Kommentar zum Konflikt um Arzach/Bergkarabach

Wem gehört Arzach?

Redar Han, Civaka Azad e.V. – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit

Demo gegen die türkische und aserbaidschanische Kriegspolitik gegen die Republik ArzachDer Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Republik Arzach (Bergkarabach) ist von Neuem entbrannt. Der sich seit Jahren aufgestaute Nationalismus hat sich in einen Sturm verwandelt. Im Wesentlichen bedeutet Nationalismus das Verblenden der klaren Wahrnehmung und den Verlust der potentiellen Lösungsfähigkeit des Menschen. Das Handeln des Menschen, dessen Denken von Nationalismus bestimmt ist, ist nicht von Intelligenz, sondern von Emotionen geleitet. Während intelligentes Handeln bestimmt ist von Flexibilität und Vielfalt, ist das gegenteilige Handeln von Engstirnigkeit bestimmt. Nationalismus tötet zuallererst die Fähigkeit des Menschen, sich Wissen anzueignen und mit diesem Lösungen zu produzieren. Stattdessen bedeutet es die Wiederholung von auswendig gelernten Phrasen, die von Wissenslosigkeit herrühren.

Die Türkei zeigt mit ihren Diskursen über den Konflikt in Arzach innerhalb der letzten Wochen klar und deutlich, wie eine Gesellschaft mit Nationalismus vergiftet werden kann. Ohne das Geringste von der historischen, sozialen, kulturellen und geografischen Struktur der Region zu wissen, werden auswendig gelernte nationalistische Diskurse wiederholt. Die Nationalisten auf der anderen Seite des Konflikts wiederholen hierbei nur die gleichen Schemata. Gehört Arzach den Armeniern oder den Aserbaidschanern? Jede Seite hat eine klare Antwort auf diese Frage und einen unerschütterlichen Glauben daran. In solchen Situationen der ausgeprägten Ignoranz ist das erste Opfer zweifellos die Wahrheit. In solchen Situationen, in denen allen die nationale Pflicht auferlegt wird, sich für eine Seite zu entscheiden, ist es wichtig, einen Schritt zurückzutreten und das Bild in seinem historischen, sozialen, politischen und kulturellen Kontext zu verstehen. In diesem Sinne ist es hilfreich, die Frage um Arzach und seine Hintergründe jenseits seiner Aktualität, sondern aus einer historischen Perspektive zu betrachten. Von solch einem Standpunkt wird man zuallererst sehen, dass Aserbaidschan ursprünglich nicht den Namen einer Nation zum Ausdruck brachte, sondern eine Verwaltungseinheit ist und erst später seinen heutigen geografischen Charakter gewonnen hat.

Der Name Aserbaidschan stammt von Atropates, einem Satrapen1 von Alexander dem Großen im Jahr 328 v. Chr. ab, der über das Gebiet des heutigen Iranisch-Aserbaidschan herrschte. Das von ihm kontrollierte Gebiet nannten die Griechen Media Atropatene bzw. »Media Atropates«. Mit der Erweiterung des Territoriums hat Atropates Änderungen im Verwaltungssystem der Meder vorgenommen. Die neue Verwaltungsfunktion, die eine autonome Struktur besaß, wird nach dem Namen des Königs als Atropatene bezeichnet. Atropatene umfasste das heutige Armenien und Aserbaidschan sowie den Süden Georgiens.

Mit dem Zusammenbruch der Meder fiel die Region Atropatene unter die Herrschaft Alexander des Großen und der Perser. Von Zeit zu Zeit wurde es von äußeren Invasoren kontrolliert. Seit dem Bestehen des Urartäisches Reiches und der Meder lebten in der Region Armenier und Kurden zusammen. Auch wenn sich die politische Souveränität in Atropatene, dem heutigen Armenien und Aserbaidschan, immer wieder änderte, setzte es sich demografisch aus Kurden, Armeniern und Persern zusammen. Ab dem 10. Jahrhundert stießen auch die Türken in diese Region.

Mit der mongolischen Invasion änderte sich die demografische Struktur in dieser Region erheblich. Dieser Wandel setzte sich mit neuen türkischen Migrationen während der seldschukischen und osmanischen Zeit fort. Während die Armenier bis zu einem gewissen Grad ihre Existenz bewahrten, wurden Kurden und Perser entweder nach Süden vertrieben oder assimiliert. Türken sind zu einer dominanten ethnischen Gruppe geworden. Die aserbaidschanische Definition ist im gewissen Sinne als eine übergeordnete Identität entstanden. Durch den Islam als verbindendes Element konnten sich Türken, Kurden und Perser auf ihre Gemeinsamkeit besinnen. Die Armenier hingegen definierten sich ebenso wie andere christliche Gruppen in Abgrenzung zu Ersteren.

Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die sich Aserbaidschaner nannten, waren Kurden und Perser. Aus diesem Grund befinden sich zwei Drittel der südlichen und aserbaidschanischen Bevölkerung, die der Hälfte der historisch als Atropatene bekannten Region entspricht, innerhalb der Grenzen des Iran und/oder stehen unter dem Einfluss des Irans. »Aserbaidschan« bezeichnete ursprünglich die weiter südlich gelegene iranische Region Aserbaidschan, während das heutige Staatsgebiet Arrān und Albania hieß. Als das Russische Kaiserreich zerfiel, wurde am 28. Mai 1918 die unabhängige Demokratische Republik Aserbaidschan ausgerufen. Die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik war ein Teilstaat der Sowjetunion. Sie wurde 1991 unabhängig, das Land wird wie zuvor autoritär regiert.

Aus diesem Grund kann man nicht mit einer leichtfertigen Rhetorik behaupten, dass diese Region einer bestimmten Volksgruppe gehört. Wenn man die nationalstaatliche Brille abnimmt und die Dosis vom Gift des Nationalismus reduziert, dann zeigt sich, dass die Region und die dort lebenden Völker über äußerst verschiedene historische, gesellschaftliche und kulturelle Verbindungen verfügen. Der Lösung(-slosigkeit) des Nationalstaats stehen auch Optionen gegenüber die sich auf alternative Lösungswege stützen. Das eigentliche Problem rührt aus dem National-Etatismus und Nationalismus her. Solange man sich mit der Mentalität des Nationalstaates annähert, kann es keine Lösung des Problems um Arzach geben.

Die Region, in der eine Vielzahl von Völkern seit Tausenden von Jahren im historischen, kulturellen und sozialen Sinne zusammenlebte, wurde durch den National-Etatismus über Nacht zerstückelt. Anschließend führten die Nationalstaaten demografische Veränderungen durch, um eine homogene Bevölkerung zu erschaffen. Armenier, Turkmenen, Kurden, Georgier, Karapapaken und Perser waren gezwungen, Partei zu ergreifen und gegenseitige Feindseligkeit wurde geschürt. Ganze Familien wurden durch die willkürlichen Grenzziehungen voneinander getrennt. Diese Realität gilt für die meisten Länder und Regionen des Mittleren Ostens, deren Grenzen mit einem Lineal gezogen wurden. Die Völker wurden zu gegenseitigen Feinden gemacht.

In diesem Sinne gehört Arzach sowohl den Armeniern, die seit Tausenden von Jahren dort leben, als auch den Türken, die seit Jahrhunderten dort leben. Gleichzeitig haben sich die Kurden, Talyschen, Lesgier und andere ethnische Gruppen vor Tausenden von Jahren hier niedergelassen. Der Zwang der Homogenisierung, entsprechend des Nationalismus, hat und wird kein anderes Ergebnis hervorbringen, als die Region in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Die einzige Lösung, um ein Zusammenleben der Völker zu garantieren, besteht darin, die Hindernisse, die einer Lösung im Wege stehen, zu beseitigen. Die Völker, die tausende Jahre zusammengelebt haben, können wieder ein gemeinsames Leben erschaffen. Das einzige Hindernis stellt hierbei der Etatismus und Nationalismus dar, der die Menschen aufeinanderhetzt.

Denn die nationalstaatliche Lösung bedeutet nichts anderes als die Praxis der ethnischen Säuberung. Es ist dabei unwichtig, um welchen Staat es geht. Jeder Nationalstaat betrachtet andere Völker als Feind und strebt deren vollständige Vernichtung an. Assimilation und Deportation und wenn dies nicht ausreicht die physische ethnische Säuberung, sind die Folge. Heute sind es in Arzach zwei Nationalstaaten, die sich um eine Homogenisierung Bemühungen. Entsprechend des nationalstaatlichen Denkens müssen entweder die Armenier oder die Aserbaidschaner verschwinden. Die Tatsache, dass beide Seiten an der Krankheit des Etatismus und Nationalismus leiden, stellt sicher, dass sie diesen blinden Kampf noch viele Jahre fortsetzen werden. Und dies auf Kosten der verarmten Bevölkerung von Arzach und aller Menschen, deren Arbeit in diese Kriege investiert wird.

Fußnote:

1 - im antiken Perserreich der Titel des Statthalters einer größeren Provinz


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020