Nach der Niederlage im Arzach-Krieg befindet sich der armenische Nationalismus in der Krise – ein Blick nach Rojava könnte neue Perspektiven eröffnen

In Putins Hand

Dr. Nick Brauns, Historiker und Journalist

Die Niederlage im 44-Tage-Krieg um die international nicht anerkannte Republik Arzach1 im Herbst letzten Jahres hat zu einer schweren innenpolitischen Krise in Armenien geführt. Die Opposition fordert mit Großdemonstrationen den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan, den sie für die Kriegsniederlage verantwortlich macht. Angesichts der massiven Überlegenheit der von der Türkei unter anderem mit Drohnen und als Kanonenfutter dienenden dschihadistischen Söldnern aus Syrien militärisch unterstützten aserbaidschanischen Armee hatte sich Paschinjan nach dem Fall von Shushi, der strategisch gelegenen zweitgrößten Stadt von Arzach, gezwungen gesehen, am 10. November 2020 ein von Moskau vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. Infolge dieses Abkommens mussten die Anfang der 1990er Jahre von Armenien als Pufferzone um Berg-Karabach besetzten aserbaidschanischen Provinzen wieder der Kontrolle Bakus übergeben werden. Zudem verblieben die von der aserbaidschanischen Armee eroberten Gebiete Hadrut und Shushi in Arzach unter aserbaidschanischer Herrschaft. Im Restgebiet von Arzach wurde vorerst für fünf Jahre eine 2000-köpfige russische Friedenstruppe stationiert, die auch die Verbindungsstraße nach Armenien in der nun wieder unter aserbaidschanischer Kontrolle stehenden Provinz Latschin sowie einen über armenisches Territorium in die aserbaidschanische Enklave Nachitschewan führenden Verbindungsweg kontrolliert. Aseris, die in den 1990er Jahren aus den sieben armenisch besetzten Provinzen um Berg-Karabach vertrieben wurden, kehren jetzt wieder in ihre einstigen Wohngebiete zurück. Dem ging allerdings die Vertreibung der dort lebenden armenischen Bewohner*innen voran, deren jahrhundertealte Kirchen und Kulturstätten von aserbaidschanischen Soldaten systematisch zerstört werden, um nun jede Erinnerung an armenisches Leben in diesen über Jahrtausende gemischt besiedelten Gebieten auszulöschen. Der zukünftige Status von Arzach bleibt weiterhin ungeklärt. Während Baku maximal kulturelle Selbstverwaltung mit armenischsprachigen Schulen zugestehen will, fordert die Führung der Republik Arzach weiterhin volle Selbstbestimmung, das heißt Unabhängigkeit.

Raketenkrise in Jerewan

Für viele armenische Patriot*innen gilt Paschinjan aufgrund der Unterzeichnung des Waffenstillstands, der den Weg zu ethnischen Säuberungen auch von Teilen Arzachs freigemacht hat, als »Verräter«. Von aserbaidschanischen Soldaten über Social Media verbreitete Aufnahmen ihrer Gräueltaten, darunter Folterungen und Enthauptungen von armenischen Kriegsgefangenen und die Zerstörung armenischer Heiligtümer, heizen die nationalistische Stimmung in Armenien und unter der großen armenischen Diaspora in aller Welt zusätzlich an. Zu seiner Verteidigung behauptete der Ministerpräsident Ende Februar, die armenische Armee habe ihre von Russland gekauften Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander im Krieg kaum einsetzen können, weil diese »nicht« beziehungsweise »nur zu zehn Prozent funktioniert« hätten. Als sich Vizegeneralstabschef Tigran Khachatrjan über diese Aussagen lustig machte, wurde er von Paschinjan entlassen. Das wiederum erzürnte die Armeeführung so, dass sie ihrerseits in einem Memorandum am folgenden Tag den Rücktritt des Ministerpräsidenten verlangte. Da die Truppe – wohl auf Druck ihrer russischen Ausbilder hin – keine weiteren Schritte unternahm, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, handelte es sich zwar um eine verfassungswidrige Einmischung in die Innenpolitik, nicht aber – wie von Paschinjan behauptet – um einen Putschversuch. Der armenische Präsident Armen Sarkissjan weigerte sich allerdings, die von Paschinjan nach dem Memorandum verfügte Absetzung des Generalstabschefs zu unterzeichnen. Die russische Regierung betonte derweil, das Iskander-Raketensystem sei im jüngsten Kaukasus-Krieg überhaupt nicht zum Einsatz gekommen und Paschinjan diesbezüglich einer Fehlinformation aufgesessen. Warum die armenische Armee die Kurzstreckenraketen nicht zum Einsatz gebracht hat, ist ungeklärt. Hier mag der Druck Moskaus, das über wesentlichen Einfluss auf die armenischen Streitkräfte verfügt, eine Rolle gespielt haben. Denn ein Einsatz der im armenischen Kernland stationierten Raketen hätte einen aserbaidschanischen Gegenangriff auf Armenien selbst auslösen können. Dann aber hätte Russland, das gute wirtschaftliche Beziehungen auch zu Aserbaidschan unterhält, – anders als bei einem Angriff auf Arzach – seiner militärischen Beistandsverpflichtung für Armenien im Rahmen des Verteidigungsbündnisses OVKS nachkommen müssen.

Den alten Eliten, die mit der von Paschinjan geführten »samtenen Revolution« 2018 ihren Einfluss auf den Staat und seine Pfründe einbüßen mussten, erscheint das Ausspielen der patriotischen Karte heute als probates Mittel, um selbst wieder an die Macht zu kommen. Gegen Paschinjan und seine Mein-Schritt-Allianz stehen die nicht im Parlament vertretene nationalistisch-autoritäre Republikanische Partei, die das Land zwei Jahrzehnte lang regiert hatte, sowie die Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnaken) und als parlamentarische Opposition die prorussische liberal-konservative Partei Blühendes Armenien. Unterstützung erhält dieses Oppositionsbündnis, dem noch kleinere nationalistische Parteien angehören, von der Kirche, der obersten Militärführung sowie den Oligarchen in Armenien und Russland.

Paschinjan hat angesichts der Proteste mittlerweile die Flucht nach vorne angetreten und für den 20. Juni Neuwahlen anberaumt. Um den Weg dahin freizumachen, will Paschinjan im April zurücktreten und nur noch kommissarisch im Amt bleiben. Es bestehen indessen gute Chancen, dass der Politiker, der 2018 im Gefolge der von ihm geführten »samtenen Revolution« mit mehr als 80 Prozent der Stimmen zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, erneut Regierungschef werden wird. Zwar sehen ihn Meinungsumfragen nach der Kriegsniederlage bei nur noch 30 Prozent. Doch das Personal der Republikanischen Partei, die jahrzehntelang Armenien wie ihren Privatbesitz verwaltet und ausgebeutet hat, ist durch Korruption und Vetternwirtschaft in der Bevölkerung so diskreditiert, dass sie nicht als Alternative wahrgenommen wird. Sollte Paschinjan im Juni – wenn auch stark geschwächt – im Amt bestätigt werden, wäre das durchaus im Interesse Russlands. Ursprünglich hatte Paschinjan sein Amt zwar mit der erklärten Absicht angetreten, Armenien durch eine nicht zuletzt militärische Öffnung gegenüber den USA und Europa aus der einseitigen Abhängigkeit von Russland zu führen. Doch mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens hat Paschinjan sein Schicksal in die Hand Putins gelegt. Und angesichts der lautstark geäußerten Revancheforderungen der nationalistischen Opposition erscheint ein geschwächter und abhängiger Paschinjan heute in Moskaus Augen als der beste Garant für die Einhaltung des Friedensvertrages mit Aserbaidschan. Der russische Einfluss auf Armenien ist militärisch und ökonomisch so erheblich, dass es nicht übertrieben erscheint, die Abhängigkeit der Kaukasusrepublik von Russland mit dem Status einer Halbkolonie zu beschreiben. Jahrzehntelang haben russische Oligarchen Hand in Hand mit den armenischen Eliten das Land ausgeplündert und in Rückständigkeit gehalten. Die armenische Energieversorgung ist bis zu 80 Prozent in russischem Besitz. Russisches Kapital dominiert zudem den Handel Armeniens, das auch seit 2013 der von Russland geführten Zollunion angehört. Zudem unterhält Russland in Armenien einen großen Militärstützpunkt.

»Damit Russland seine Einflusszone Südkaukasus bewahren kann, braucht es in Jerewan eine Regierung, die sich als Protégé sieht. Denn Loyalität ist für Putin nicht nur im Inland wichtig sondern auch im ›nahen‹ Ausland. Deshalb kann Russland mit dem ›hard power‹-Ansatz Erdoğans gegenüber Armenien gut leben«, heißt es in einer Analyse des aus Bundesmitteln finanzierten Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. „Die Einmischung Ankaras ist für den Kreml eine Art Hilfsmittel, um den seit 2018 verlorenen Einfluss in Armenien zurückzugewinnen. Zugleich hat Russland der Türkei aber eine rote Linie gezogen, nämlich das armenische Territorium.« (SWP Aktuell Nr. 88, November 2020).

Von Enver über Atatürk zu Erdoğan

Doch auf weitere Gebietsgewinne im armenischen Kernland schielen die Kriegsstrategen in Ankara und Baku bereits. Denn die Panturkisten haben nach ihrem Erfolg im Krieg um Arzach Blut geleckt. Der aserbaidschanische Machthaber Ilham Aliyew erklärte in seiner Rede während der Siegesparade am 10. Dezember 2020 in Baku über armenisches Kernland, »Sangesur, Sewan und Khanat Jerewan sind historisch aserbaidschanische Länder«. Und der bei der Parade anwesende türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan pries dort den früheren osmanischen Kriegsminister und Schlächter Enver Pascha, dessen »Seele nun ruhen kann«. Erdoğans Allianzpartner Devlet Bahçeli von der faschistischen MHP kündigte die Eröffnung einer »Schule der Grauen Wölfe« im besetzten Shushi an. Im aserbaidschanischen Ağdam werden zudem türkische Soldaten im Rahmen eines gemeinsam mit der russischen Armee betriebenen Überwachungszentrums für den Waffenstillstand stationiert. Absehbar ist so, dass das Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 keinen dauerhaften Frieden im Kaukasus bringen wird, sondern lediglich eine Übergangsphase zum nächsten großen Krieg im Kaukasus bedeutet. Bis dahin werden die von der Türkei unterstützten aserbaidschanischen Truppen auf Provokationen im Rahmen eines Krieges niederer Intensität entlang der Demarkationslinien setzen, um Arzach weiter zu schwächen und die Zivilbevölkerung zur Flucht zu treiben.

Das nächste anvisierte Kriegsziel der pantürkischen Allianz scheint die südarmenische Provinz Sjunik zu sein, um so eine stabile Verbindung zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan zu schaffen. In dem von Armenien und dem Iran umschlossenen Gebiet Nachitschewan leben nach offiziellen Angaben rund 450.000, in Wahrheit aber wohl wesentlich weniger Menschen. Bereits der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hatte die strategische Bedeutung dieser ausschließlich von Aseris bewohnten Region erkannt. In einem russisch-türkischen Vertrag 1921 ließ Atatürk verankern, dass das damals noch nicht an die Türkei grenzende Gebiet nicht in Armenien eingegliedert wurde. Infolge eines Gebietsaustausches mit Iran erhielt die Türkei 1932 dann eine 17 Kilometer lange Grenze zu Nachitschewan, das den Status einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik hatte. Ihrem Traum nach einer direkten Verbindung zwischen den »Brudernationen« Türkei und Aserbaidschan sind die Panturkisten seit dem Berg-Karabach-Krieg einen deutlichen Schritt näher gekommen. Infolge des Waffenstillstandsabkommens wurde ein Korridor von Nachitschewan nach Aserbaidschan eröffnet. Der aserbaidschanische Historiker und Parlamentarier Musa Qasımlı feierte dies bereits mit den Worten: »Mit dem Abkommen wird die Blockade von Nachitschewan und Aserbaidschan beendet. Aserbaidschan wird über die Eisenbahnlinie Baku–Nachitschewan–Iğdır–Kars–Istanbul Zugang zur Türkei und Europa erhalten.« Die Verbindung ist allerdings vom Wohlwollen Moskaus abhängig, da russische Truppen die Überlandstraße durch armenisches Territorium kontrollieren. Doch im aserbaidschanischen Fernsehen wurden bereits Karten gezeigt, die die zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan gelegene armenische Provinz Sjunik als aserbaidschanisches Staatsgebiet reklamieren. Gemeinsame türkisch-aserbaidschanische Militärmanöver in Nachitschewan und der Provinz Qers (tr. Kars) im Osten der Türkei wie zuletzt im Februar 2021 müssen damit als klare Drohung verstanden werden, dass in Ankara und Baku die Bereitschaft besteht, erneut mit militärischer Gewalt Tatsachen zu schaffen. Dass Russland dann seiner Verpflichtung zum Schutze seines Protégés Armenien nachkommen wird, ist nicht garantiert. So zeigt das russische Agieren in Syrien, dass bei der russischen Führung durchaus Bereitschaft besteht, für weitergehende strategische Interessen territoriale Verluste ihrer Verbündeten in Kauf zu nehmen.

Arzach und Rojava

Russland tritt in Syrien als Schutzmacht der Regierung von Präsident Baschar al-Assad auf. Mit dem Ziel, die NATO zu schwächen hat Moskau dabei Ankara als Unterstützer der dschihadistischen Kampfgruppen in das Astana-Format zusammen mit Iran eingebunden. Die Besetzung von Teilen des syrischen Territoriums wie in Idlib oder Efrîn nimmt der Kreml dabei für seine strategischen Ziele in Kauf. Russland ist auch Garantiemacht für einen Waffenstillstand, der unter Vermittlung des Kremls nach dem erneuten – mit grünem Licht sowohl der US-Regierung wie der russischen Regierung erfolgten – Einmarsch der türkischen Armee im Oktober 2019 in das Autonomiegebiet Rojava vereinbart wurde. Die russische Regierung versucht dabei, die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien zur politischen Unterordnung unter Damaskus und zur Aufkündigung ihrer militärischen Allianz mit den US-Truppen zu bewegen. Der Knüppel, um dies durchzusetzen, ist die Türkei, die ihre Angriffe auf Rojava trotz des Waffenstillstands im Rahmen eines Krieges niederer Intensität mit willkürlichem Beschuss von Dörfern, Sabotageaktionen und Überfällen ihrer Söldner fortsetzt. Die russischen Truppen in Nordsyrien halten zwar den Luftraum weitgehend gesperrt für türkische Kampfflugzeuge – nicht aber für Drohnen –, doch sie schauen immer wieder weg, wenn die Türkei beziehungsweise ihre dschihadistischen Söldner bei Ain Issa oder Til Temir (Tel Tamer) an den Rändern ihrer Besatzungszone größere Offensiven in Richtung der M4-Schnellstraße starten. Die russische Armee, die auch gemeinsame Patrouillen mit türkischen Militärs in Rojava durchführt, lässt die Invasionstruppen gewähren, um so den Druck auf die Autonome Verwaltung zu erhöhen. Mehrfach haben die türkisch-dschihadistischen Angreifer dabei auch Stützpunkte syrischer Regierungstruppen, die infolge eines Beistandsabkommens mit den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) in Rojava stationiert sind, unter Beschuss genommen.

Armenien ist strategisch auf Gedeih und Verderb an die Schutzmacht Russland gebunden. Demgegenüber verfügen die nord- und ostsyrische Autonomieverwaltung und ihre Streitkräfte durch eine taktische Bündnispolitik über eine größere Flexibilität, die es ihnen bislang ermöglicht hat, dem Druck zur Unterwerfung zu widerstehen. Die Autonomieverwaltung hat sich nicht strategisch an einen Partner gebunden, sondern unterhält taktische Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu Russland und zur syrischen Regierung. So kann sie zwischen den Interessen der Groß- und Regionalmächte lavieren und diese auch gegeneinander ausspielen. Die armenischen Streitkräfte haben im Krieg um Arzach weitgehend auf konventionelle Kriegsführung gesetzt und dabei auf ihre Militärtechnologie vertraut. Eine Folge sind hohe menschliche Verluste auf beiden Seiten. Doch letztendlich musste die armenische Seite an der rein materiellen Übermacht Aserbaidschans scheitern. Dagegen führen die Demokratischen Kräfte Syriens in Nord- und Ostsyrien einen revolutionären Volkskrieg zur Verteidigung und zum Ausbau ihrer Errungenschaften, der alle personellen, materiellen und ideologischen Ressourcen der Region nutzen kann. Militärische Operationen gehen dort einher mit politischen Umwälzungen – die Bildung von Rätestrukturen zur Selbstverwaltung der örtlichen Bevölkerung und der Durchsetzung von Frauenrechten und den Rechten bislang unterdrückter Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften. Das seinem Selbstverständnis nach weder kurdisch-nationalistisch noch überhaupt nationalstaatlich orientierte Projekt der demokratischen Autonomie erscheint dabei anschlussfähig für alle ethnischen Gruppen und Glaubensgemeinschaften im syrischen Bevölkerungsmosaik. Dies ist das Geheimnis, warum sich Rojava in einem Meer von Feinden bislang behaupten konnte. Angesichts der fortgesetzten Bedrohung Arzachs und Armeniens durch die pantürkische Allianz von Baku und Ankara sowie die Unzuverlässigkeit der russischen Schutzmacht kann der Blick nach Nord- und Ostsyrien helfen, für den Kaukasus eine neue Perspektive jenseits des Zwangskorsetts des bürgerlichen Nationalstaates zu finden, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker ebenso berücksichtigt wie den jahrtausendealten multiethnischen und multireligiösen Charakter der Region.

Fußnote:

1 - Arzach ist die armenische Bezeichnung für die Region Berg-Karabach. Der dortige, international nicht anerkannte Staat hieß erst Republik Bergkarabach und nennt sich seit 2017 Republik Arzach.

Erhobenen Hauptes durch die Hardenbergstraße

Am 15. März 1921, wurde Talaat Pascha, einer der drei Hauptverantwortlichen für den Genozid an der armenischen Bevölkerung und weiteren christlichen Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, in der Berliner Hardenbergstraße erschossen – durch eine Kugel aus der Pistole des armenischen Revolutionärs Soghomon Tehlirian. Der osmanische Innenminister und spätere Großwesir war Ende 1918 mit deutscher Hilfe nach Berlin entkommen, wo er von den Rächern der »Operation Nemesis« aufgespürt wurde.

»Ich habe einen Menschen getötet, doch ein Mörder bin ich nicht«, rechtfertigte sich der Attentäter, Soghomon Tehlirian, am 2. Juni 1921 vor dem Moabiter Landgericht. In erschütternden Worten schilderte der in Ezirgan (tr. Erzincan) geborene 24-jährige Armenier die von Talaat zu verantwortenden Gräueltaten an seinen Landsleuten. Dies sei »der erste wirkliche Kriegsverbrecherprozess«, befand die sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts. »Nur mit der einen Einschränkung, dass nicht der Kriegsverbrecher, sondern der Rächer unter Anklage stand. Aber in Wirklichkeit saß in diesen zwei Tagen auf der Anklagebank der blutbefleckte Schatten Talaat Paschas.« Die deutsche Regierung hatte allerdings kein Interesse daran, das Schicksal der Armenier*innen vor den Augen der Weltöffentlichkeit in einem deutschen Gerichtssaal zur Sprache kommen zu lassen. Denn als engster militärischer Verbündeter der Türkei trug das deutsche Kaiserreich erhebliche Mitschuld an den Verbrechen. So fiel nach nur zwei Tagen bereits das Urteil. Die Geschworenen befanden Tehlirian für »nicht schuldig«, da er zum Tatzeitpunkt psychisch unzurechnungsfähig gewesen sei.

Anlässlich des 100. Jahrestags der Erschießung Talaat Paschas fand am Ort des Geschehens eine vom Bündnis »United Against Turkish Fascism« organisierte Demonstration statt. Unter dem Motto »Gerechtigkeit für die Opfer des Völkermords – Genozidverleugnung heißt Fortsetzung des Verbrechens« zogen gut hundert Menschen nach einer Auftaktkundgebung am Ort der Erschießung Talaats vorbei an der CDU-Zentrale bis zum türkischen Konsulat. Gerayer Koutcharian von der Deutsch-Armenischen Gesellschaft sprach über die Bedeutung der Operation Nemesis. Für alle Armenier*innen und Menschen aus Kleinasien bedeute die nach der altgriechischen Göttin der Vergeltung benannte Operation eine »gerechtfertigte Bestrafung« für die Verantwortlichen des Genozids. »Nemesis wurde 1919 in Jerewan während des neunten Parteitags der Dashnaktsutiun (Armenische Revolutionäre Föderation) ins Leben gerufen, um die Völkermordverbrecher zu bestrafen. Eigentlich sollte man diese Verbrecher vor ein armenisches Gericht stellen. Aber Ende 1920 hatte Armenien seine Souveränität verloren, also blieb nur noch Selbstjustiz der Nemesis-Rächer.« Heute gehe jede Armenierin und jeder Armenier erhobenen Hauptes durch die Hardenbergstraße, führte Koutcharian weiter aus. »Und sie erinnern sich daran, dass wir nicht nur wehrlose Opfer waren. Durch die Operation Nemesis wurde unsere Menschenwürde wiederhergestellt.« Im Namen des kurdischen Frauenrats Dest-Dan erinnerte eine Aktivistin daran, dass der Genozid von 1915/16 etwa zwei Millionen Menschen das Leben kostete. »Dies sollte Hitler, als er und die Nationalsozialisten begannen, den jüdischen Völkermord vorzubereiten, dazu bringen, folgende Aussage zu machen: ‚Wer redet heute noch von den Armeniern?‘« Den gleichen fanatischen Traum wie das jungtürkische Triumvirat von damals verfolge heute die Regierung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, führte die Aktivistin weiter aus: »Sie beteiligen sich am Krieg in Libyen, Syrien, Irak, Armenien, Kurdistan und Zypern, treiben den Konflikt im Mittelmeer weiter und führen weiterhin ethnische Säuberungen durch. Aktuell kann man das in der westkurdischen Stadt Efrîn und anderen von der Türkei besetzten Gebieten beobachten.«

Das Deutsche Reich als Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches leistete aktive Beihilfe zum Genozid an den Armenier*innen, führte der Historiker Nick Brauns vor der Zentrale der CDU aus. Mithilfe der Bagdadbahn wurden armenische Zwangsarbeiter*innen in den Tod deportiert. Deutsche Offiziere ließen armenische Stadtviertel beschießen und rechtfertigten dies damit, dass »der Armenier wie der Jude sei« und zur Rettung des Osmanischen Reiches vernichtet werden müsse. Der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg verbot Proteste gegen die Massaker an den Armenier*innen mit der Begründung, »unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.«

Vor der türkischen Botschaft gab es eine gemeinsame Abschlusskundgebung mit den bereits dort für die Freiheit von Abdullah Öcalan demonstrierenden Aktivistinnen und Aktivisten der kurdischen Jugendbewegung unter den Fahnen des armenischen Bataillons »Şehîd Nubar Ozanyan«, der gelb-rot-grünen Fahne, die für Rojava steht, und Fahnen mit dem Bild Öcalans.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021