Ungleichheit und Diskriminierung geben.

Die Absetzung gewählter Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und deren Ersetzung durch Zwangsverwalter verstößt gegen alle diese rechtsstaatlichen Grundsätze. Das Gutachten der Venedig-Kommission zeigt dies in aller Deutlichkeit auf.

In diesem Fall hat die Regierung zwei Möglichkeiten:

  1. Sie kann eine eigene, nationale Position beziehen; das Gutachten wird ignoriert oder aggressiv angegangen.
  2. Der Bericht wird ernst genommen, und die Empfehlungen des Gutachtens werden umgesetzt und die begangenen Fehler korrigiert.

Die Wahl zwischen diesen beiden Optionen ist die Entscheidung für oder gegen Rechtsstaatlichkeit und der mit ihr verbundenen Demokratie.


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020