Aktuelle Bewertung

Neokoloniale Annexion und Besatzungsdiplomatie

Mako Qoçgirî, Politikwissenschaftler und Mitarbeiter von Civaka Azad e.V.


Der kurdische Halbmond Heyva Sor a Kurd hat im nordsyrischen Kanton Şehba ein Corona-Krankenhaus eröffnet. In der wüstenähnlichen Region zwischen Regimegebiet und türkischer Besatzungszone ist – wie in den anderen Regionen ebenfalls – eine deutliche Zunahme der Covid-19-Fälle zu verzeichnen. Foto: anhaDie kurdische Frage hat sich zu einer Kurdistan-Frage gewandelt. Dass die Entwicklungen in einem Teil Kurdistans Rückwirkungen auf andere Teile Kurdi­stans haben, ist zwar nicht neu, doch gegenwärtig trifft diese Feststellung wohl mehr denn je zu. Die Covid-19-Pandemie ist weiterhin weltweit das bestimmende Thema. Doch der durch Corona geschaffene Ausnahmezustand wird mittlerweile vielerorts zu einem Normalzustand. Neben dem Virus ist insbesondere in Nordkurdistan der alltägliche Staatsterror zum Teil des Alltags geworden: Die Absetzung von Bürgermeister*innen und Abgeordneten, die unzähligen Festnahmen, die Verwüstung von Guerillagrabstätten sind Ereignisse, die uns praktisch tagtäglich begleiten.

Das Grauen kennt keine Grenzen. Exemplarisch sei an dieser Stelle an die Ausgrabung der Überreste von 261 gefallenen Guerillakämpfer*innen auf dem Garzan Friedhof im Dezember 2017 erinnert. Die Knochen dieser Menschen wurden im Kilyos Friedhof unter einem Gehweg vergraben. Die Botschaft, die mit diesem Akt der Barbarei an die kurdische Bevölkerung vermittelt werden soll, lautet: Die Werte der kurdischen Bevölkerung werden vom türkischen Staat jeden Tag mit Füßen getreten.

Ereignisse wie diese sind das Ergebnis einer türkischen Staatspolitik, die mit dem Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates vom 30. Oktober 2014 in Kurdistan ihren Anfang nahm. Die Türkei verfolgt eine neokoloniale Politik in Kurdistan, welche die Grenzen des türkischen Staates längst hinter sich gelassen hat.

So hat die Türkei mittlerweile drei militärische Besatzungsoperationen in Westkurdistan/Rojava durchgeführt. Diese Operationen sind nicht das Ergebnis einer kurzfristig gedachten türkischen Außenpolitik. Die Türkei verfolgt das strategisch-langfristige Ziel, die kurdischen Siedlungsgebiete vollständig zu kolonialisieren. Als am 24. August 2016 die erste Intervention in Nordsyrien ihren Anfang nahm, machte der damalige türkische Parlamentspräsident Mehmet Ali Şahin deutlich, dass diese Operation das Ziel habe, die Bildung eines kurdischen Staates zu unterbinden. Ähnliche Äußerungen kamen von den türkischen Eliten auch 1991, als sich die Bildung einer kurdischen Schutzzone im Nordirak/Südkurdistan abzeichnete. Seither setzt die Türkei in Südkurdistan eine ökonomische und militärische Besatzungspolitik um, die gegenwärtig massiver denn je umgesetzt wird. Wir dürfen also die Kriegspolitik der Türkei nicht als kurzfristiges politisches Manöver abtun. Dahinter verbirgt sich außenpolitisches Kalkül.

Türkische Außenpolitik als Besatzungsdiplomatie

Selbstverständlich kann man die Verletzung der Grenzen eines Staates als Besatzung bezeichnen. Ist das militärische Eingreifen in ein Nachbarland nicht durch gegenseitige Grenzprotokolle geregelt oder fällt es nicht unter die legitime Selbstverteidigung, verstößt ein solches Vorgehen gegen internationales Recht. Und selbst in den oben genannten Ausnahmefällen darf ein militärischer Eingriff nur temporärer Natur sein. Vor diesem Hintergrund stellt die militärische Präsenz der Türkei in den kurdischen Siedlungsgebieten außerhalb der türkischen Staatsgrenzen eine offensichtliche Besatzung dar. Die Türkei will diese Besatzung verstetigen und richtet ihr gesamtes außenpolitisches Bemühen darauf, dieses Vorhaben erfolgreich und dauerhaft umzusetzen. Parallel betreibt sie in den de facto besetzten Gebieten eine Politik des erzwungenen demografischen Wandels, also eine ethnische Vertreibung der Kurd*innen und versucht, Verbrechen wie diese mithilfe der Diplomatie zu kaschieren. Mit seiner permanenten Präsenz in Nordsyrien/Rojava will der türkische Staat außerdem ein Mitspracherecht bei den Verhandlungen über eine Lösung des syrischen Bürgerkrieges erzwingen.

Dynamiken hinter der türkischen Besatzungsdiplomatie

Es gibt zwei zentrale Dynamiken, die es dem türkischen Staat ermöglichen, die Besatzungsdiplomatie in Kurdistan intensiv voranzutreiben.

Die erste Dynamik basiert auf dem internationalen politischen Geschehen. Sie steht im Zusammenhang mit dem Status quo in den internationalen Beziehungen. Diese sind aktuell weder durch eine Blockbildung der Staaten wie im Kalten Krieg noch durch die globale Vormachtstellung der USA gekennzeichnet. Stattdessen bestimmt Ungewissheit die gegenwärtige Situation in einem multipolaren Weltsystem. Das bedeutet zugleich, dass wir kaum noch von festen Bündnispartnern unter den Staaten sprechen können. In der Vergangenheit wurde immer wieder davor gewarnt, dass die Türkei unter der AKP sich vom »Westen« verabschieden und Richtung »Osten« neu ausrichten würde. Das ist eine Fehleinschätzung und führt zu falschen Schlüssen. Die Türkei sucht nach keiner neuen Achse, sondern versucht, sich im Chaoszustand der internationalen Politik von allen Seiten eine möglichst aussichtsreiche Position für ihre Besatzungspolitik zu erkaufen. Der Ist-Zustand in der internationalen Politik macht das möglich und ist somit die erste Dynamik hinter der Besatzungsdiplomatie.

Die zweite Dynamik basiert auf der türkischen Innenpolitik und dem Präsidialsystem des Landes. Dieses System hat alle Checks-and-Balances innerhalb des Staates ausgehebelt. Die alleinige Befehlsgewalt geht vom Palast des türkischen Staatspräsidenten aus. Selbst dem Außenminister kommt lediglich die Rolle eines Befehlsempfängers zu. Gestärkt wird die Rolle des Palastes dadurch, dass die Rüstungsindustrie des Landes in den vergangenen Jahren einen bemerkenswerten technologischen Fortschritt gemacht hat. Die Rüstungsindustrie und der Staatspräsident handeln im völligen Einklang und treiben die Besatzungspolitik voran.

Annexion und demografischer Wandel

Werfen wir nun einen Blick auf die Folgen des Besatzungskrieges der Türkei in Nordsyrien während der vergangenen Jahre. Wie bereits erwähnt, ist der erzwungene demografische Wandel eine der drastischsten Folgen. So wurden aus den von der Türkei besetzten Gebieten rund 400.000 Menschen vertrieben. Die Türkei lässt diese Menschen nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehren und begründet dies mit Sicherheitsbedenken. Gleichzeitig werden insbesondere in den Grenzgebieten zur Türkei die Angehörigen turkmenischer Milizen und die Familien von Dschihadisten angesiedelt. Hier soll ein »türkischer Bevölkerungsgürtel« entstehen. In den Gebieten, die weiter im Landesinneren liegen, werden die Angehörigen arabischer Gruppierungen angesiedelt. Gleichzeitig sollen im Fall eines erneuten Aufflammens der Kämpfe um Idlib mögliche Flüchtlinge von der türkischen Grenze ferngehalten und in Efrîn und in der Region Azaz untergebracht werden. Die Auswirkung der türkischen Besatzung auf die Bevölkerungszusammensetzung soll hier nochmal mit Zahlen untermauert werden: Rund 90 % der Bevölkerung von Efrîn waren vor der türkischen Besatzung kurdisch, und heute sind es weniger als 35 %. Von der christlichen Minderheit in Efrîn ist sogar niemand mehr übrig geblieben.

Annexion und Institutionalisierung der Besatzungsverwaltung

Natürlich will ein Bevölkerungsaustausch von solch einem Ausmaß gut geplant sein. Hierfür hat der türkische Staat 2013 eigens die türkische Generaldirektion für Migrationsmanagement geschaffen. Die Schaffung dieser Institution fällt im Übrigen symbolträchtig auf den 100. Jahrestag der Gründung einer Institution, die sich alttürkisch »İskân-ı Aşâir und Muhâcirîn Müdîriyyeti« genannt hat. Diese Institution war 1913 damit beauftragt, alle nicht-muslimischen Minderheiten aus dem Osmanischen Reich zu vertreiben und alle nicht-türkischen Minderheiten innerhalb des Reiches umzusiedeln. Die Generaldirektion für Migrationsmanagement knüpft 100 Jahre später an diese Aufgaben an.

Darüber hinaus wurden die annektierten Gebiete verwaltungstechnisch den Gouvernements der Provinzen Dîlok (Antep), Riha (Urfa) und Hatay zugeordnet. Die »Polizeikräfte« in den besetzten Gebieten sind an die türkische Polizei angebunden. An die Bewohner*innen wurden neue Identitätskarten ausgegeben, die türkische Lira wurde als Währung eingeführt, und selbst die türkische Post hat Filialen eröffnet. Zu einer ordentlichen türkischen Besatzung gehört natürlich auch, dass das Unterrichten der kurdischen Sprache in den Schulen verboten und kurdische Straßen- und Dorfnamen in arabische und türkische Namen umbenannt wurden.

Der türkische Staat verfolgt die Strategie einer schleichenden Annexion Nordsyriens. Schritt für Schritt weitet der türkische Staatsapparat seine Einflussnahme auf die besetzten Gebiete in Nordsyrien aus, um einen unumkehrbaren Zustand zu schaffen.

Die Anfänge der türkischen Besatzungskriege in Südkurdistan

Getarnte Guerillaeinheit der Volksverteidigungskräfte HPG in Südkurdistan. Foto: anfIn Südkurdistan verfolgt der türkische Staat eine andere Besatzungspolitik. Hier verfügt die Türkei über eine breit gestreute Militärpräsenz. Im Gegensatz zu Nordsyrien wird allerdings nicht primär eine Politik des erzwungenen demografischen Wandels verfolgt. Die Anfänge der türkischen Besatzung gehen hier auf den Anfang der 1980er Jahre zurück. Unter dem Schleier »grenzüberschreitender Militäroperation«, nimmt die Türkei den Kampf gegen die PKK zum Vorwand, um seit 1983 militärische Besatzungsoperationen in Südkurdistan durchzuführen. Zwar besteht ein auf den 15. Oktober 1984 datiertes Grenzprotokoll zwischen dem Irak und der Türkei, das beiden Staaten für vier Jahre ermöglichte, im Zuge von Militäroperationen bis zu fünf Kilometer hinter die Grenze des Nachbarlandes einzudringen. Doch sah dieses Protokoll zum einen keine dauerhafte Präsenz des einen Staates innerhalb der Grenzen des Nachbarstaates vor. Zum anderen wurde das Protokoll nach Ablauf seiner Gültigkeit im Oktober 1988 nicht erneuert.

Mit der am 5. April 1991 durch die UN verkündete Flugverbotszone über Südkurdistan kam es schließlich zu einem Wendepunkt. Die Flugverbotszone sollte verhindern, dass Saddam Hussein nach der Anfal-Kampagne einen weiteren genozidalen Angriff auf die Kurd*innen verübt. Nach Durchsetzung dieser Schutzzone verlor das Baath-Regime in Bagdad auch weitgehend das Mitspracherecht über die Grenze zwischen Südkurdistan und der Türkei. Die Türkei hingegen münzte diesen Umstand zu ihrem Vorteil um, denn die Aufrechterhaltung der Schutzzone war maßgeblich von der Türkei abhängig. Die humanitäre und militärische Hilfe für Südkurdistan war auf den türkischen Militärstützpunkt Incirlik angewiesen, mit dem Ergebnis, dass die Stärkung der kurdischen Autonomie mit einer verstetigten Präsenz der Türkei in Südkurdistan einherging. Der Beschluss der Unterstützung der kurdischen Schutzzone ging damals vom türkischen Staatspräsidenten Özal aus. Diese Entscheidung führte zwar zu einer handfesten Krise innerhalb der türkischen Eliten, doch Özals Vorpreschen ermöglichte es der Türkei wieder, »grenzüberschreitende Operationen« in Südkurdistan durchzuführen.

Verstetigung der türkischen Präsenz in Südkurdistan

Die Qualität der Operationen in Südkurdistan veränderte sich ab 1991. Nun musste der türkische Staat seinen Grenzübertritt nicht mehr mit Bagdad aushandeln. Zudem konnte die Türkei aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses die südkurdischen Akteure in die Kampfhandlungen gegen die PKK einspannen, was den Grundstein für den »Brudermord« (kurd. birakûjî) in Südkurdistan legte. 1991 errichtete Ankara einen Geheimdienstposten und 1994 die erste Militärstation in Südkurdistan. Damit war klar, dass die Türkei nicht vorhatte, dieses Gebiet bald wieder zu verlassen. Heute verfügt Ankara über knapp 20 Militärstationen in Südkurdistan, türkische Soldaten befinden sich rund 28 Kilometer innerhalb der irakischen Staatsgrenzen, der Luftraum ist praktisch vollständig für die türkische Luftwaffe geöffnet, und der türkische Geheimdienst verfügt über ein ausgedehntes Agentennetz, das bis in die Lokalbevölkerung hineinreicht.

Historische Ängste und Sehnsüchte als Antriebskraft der Annexion

Jede Kritik an ihrer Annexionspolitik in Südkurdistan und Rojava/Nordsyrien beantwortet die türkische Regierung postwendend mit der Gefahr durch die PKK. Doch dass sich mit der PKK keine verstetigte Präsenz der Türkei außerhalb ihrer Staatsgrenzen begründen lässt, bezweifelt eigentlich niemand. Und tatsächlich sind es tieferliegende Ursachen, welche den türkischen Staat dazu antreiben, eine solch aggressive Besatzungspolitik zu betreiben. Es sind seine historischen Ängste und Sehnsüchte.
Die historische Angst der Türkei ist kurz gefasst die Angst vor einer Abspaltung eines Teils ihres Territoriums wie vor rund 100 Jahren am Ende des 1. Weltkrieges. Die historische Sehnsucht ist die Einverleibung der an Bodenschätzen reichen Territorien, die damals »verloren« gingen. Die Angst und die Sehnsucht des türkischen Staates treffen im kurdischen Siedlungsgebiet aufeinander. Und das macht deutlich, dass es Ankara mit seinen Besatzungskriegen um weitaus mehr geht, als der Gefahr durch die PKK zu begegnen.

Der Arabische Frühling als historische Chance

Wie so viele andere staatliche Akteure wusste die Türkei die Chance, die sich durch das Aufbegehren der Völker gegen ihre autoritären Regime im Zuge des im Dezember 2010 entfachten Arabischen Frühlings ergab, zu nutzen, um ihrer historischen Sehnsucht näherzukommen. Zwei Begleiterscheinungen des Arabischen Frühlings boten für die Türkei günstige Gelegenheiten: Zum einen wurde im Zuge der Proteste die künstliche Staatenordnung des Mittleren Ostens als Ergebnis des britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommens vor mehr als 100 Jahren so sehr wie noch nie in Frage gestellt. Zum anderen war innerhalb der Staaten, die vom Arabischen Frühling erschüttert wurden, ein Machtvakuum entstanden. Anfangs hatte der ehemalige türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu noch die Vision einer neoosmanischen Hegemonie der Türkei auf der Grundlage von »soft power« und geschickter Diplomatie entwickelt.1 Doch spätestens nach 2015 wurde die Umsetzung des Neoosmanismus mit einer neuen Strategie, die ich als Ankaras »ganzheitliche Kurdistanstrategie« bezeichnen möchte, verfolgt.

Ganzheitliche Kurdistanstrategie – Erster Akt

Auch wenn der türkische Staat nach außen hin die Existenz Kurdistans stets verleugnet, hat Ankara bereits seit 1991 seine Innen- und Außenpolitik entsprechend einer ganzheitlichen Kurdistanstrategie ausgerichtet. Das bedeutet, dass der türkische Staatsapparat hinter verschlossenen Türen Kurdistan durchaus als eine eigenständige geografische Einheit betrachtet und sich dessen bewusst ist, dass seine Politik in einem Teil Kurdistans direkte Auswirkungen auf andere Teile der kurdischen Siedlungsgebiete und die dortigen Akteure hat. Ausgehend von dieser Prämisse verfolgt die Türkei seit Anfang der 1990er Jahre einen politischen Kurs, der ihren neoosmanischen Zielen dient. Erstmals angewendet wurde diese Politik in Südkurdistan, wo Ankara das Ziel verfolgte, die Widersprüche zwischen den kurdischen Parteien auszunutzen und diese von der Türkei abhängig zu machen. Dies hatte, wie oben erwähnt, unmittelbare Folgen auf die kurdische Freiheitsbewegung in Nordkurdistan, die sich in Südkurdistan plötzlich auch gegen die dortigen Akteure militärisch behaupten musste.

Zwischen 2007 und 2015 wurde diese Politik nach einer Übereinkunft zwischen Erdoğan und dem damaligen türkischen Generalstabschef Büyükanıt und einem Treffen zwischen Erdoğan und dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush weniger mit militärischen, sondern verstärkt mit diplomatischen Mitteln verfolgt. Seit dem Arabischen Frühling hat die Türkei ihre ganzheitliche Kurdistanstrategie auch auf Westkurdistan/Rojava ausgeweitet.

Die diplomatische Umsetzung der Kurdistanstrategie verfolgte das Ziel, der Türkei eine Vorbildfunktion in der Region einzuräumen. Teil dieser Methode war es, Südkurdi­stan wirtschaftlich in die eigene Abhängigkeit zu bringen, in Nordkurdi­stan Friedensgespräche zu führen und so die Widerstandspotentiale zu schwächen, sowie in Rojava die kurdischen Akteur*innen in die syrische Opposition zu integrieren und damit unter Kontrolle zu halten. Auf diese Weise sollten West- und Südkurdistan zu Satelliten der türkischen Politik werden, ohne dabei die bestehenden Grenzen anzutasten. Mit diesen Mitteln der »soft power« hat Ankara das Ziel verfolgt, die kurdische Bevölkerung als eigenständiges politisches Subjekt, zu einem Objekt der eigenen neoosmanischen Politik zu machen. Ab 2015 wurde diese Methode aufgegeben und stattdessen der zweite, militärische Akt der ganzheitlichen Kurdistanstrategie implementiert.

Ganzheitliche Kurdistanstrategie – Zweiter Akt

Der Grund für das Scheitern der oben genannten »soft power«-Methode liegt darin begründet, dass der politische Islam, mit dem die Türkei zu einem Vorbildstaat in der gesamten Region avancieren wollte, letztlich scheiterte. Ziel war es, mit einer antiisraelischen Rhetorik die Herzen der arabischen Bevölkerung zu gewinnen und gleichzeitig mittels der Lenkung dschihadistischer Gruppierungen kriegerisch die eigenen Ziele zu verfolgen, ohne die eigenen Hände direkt blutig zu machen. Diese Strategie schlug letztlich mit dem Kobanê-Aufstand Anfang Oktober 2014 endgültig fehl. Denn der Widerstand von Kobanê führte zu einem Aufbegehren der Kurd*innen in allen Teilen Kurdistans und weltweit. Das Ziel, die Kurd*innen für die eigene Agenda zu vereinnahmen, war somit gescheitert.

In der Folge kam es am 30. Oktober 2014 zu einer Sitzung des türkischen Sicherheitsrates, auf dem die ganzheitliche Kurdistanstrategie neu justiert wurde. Nun sollte der zuvor entworfene »Çökertme Plan« (zu Deutsch etwa »in die Knie zwingen-Plan«) umgesetzt werden. Dieser Plan sah vor, die Gesamtheit der kurdischen Bevölkerung militärisch in die Knie zu zwingen, nachdem dies mit dem Einsatz von »soft power« nicht gelungen war. Da die Kurdinnen und Kurden sich nicht für die neoosmanischen Sehnsüchte einspannen ließen, sollten sie nun aus dem Weg geräumt werden.

Wie eine Gegenstrategie zur türkischen Politik aussehen könnte

Die Frage, wie eine Gegenstrategie zur türkischen ganzheitlichen Kurdistanstrategie aussehen könnte, muss alle Interessen und die Politik aller regionalen und internationalen Akteure berücksichtigen. Eine solche Diskussion würde allerdings den Rahmen der vorliegenden Analyse sprengen. Aus diesem Grund möchte ich lediglich einige Ansätze benennen, die aus kurdischer Sicht den Rahmen einer solchen Strategie bilden könnten.

Wir haben festgehalten, dass die ganzheitliche Kurdistanstrategie der Türkei auf der militärisch-geheimdienstlichen Organisierung in den verschiedenen Teilen Kurdistans beruht. Hierfür verfolgt der türkische Staat eine Politik, mit der er Nordkurdistan vornehmlich mit politischen, Südkurdistan mit ökonomischen und Westkurdistan/Rojava mit diplomatisch-militärischen Mitteln unter Kontrolle bringen will. Ausgehend von diesem Umstand müssen die kurdischen Organisationen effektive Gegenstrategien entwickeln.

Für Nordkurdistan könnte dies zum Beispiel bedeuten, dass die entscheidende Frage nicht lauten dürfte, ob die Demokratische Partei der Völker (HDP) bald verboten werden könnte oder ob sie sich weiterhin im Parlament engagieren sollte. Im Zentrum sollte die Frage stehen, inwieweit es der kurdischen Politik gelingt, die Bevölkerung Nordkurdistans zu organisieren und effektiv zu aktivieren.

In Südkurdistan ist die alles entscheidende Frage, inwiefern es den politischen Akteuren gelingen kann, sich selbst und ihre Bevölkerung aus dem ökonomischen und somit politischen Würgegriff der Türkei zu lösen.

In Westkurdistan/Rojava konzentriert die Türkei ihre Bemühungen darauf, die von den dortigen politischen Akteuren verfolgte Strategie des dritten Weges zu unterbinden. Einerseits will die Türkei mit allen Mitteln einen kurdisch-arabischen Konflikt vom Zaun brechen. Auf der anderen Seite sollen die kurdischen Akteur*innen dazu gedrängt werden, sich zwischen Russland und den USA im Syrienkonflikt zu entscheiden. Eine Gegenstrategie muss deswegen unbedingt das Ziel verfolgen, diese Absichten der Türkei ins Leere laufen zu lassen und die Strategie des dritten Weges weiterzuentwickeln.

Auch wenn die Türkei in den unterschiedlichen Teilen Kurdistans unterschiedliche Methoden zur Durchsetzung ihrer Strategie verfolgt, sind diese Methoden Teil einer ganzheitlichen Kurdistanstrategie. Vielleicht liegt hierin auch die entscheidende Schwäche der türkischen Strategie. Denn gerät diese Strategie auch nur in einem Teil Kurdistans ins Stocken, so wird das unmittelbare Folgen auf alle anderen Teile Kurdistans haben.

Schlussendlich lässt sich aus dem Gesagten folgern, welche herausragende Bedeutung die kurdische Einheit als Teil einer Gegenstrategie haben kann. Nur so können die kurdischen Akteur*innen ihre Bemühungen konzentrieren, um sich nicht durch die Türkei in die Knie zwingen zu lassen. Welche Wirkung diese Einheit haben kann, wurde beim Kobanê-Aufstand deutlich. Indem sich alle Kurd*innen jenseits der ihnen auferlegten staatlichen Grenzen erhoben, wurde die Türkei gezwungen, ihre bisherige Methode zur Umsetzung der ganzheitlichen Kurdistanstrategie aufzugeben. Es steht außer Frage, dass eine ähnliche Wirkung auch aktuell von einer kurdischen Einheit ausgehen kann. Fast genauso bedeutsam kann eine diplomatische Annäherung zwischen kurdischen und arabischen Akteur*innen in der Region sein. Denn die Türkei richtet ihr Expansionsstreben nicht mehr allein auf Kurdistan, sondern mischt im Kriegsgeschehen in Libyen mit und sucht auch nach Möglichkeiten, sich im Jemen-Konflikt einzumischen. Die Gefahr, die von der Türkei im arabischen Raum ausgeht, kann durch eine kurdisch-arabische Annäherung mit Sicherheit abgemildert, wenn nicht sogar aus dem Weg geräumt werden.


Fußnote:

1 - Bereits 2001 hatte Davutoğlu diese Vision in seinem Buch »Stratejik Derinlik« (deutsch: Strategische Tiefe) dargelegt.


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020