Wie das Fernsehen einer verloren geglaubten Gesellschaft wieder Leben einhauchte

Med TV: Geschichte des ersten kurdischen Fernsehsenders

Firaz Baran, Journalist

Der erste kurdische Fernsehsender Med TV ging 1995 auf Sendung und musste nach vier Jahren (1999) wieder geschlossen werden. Wie erlangte dieser Sender seine enorme Bedeutung für die kurdische Gesellschaft?

Plakat der YXK – Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan / Verband der Studierenden aus Kurdistan – von 1999 gegen die Angriffe auf Med TV. | Foto: krMed TV hat es geschafft, zu einer Art virtuellem Kurdistan zu werden. Die in Kurdistan gesprochenen Sprachen (Kurdisch, Assyrisch, Arabisch, Türkisch) und alle gelebten Glaubensrichtungen (Êzîdentum, Yaresan1, Islam, Christentum) waren dort repräsentiert. Der Sender wurde daher zu einem Modell für Demokratie und Toleranz im Nahen Osten und zu einer Art kurdischer Enzyklopädie. Neben dem Alltag der Menschen wurden Geografie, Kultur und historische Orte in Kurdistan thematisiert und bekannte Persönlichkeiten zu Gesprächs- und Diskussionssendungen eingeladen. So war es Kurd*innen zum ersten Mal möglich, in ihrer eigenen Sprache mehr über ihre Kulturgeschichte zu erfahren.

Einige konkrete Beispiele der Programmarbeit des Senders:

  • Der Journalist und Schriftsteller Faysal Dağlı produzierte zwei Sendungen mit dem Namen »Welatê Me« (»Unsere Heimat«) und »Şaristaniyên Mesopotamia« (Die Zivilisationen Mesopotamiens); in beiden wurden kurdische Städte und wichtige historische Orte vorgestellt.
  • Der Filmproduzent und Autor Mehmet Aktaş kreierte die Sendung »Ronahî«. Dort lag der Fokus auf die in Georgien, Armenien, Russland, Kasachstan, Ägypten und Israel lebenden Kurd*innen, welche ihre Lebensrealität selbst darstellten.
  • Der Journalist Cahît Mervan gestaltete eine Reihe namens »Sêla Sor« (etwa Heißes Eisen). Die Verbrechen des türkische Staates gegenüber der kurdischen Gesellschaft wurden darin öffentlich angeprangert. Unter anderem wurde über die Zeit zwischen 1984 und 1999, in der über 4000 kurdische Dörfer verbrannt und zerstört wurden, berichtet. Auch dass tausende kurdische Zivilist*innen und Intellektuelle eingesperrt, gefoltert und getötet wurden, floss in die Sendung mit ein. Durch »Sêla Sor« wurde somit eine Dokumentation der Menschenrechtsverbrechen des türkischen Staates erstellt.
  • Der Sänger Şemdîn, der Musiker Husên Reber, der Dichter Hekîm Sefkan und der Theaterkünstler Barzan Shaswar arbeiteten am kulturellen Teil des Senders und produzierten vier verschiedene Musiksendungen. Es wurden tausende kurdische Lieder ausgestrahlt und archiviert.

Ein weiterer wichtiger Aspekt Med TVs war die Schaffung einer Plattform für die verschiedenen kurdischen Dialekte, wodurch die Menschen die Vielfalt der eigenen Sprache und Kultur erfahren und darstellen konnten. Die meisten Programme des Senders wurden in den meist verbreiteten kurdischen Dialekten Kurmancî und Soranî gehalten sowie in Kirmanckî und im goranischem Dialekt. Kirmanckî hatte für Dêrsim und den Sersor-Glauben auch eine religiöse Bedeutung wie auch der Gorani-Dialekt für den Yaresan-Glauben. Was für viele Nationen eine Selbstverständlichkeit ist – ihre eigene Kultur hören und sehen zu können – war für Kurd*innen zum ersten Mal in ihrer Geschichte erlebbar. Dies hatte eine enorme Wirkung auf die kurdische Gesellschaft.

Durch den Fernsehsender Med TV wurden drei verschiedene Alphabete zusammengebracht

Die kurdische Sprache wird auf dreierlei Arten geschrieben: lateinisch, arabisch und kyrillisch. Mit der lateinischen Schrift wird von Kurd*innen in der Türkei, mit der arabischen im Irak, Iran und in Syrien, mit Kyrillisch in der ehemaligen Sowjetunion geschrieben. Med TV stellte Bücher vor, die in allen drei Schriften gedruckt wurden, und besprach sie. Diese Reihe wurde von Burhan Karadeniz produziert, welcher 1992 Reporter der Zeitung »Özgür Gündem« war. Während seiner Arbeit als Journalist in Amed (türk. Diyarbakır) wurde er von paramilitärischen Einheiten in den Hals geschossen – seitdem war er querschnittsgelähmt. Als Med TV damals auf Sendung ging, setzte er seine journalistische Arbeit im Fernsehen fort, ohne sich durch seine Behinderung beeinträchtigen zu lassen.

Wie Med TV zu einer Enzyklopädie Kurdistans wurde

Die Zuschauer*innen entdeckten täglich neue und andere Seiten Kurdistans. Die kurdische Gesellschaft konnte erstmals Reportagen über ihre Städte, Schriftsteller*innen und ermordeten Intellektuellen sehen. Aus diesem Grund hat Burhan Karadeniz den Begriff »virtuelles Kurdistan« für Med TV geschaffen. Die Rundfunklizenz von Med TV wurde von der britischen ITC (»Incorporated Television Company«) ausgestellt, jedoch bereits im März 1999 – unmittelbar nach dem kurdischen Neujahrsfest Newroz – wieder zurückgezogen, wodurch der Fernsehsender seine Arbeit wieder einstellen musste. Am Tag der Schließung kamen alle Mitarbeiter*innen in der Cafeteria des Senders zusammen, um spontan eine Live-Pressekonferenz abzuhalten und den baldigen Sendestopp bekanntzugeben. Anschließend wurde die Nachrichtensprecherin Senem Güneşer live geschaltet, die den Zuschauer*innen erklärte, dies sei die letzte Nachrichtensendung, die Med TV übertragen könne. Danach wurde ein kurzer Abspann eingeblendet und die Übertragung wurde eingestellt. Die Staaten, die das Land der Kurd*innen besetzten, waren auch gegen die Errichtung eines virtuellen Kurdistans. Nach Meinung der Produzent*innen hatte die ITC eine politische und keine rechtliche Entscheidung getroffen.

Wie konnte dies geschehen? Nachdem am 15. Februar 1999 Abdullah Öcalan, der Repräsentant der kurdischen Gesellschaft und Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), in einem internationalen Komplott entführt worden war, sah der türkische Staat die Möglichkeit, den kurdischen Freiheitskampf in seiner Gesamtheit zu besiegen. Sein erklärtes Ziel war, die Guerillabewegung zu zerschlagen, alle parlamentarischen für Kurd*innen eintretenden Parteien – wie zum Beispiel die »Partei der Demokratie des Volkes« (HADEP) – zu verbieten, ebenso wie alle zivilgesellschaftlichen Organisationen ähnlicher Ausrichtung. So wurde von staatlicher Seite Druck auf die HADEP und diverse Nichtregierungsorganisationen ausgeübt und die militärischen Angriffe auf die Guerilla in den Bergen massiv intensiviert. Der türkische Staat wollte verhindern, dass die kurdische Gesellschaft ein Bewusstsein über die eigene Geschichte und Kultur erlangen konnte. Den Menschen sollte vermittelt werden, dass die PKK am Ende ihrer Kräfte, Öcalan gefangen und die Guerilla vernichtet worden sei. Es sollte sich ein Bild von der Kapitulation der kurdischen Freiheitsbewegung und vom Ende des Kampfes verbreiten. Aus diesen Gründen wurde die ITC durch die britische Regierung unter Druck gesetzt und zu dieser Entscheidung, Med TV zu schließen, genötigt. Doch die Schließung von Med TV wurde eine Niederlage für den türkischen Staat selbst. Es gab hunderte von türkischen Fernsehsendern, jedoch nur diesen einen kurdischen. Das Programm des Senders förderte die Entwicklung der kurdischen Gesellschaft und entlarvte somit die Propaganda des türkischen Staates.

Als die türkische Polizei auf Antennenjagd ging

Auf welche Art und Weise der türkische Staat versuchte, die kurdische Frage zu unterdrücken, zeigte sich insbesondere auch in absurd anmutenden Repressionsmaßnahmen gegenüber Med TV. Der Sender strahlte per Satellit sein Programm weltweit in 77 Länder aus. Auch in der Türkei konnte das Programm also (verbotenerweise) empfangen werden. So kam es, dass in Amed die Polizei jeden Tag Satellitenschüsseln von den Gebäuden entfernte, auf einem Polizeigelände sammelte und so bereits nach kurzer Zeit einen Hügel aus Satellitenschüsseln anhäufte. Es war wie eine zur Statue gewordene Karikatur, die die Politik des türkischen Staates anprangerte.

Wenn ältere Menschen Zeichentrickfilme sehen

Durch die Sendungen von Med TV rückte die Gesellschaft zusammen. Einer der wichtigsten Gründe dafür war, wie bereits erwähnt, dass die Sendungen zumeist auf Kurdisch ausgestrahlt wurden. Es waren jedoch nicht nur die wissenschaftlichen Berichte oder die Sendungen über historische Gebäude, sondern vor allem auch Zeichentrickserien, die die Menschen begeisterten. Dies lockte generationsübergreifend sowohl Kinder als auch alte Menschen vor die Bildschirme. Cartoons waren bereits zuvor in weiten Teilen der Gesellschaft sehr beliebt, doch nun zum ersten Mal gezeichnete Charaktere zu sehen, die sich in ihrer Muttersprache unterhielten, war für alle eine ganz neue Erfahrung. So war es kein seltenes Bild, dass Großeltern die ganze Familie aufforderten, alles stehen und liegen zu lassen, um gemeinsam die Sendung mit den animierten Bären, Füchsen und Elchen anzuschauen.

Med TV war für viele Kurd*innen eine Hilfe, sich selbst und die eigene Kultur besser kennenzulernen

Ich selbst bin ein Kurde aus dem nordkurdischen Gebiet Albistan (Elbistan), wo der Sersor-Glaube sehr weit verbreitet ist und es nur sehr wenige Muslime gibt. Erst durch die Fernsehsendungen von Med TV wurde uns damals bewusst, dass das jedoch in vielen Gebieten Kurdistans anders war. Dort hörten wir zum ersten Mal, dass sich Kurd*innen, je nachdem wo sie aufwuchsen, einer von zwölf verschiedenen Religionen angehörig fühlten, und dass es Kurd*innen gibt, die sich als Êzîden, Yaresanen, Juden oder Anhänger des zoroastrischen Glaubens verstanden. Wie viele andere auch hatten wir bis dahin geglaubt, dass Kurd*innen eine einheitliche ethnische Minderheit seien, die es nur noch in unserem Gebiet gebe. Erst durch das Fernsehen erfuhren wir, dass zum Beispiel gar keine universelle kurdische Sprache existierte, sondern nur vier Hauptdialekte mit unzähligen Unterdialekten. Die im Fernsehen vorgestellten Bücher ließen uns erfahren, dass sich die historischen Siedlungsgebiete unserer Vorfahren nicht nur über die Türkei, sondern auch den Irak, Iran und Syrien erstreckten und Kurdistan in vier Teile geteilt war. Med TV bildete damit auch die ganz neue Möglichkeit, sich mit Menschen aus den anderen Teilen Kurdistans auszutauschen. Für mich und allgemein für meine Generation war der Sender so etwas wie eine Schule, da wir durch ihn überhaupt erst lernen konnten, wie unsere Muttersprache geschrieben und gelesen wurde.

Wie das kurdische Fernsehen wuchs

Med TV begann bei seiner Gründung zunächst mit nur 13 Mitarbeiter*innen. Nur einer von ihnen hatte bereits Erfahrung und kam beruflich tatsächlich aus dem TV-Bereich, und nur eine zweite Person hatte damals bereits ein wenig journalistische Erfahrung. Als ich dann zwei Jahre später dazu stieß, gab es bereits über 250 Mitarbeiter*innen, von denen jedoch insgesamt nur fünf eine Ausbildung im TV-Bereich hatten.

Mit Ausnahme dieser wenigen haben sich alle anderen journalistisches Arbeiten und die weiteren für den Betrieb notwendigen Fähigkeiten bei Med TV selbst aneignen müssen. Wer von nun an im Sender mitarbeiten wollte, musste zunächst lernen, Nachrichten zu schreiben, Interviews zu führen, Programme zu präsentieren und Dokumentationen vorzubereiten. Lediglich zwischen den Jahren 1995 und 1997 wurde mit einem belgischen Fernsehsender eine Vereinbarung getroffen, dass einige Mitarbeiter von Med TV einen kurzen Einblick in Beleuchtung, Montage, Ton, Regie, Kameraführung bekommen können. Das fand letztlich auch statt, wobei jedoch der belgische Sender darauf bestand, dass die Zusammenarbeit kurz sei und sie nicht öffentlich bekannt gemacht werden dürfe.

Es waren insbesondere junge Menschen aus Kurdistan, die an der neuen Arbeit im Fernsehen teilnahmen und sich dort allmählich in alle technischen Bereiche einarbeiteten. Zu Jahresbeginn 1998 bestand das gesamte technische Fernsehteam dann bereits nur noch aus kurdischen Jugendlichen.

In diesem Zusammenhang ist mir wichtig zu betonen, dass die heute existierenden dutzenden kurdischen Fernsehsender alle auf der Vorarbeit Med TVs beruhen. Von vermeintlich einfachen Dingen, wie das Erwerben einer Satellitenlizenz oder die Auswahl eines passenden Gebäudes, bis hin zur Lichtgestaltung für eine Konzert in einem Stadion usw.: In dieser Hinsicht war Med TV für die Nachfolgenden eine Art Berufsschule.

Hunderte von Menschen konnten diese Möglichkeit nutzen und erlernten verschiedene Berufe und boten der kurdischen Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich von der Abhängigkeit der arabischen, türkischen und persischen Sprache zu lösen. Die bisherigen Fernsehsender waren dazu da, die Ideologie der jeweiligen Staaten zu verbreiten und insbesondere auch Kurd*innen zu assimilieren. Diese wurden in vielen Sendungen als Terroristen, Separatisten und Banditen dargestellt und so zu einer Gesellschaft zweiter Klasse herabgestuft. Gleichzeitig sollten diese Sender auch die Existenz kurdischer Gebiete, Städte und Menschen leugnen und dem Vergessen anheimfallen lassen. Med TV war somit nicht einfach nur ein Fernsehsender unter vielen, sondern vor allem eine Antwort auf Verleugnung und Assimilation. Er brachte Kurdistan in all seinen Farben und seiner Vielfalt auf die Bildschirme, wodurch der türkische, arabische und persische Kolonialismus offengelegt wurden. In dieser Hinsicht folgte der Sender einer antikolonialen Haltung, die nicht stumpfe Propaganda auf Basis von Nationalismus verbreitete, sondern den Menschen Informationen und Fakten zur Verfügung stellte, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Erst so wurde allgemein bekannt, dass kurdische Dörfer niedergebrannt wurden, die Religion vieler Kurd*innen kriminalisiert wurde, Kurdistan selbst immer weiter besetzt wurde und dass letztlich alle kurdischen Dialekte zur einzig verbotenen Sprache in der Türkei erklärt wurden. Med TV ermöglichte erstmalig, dass Menschen weltweit dies alles verfolgen und aktiv werden konnten.

Zum Schluss muss auch noch auf die Situation der Frauen beim Aufbau des kurdischen Fernsehens eingegangen werden, da ohne deren Erwähnung viel von dem fehlen würde, wofür Med TV eigentlich stand. Frauen waren nie nur in den Arbeitsbereichen Moderation, Kamera und technische Arbeiten tätig, sondern sie waren von Anfang an stets mit einer Mindestquote von 50 Prozent an der redaktionellen Arbeit beteiligt. Ein weiterer Grundsatz bis heute ist, dass die Frauen selbst entscheiden, in welchen Arbeitsbereichen sie tätig werden. Das sind nur zwei der Prinzipien, die die meisten kurdischen Fernsehsender bis heute verfolgen, da sich die Sender letztlich als Teil einer Gesellschaft verstehen, die von einer unterdrückten feudalen hin zu einer freien und gleichberechtigten Gesellschaft strebt. Hier sei besonders eine Frau erwähnt, die die Arbeit bei Med TV damals mit geleitet hat und bis heute ein großes Vorbild ist: Gurbetelli Ersöz war die erste Chefredakteurin des Senders in der Türkei und Nordkurdistan, gleichzeitig war sie auch die Hauptverantwortliche für die Veröffentlichung der Zeitung »Özgür Gündem«. Nachdem sie als Vorreiterin der Gesellschaft ständig durch die Repression des türkischen Staates betroffen war und viel Zeit im Gefängnis verbringen musste, schloss sie sich der Guerilla an. Auch dort war sie jahrelang, insbesondere als Vorbild für freie Frauen, aktiv, bis sie 1998 im Kampf gegen den türkischen Staat gefallen ist.

Wer sich also intensiver mit der Geschichte des Fernsehsenders Med TV auseinandersetzt, wird schnell merken, dass es sich dabei nicht um einen gewöhnlichen Fernsehsender handelt, sondern um ein Stück Widerstandsgeschichte. Er hat über die wenigen Jahre, die er senden durfte, viel Wandlung erlebt. Er war sowohl Bildungsort und Schule, als auch auch Symbol der Hoffnung einer ganzen Gesellschaft geworden. Die heute existierenden dutzenden kurdischen Fernsehsender mit Einschaltquoten auf der ganzen Welt sind aus der medialen Welt nicht mehr wegzudenken, genauso wie heute niemand mehr die Kultur, Geschichte und vor allem die Existenz der kurdischen Gesellschaft verleugnen kann.

Firaz Baran war von 1997 bis 2007 Reporter für Med TV, Medya TV und Roj TV und arbeitete ebenfalls als Synchronsprecher.

Fußnote:

1 - Im 14. Jahrhundert gegründete Religionsgemeinschaft in den kurdischen Gebieten im Grenzbereich Irak/Iran. Die Religion der Yaresan, auch Ahl-e Haqq genannt, weist neben schiitischen Facetten vor allem deutliche Elemente des Êzîdentums und Alevitentums auf.


Kurdistan Report 214 | März/April 2021