Eine Chance im politischen Kampf für Demokratie

Nach Gare

Cafer Tar, Journalist

Demonstration in Şehba gegen den Invasionsversuch der Türkei in Gare. | Foto: anfIn der militärischen und politischen Geschichte von Ländern gibt es Ereignisse, die einen Wendepunkt darstellen. Ereignisse dieser Qualität bestimmen sowohl die Innenpolitik als auch die internationalen Beziehungen eines Landes. Die Operation des türkischen Militärs vom 10. Februar 2021 gegen die Guerilla im Gebiet Gare in Südkurdistan wird wohl die Innenpolitik und die internationalen Beziehungen der Türkei eine lange Zeit bestimmen. Diese Operation wurde von 41 türkischen Kampfflugzeugen und einer Vielzahl von Drohnen und Helikoptern begleitet. Angesichts des Widerstands der Guerilla musste sich die türkische Armee am 14. Februar zurückziehen.

Der faschistische Block von AKP und MHP ist aufgrund der Armut im Inland und der aggressiven Politik im Ausland regional isoliert. Mit der Invasion in Gare versuchten sie mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wäre die Operation erfolgreich gewesen, dann wäre sowohl der politische Druck im Inland überwunden als auch den mit der Türkei zerstrittenen Ländern eine Botschaft vermittelt worden. Doch beides ist nicht geschehen. Der Plan von Erdoğan und Bahçeli ist mit der militärischen Niederlage nach hinten losgegangen. Im Inland hat das Vertrauen in beide einen Rückschlag erfahren. Die Nachbarstaaten haben begonnen, die Türkei von nun an weniger ernst zu nehmen.

Die aktive russische Unterstützung in Syrien und das grüne Licht der USA für die Interventionen haben die Türkei zu einer offenen Bedrohung für die Länder rund um das östliche Mittelmeer gemacht. Die Türkei war am Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach an der Seite Aserbaidschans mit Drohnen und Militärberatern beteiligt. Diese aggressive Politik wollte sie in Gare auf die Spitze treiben.

Berg-Karabach ist eine Region, in der Armenier, Aserbaidschaner, Kurden und die anderen Völker seit langem gemeinsam leben. Die seit vielen Jahren geschwisterlich zusammenlebenden Völker in der Region wurden von diversen Kräften einander zu Feinden gemacht. In Konflikten, von denen niemand profitiert, haben tausende Menschen in der Region ihr Leben verloren und ihre Heimat verlassen müssen. Die Türkei und andere Länder der Region heizten immer wieder den Krieg in Berg-Karabach an, anstatt Frieden zu predigen. Sie haben die Völker in der Region auf Krieg und Konflikt vorbereitet. Zuletzt stachelte die Türkei Aserbaidschan zu einem Krieg gegen Armenien in Berg-Karabach an. Russland, das mit der gegenwärtigen Regierung in Armenien Probleme hat, hat all diese politischen Entwicklungen und die menschliche Tragödie beobachtet. Die Türkei hingegen verwandelte die Gefechte in Berg-Karabach in eine Show für ihre produzierten Drohnen, um sie auf dem internationalen Markt verkaufen zu können.

Die türkischen Medien propagierten nach dem Krieg, anstatt von der Zerstörung und dem Trauma des Krieges zu berichten, die Effektivität der türkischen Drohnen. Die Invasion in Gare ist genau an diesem Punkt von solcher Bedeutung. Diese aggressive Politik, die in Syrien begann und in Libyen, im östlichen Mittelmeer und in Berg-Karabach fortgesetzt wurde, sollte in Gare verstetigt werden.

Selbst die Unterstützer des Regimes können nichts Positives über die Zukunft der Türkei sagen. In einer Felduntersuchung eines Meinungsforschungsunternehmens wurde ermittelt, dass die Hälfte der in der Türkei lebenden Bevölkerung die Türkei verlassen möchte. Außer Krieg und falschen Siegesmeldungen kann das Regime den Menschen nichts mehr bieten. Seine gesellschaftliche Basis bröckelt mit jedem Tag.

Die Türkei, die in der Vergangenheit als wichtigstes Land für die regionale Stabilität galt und daher internationale Unterstützung erhielt, ist nun zur größten Bedrohung für den Frieden in der Region geworden. Die deutsche Bundesregierung hat jahrelang all diese negativen Entwicklungen ignoriert und die Erdoğan-Regierung geschützt. Trotz dieser antidemokratischen Position gab es eine Rechtfertigung: »Die wichtigsten europäischen Länder, darunter auch Deutschland, haben jahrelang gehofft, dass die Türkei die Flüchtlingswelle aus Asien stoppt, und sie daher unterstützt!«

Doch Erdoğan hat die Türkei in eine solche Instabilität hineinmanövriert, dass, wenn dies weiter andauert, die Menschen in der Türkei selbst flüchten werden. Dort herrscht ein unglaublicher Trend zur Verarmung, der in eine gesellschaftliche Explosion münden kann. Um den gesellschaftlichen Absturz, den das Regime selbst geschaffen hat, abzuwenden, übernimmt es mithilfe von Gewalt die Initiative, um die Aufmerksamkeit zu zerstreuen und die Phase zu militarisieren.

Die Niederlage in Gare ist so offensichtlich, dass Erdoğan zum ersten Mal gezwungen war zu erklären »Wir haben es nicht geschafft!«. Die Operation war im Vorfeld penibel geplant worden. Verteidigungsminister Hulusi Akar und der Chef des [Inlandsnachrichtendienstes] MİT, Hakan Fidan, hatten die Regionalstaaten zur diplomatischen und militärischen Vorbereitung bereist.

Erdoğan und Bahçeli wollten eine erfolgreiche Operation in Gare gegen die kurdische Guerilla in politischen Profit ummünzen und für die kommenden Wahlen ausnutzen. Der Widerstand der Guerilla hat die Pläne des Regimes ins Leere laufen lassen. Ein Erfolg in Gare hätte eine Fortsetzung dessen aggressiver Haltung im östlichen Mittelmeer, in Syrien, im Irak, im Kaukasus und innerhalb der Türkei bedeutet. Doch die kurdische Guerilla hat die Pläne des Faschismus durchkreuzt und damit auch den Frieden in der Region geschützt. Nach Gare haben die demokratischen Kräfte die moralische Dominanz in einem bedeutenden Maße gewonnen. Die progressiven Kräfte müssen diese Chance nutzen und ihren Widerstand gegen das Regime verstärken. Sonst wird es mit einem neuen Angriff die Initiative zu übernehmen versuchen. Dies darf der Kampf um Demokratie auf keinen Fall erlauben.


Kurdistan Report 215 | Mai/Juni 2021