HDP spielt entscheidende Rolle im Kampf um demokratische Rechte in der Türkei

Systematische Unterdrückung als Grundlage der »neuen Türkei« Erdoğans

Vertretung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Europa, 18. Mai 2021

Systematische Unterdrückung als Grundlage der »neuen Türkei« ErdoğansDie »neue Türkei« des Recep Tayyip Erdoğan zeichnet sich aus durch Einschüchterung der Opposition, Verfolgung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und die Vernichtung der letzten Überreste der Zivilgesellschaften. Im Ausland offenbart sie sich durch das Erpressen der Europäischen Union, Interventionen in benachbarte Staaten und schonungslose militärische Aggression. Ein weiterer Aspekt der »neuen Türkei« ist, dass Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) eine Koalition mit der ultranationalistischen rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) eingegangen ist, um an der Macht zu bleiben.

Mangel an Demokratie in der Türkei ist keinesfalls ein neues Phänomen, sondern ist seit Gründung der Republik tief in ihr verankert. Und trotzdem hat in der Geschichte der Türkei der Kampf um Demokratie nie aufgehört und geht auch heute noch weiter. Als die AKP 2002 an die Macht kam, erklärte der Parteivorsitzende Erdoğan der Öffentlichkeit in der Türkei sowie auch außerhalb des Landes, die AKP werde eine Politik verfolgen, die sich die Herausbildung einer stabilen und demokratischen Türkei auf die Fahnen geschrieben hat.

Demzufolge sollten die kollektiven Rechte der nicht repräsentierten Volksgruppen und der Frauen und Elemente einer demokratischen Gesellschaft in einer neuen türkischen Verfassung gewährleistet werden. Auch die »Politik der null Probleme mit unseren Nachbarn« sollte als Antwort auf die immer schneller werdenden Veränderungen in der Welt angewendet werden. Kurz gesagt, Erdoğan hatte sowohl das Inland als auch das Ausland davon überzeugt, dass die tiefsitzenden Probleme der Türkei, inklusive der kurdischen Frage, im Rahmen der Demokratisierung gelöst würden.

Im Gegensatz zu dieser Rhetorik entwickelte sich die schwache türkische Demokratie immer weiter zurück: Rechtsstaatlichkeit und internationale Konventionen wurden dauerhaft missbraucht, Transparenz und Rechenschaftspflicht abgeschafft. Heute ist es de facto verboten, (angeblich) gesetzlich garantierte demokratische Rechte auszuüben. Unter seinem autoritären Regime proklamiert Erdoğan die »neue Türkei«. Aber es gibt strukturelle und politische Probleme. Er baut die letzten Reste der Demokratie ab und versucht, seine Gegner mit allen Mitteln zu eliminieren, um sein Regime zu institutionalisieren.

In diesem Rahmen wird die HDP, die zweitstärkste Oppositionspartei, ständig strafrechtlich verfolgt und ihre Mitglieder, Abgeordneten und Ko-Bürgermeister:innen werden trotz gesetzeskonformen Handelns rechtswidrig festgenommen, inhaftiert und entlassen. Gleichzeitig besteht die Außenpolitik der »neuen Türkei«, die als »präventiv statt reaktiv« beschrieben wird, darin, extremistische bewaffnete Gruppen – einschließlich des »Islamischen Staates« (IS) – auszubilden und auszurüsten, die auch in den Kriegen im Irak und in Syrien, Libyen und Berg-Karabach Akteure waren und sind. In der heutigen »neuen Türkei« gelten soziale Gerechtigkeit, Frieden und die demokratische Entwicklung der Republik nicht mehr. Die sich verschlechternde Lage gefährdet auch die Hoffnungen auf Frieden und Wohlstand im Rest des Mittleren Ostens.

HDP nimmt als neue politische Partei an den Wahlen teil

In Demokratien werden die Förderung politischer Repräsentation und Teilhabe sowie der pluralistische und demokratische Erlass von Verordnungen und Gesetzen als Grundprinzipien anerkannt.

Es gibt keine Wahlhürde für unabhängige Kandidat:innen bei Wahlen. Politiker:innen der Vorgängerparteien der HDP traten als unabhängige Kandidat:innen zu den Wahlen an, um die für den Mandatsgewinn erforderliche 10%-Hürde zu umgehen. Die gewählten Abgeordneten bildeten dann eine Fraktion im Parlament. Dies ist jedoch keine Alternative zur 10%-Wahlschwelle, da eine Partei mit den unabhängigen Kandidat:innen aufgrund rechtlicher und wahlrechtlicher Restriktionen ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen kann.

In der Türkei wird bei jeder Wahl Millionen von Menschen (meist Kurd:innen) die Vertretung im Parlament nicht zugestanden, weil die Partei, für die sie gestimmt haben, die außergewöhnlich hohe Wahlhürde von 10 % nicht erreicht. Die 2012 gegründete HDP beschloss, bei den Wahlen am 7. Juni 2015 als politische Partei die 10%-Hürde zu überwinden. Dies weckte Befürchtungen in der AKP, die bisher noch nie eine Koalitionsregierung bilden musste. Die AKP befürchtete nicht zuletzt, dass ein Überwinden der 10%-Hürde seitens der HDP ihre Pläne zur Verfassungsänderung gefährden könnte, die sie als prioritär betrachtete. Vor den Wahlen 2015 traten die Kandidat:innen mehrerer Vorgängerparteien der HDP, die zu den Wahlen verboten oder unterdrückt wurden, als unabhängige Kandidat:innen an, wodurch die AKP mehr Sitze in den überwiegend kurdischen Regionen gewinnen konnte. In diesem unfairen System war die regierende AKP immer die Gewinnerin, weshalb sie für die Beibehaltung der 10%-Hürde plädiert.

HDP-Wahlkampf wird blutig angegriffen

Nach der Entscheidung der HDP, als politische Partei an den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 teilzunehmen, war sie systematischer und anhaltender Repression sowie einer Reihe von Bombenanschlägen ausgesetzt. Ein Blumenstrauß mit Sprengstoff und eine Paketbombe zerstörten die HDP-Regionalzentrale in Mersin und Adana. Am 5. Juni, nur zwei Tage vor den Wahlen, tötete die Explosion eines Sprengsatzes bei der Kundgebung der HDP in Amed (Diyarbakır) fünf Menschen und hinterließ hunderte Verletzte.

Trotz dieser blutigen Angriffe und des Wahlbetrugs in vielen Wahlbezirken übersprang die HDP mit 13,2 Prozent der abgegebenen Stimmen die 10%-Hürde und sicherte sich 80 Sitze in der türkischen Nationalversammlung. Politische Analysten erwarteten, dass der Wahlerfolg der HDP zu einem dauerhaften Frieden und zur Demokratisierung der Türkei beitragen würde. Die HDP spielte eine Schlüsselrolle bei den Friedensgesprächen, indem sie die laufenden Verhandlungen zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), ihrem Vorsitzenden Abdullah Öcalan (der seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmara-Meer inhaftiert ist) und der türkischen Regierung begleitete.

Der Wahlerfolg der HDP wurde von Erdoğan als Warnung bezüglich seiner Ambitionen, das politische Vakuum in der Türkei zum Aufbau eines autoritären Regimes zu nutzen, wahrgenommen. Für die AKP war dies der erste große Rückschlag seit der Machtübernahme von Erdoğans Partei im Jahr 2002. Eine Einparteienregierung war nicht mehr möglich, sie musste eine Koalition bilden, um an der Macht zu bleiben.

Am 1. November 2015 erklärte Erdoğan jedoch, vorgezogene Neuwahlen abhalten zu wollen, um die AKP-Mehrheit zurückzugewinnen und eine Einparteienregierung zu bilden. Die Kampagne seiner Partei war nach dem Diskurs konzipiert: »Wir haben ihre Botschaften verstanden, wir regeln das.« Diesen scheinbar positiven Worten folgten im politischen Feld Angriffe auf die HDP. Der ehemalige Premierminister Ahmet Davutoğlu sagte: »Wenn die Geschichte der Republik Türkei eines Tages geschrieben wird, wird eine der kritischsten Perioden die Zeit zwischen dem 7. Juni und dem 1. November sein.«

Ein neues dunkles Kapitel ...

Der Zeitraum, den Davutoğlu hervorhob, war in der Tat außergewöhnlich. Hinter verschlossenen Türen wurden offensichtlich eine Reihe von Plänen geschmiedet. In erster Linie sind die bis dahin seit drei Jahren andauernden Friedensgespräche gescheitert. In den überwiegend kurdischen Städten Cizirê (Cizre), Sûr und Nisêbîn (Nusaybin) wurden ganztägige Ausgangssperren verhängt, denen harte Militärinterventionen folgten. Diese waren der Grund für den Tod von Tausenden und die Vertreibung von einer halben Million Menschen. Ganze Teile dieser Städte wurden zerstört und Kriegsverbrechen, darunter extralegale Tötungen von Zivilist:innen, wurden von türkischen Soldaten und islamistischen Söldnern der türkischen Regierung verübt. Einige dieser Kriegsverbrechen wurden dokumentiert und die Beweise den Vereinten Nationen und mehreren europäischen Gerichten vorgelegt.

Die Büros und Parteizentralen der HDP wurden im ganzen Land von rassistischen Mobs gestürmt und niedergebrannt. Bei den Bombenanschlägen von Pirsûs (Suruç) (8. September 2015) verlor die Partei 33 junge Menschen aus einer ihrer Teilorganisationen, der Föderation Sozialistischer Jugendverbände (SGDF), bei einem Selbstmordanschlag eines IS-Kämpfers. In Ankara (10. Oktober 2015) wurden 103 HDP-Sympathisant:innen durch zwei Selbstmordattentate von IS-Kämpfern bei einer HDP-Friedenskundgebung getötet.

Aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen war die HDP gezwungen, alle Kundgebungen zu Zwecken des Wahlkampfes abzusagen. Die Monate vor den Wahlen markierten ein dunkles neues Kapitel in der türkischen politischen Landschaft. Und dennoch konnte die Partei bei den Wahlen am 1. November erneut die antidemokratische Hürde von 10 % überwinden.

Repressionen gegen die gesamte Zivilgesellschaft wurden »legalisiert«, als 2017 das sogenannte »Präsidialsystem türkischer Art« unter Notstandsgesetzen eingerichtet wurde. Mit diesem System nahm Erdoğan alle exekutiven, legislativen und judikativen Befugnisse unter seine Kontrolle. Human Rights Watch (2020) berichtete, dass »die Türkei in den letzten vier Jahren eine sich verschärfende Menschenrechtskrise mit einer dramatischen Erosion ihres Rechtsstaats- und Demokratierahmens durchlebt«.

Die AKP kompensiert ihre Niederlagen durch Verhaftungen

Die Hauptstrategie der AKP bleibt die Behinderung der HDP mit allen Mitteln, auch durch die Ernennung von nicht gewählten, von der Regierung ernannten Treuhändern (Zwangsverwaltern) anstelle von gewählten Vertreter:innen und durch Schauprozesse auf Grundlage unbegründeter und substanzloser Anklagen. Die Auslöschung der HDP auf der politischen Bühne scheint für die AKP zu einem existenziellen Thema geworden zu sein. Gesetze und Verordnungen, einschließlich der verbindlichen Konventionen über politische Repräsentation und Partizipation, werden zu diesem Zweck dauerhaft missbraucht.

Im Zeitraum 2015‒2018 und während der laufenden Wahlperioden wurde die Immunität von elf HDP-Abgeordneten aufgehoben.

Tabelle 1 zeigt die Abgeordneten, die für die Wahlperiode 2015-2018 gewählt wurden und mit verschärften Strafen belegt wurden. Zu diesen Abgeordneten gehörten auch unsere ehemaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdag* und Selahattin Demirtaş*.

Tabelle 1: Haftstrafen der Parlamentarier:innen, die für die Wahlperiode 2015-2018 gewählt wurden
Parlamentsabgeordnete Haftstrafen
Selahattin Demirtaş* 4 Jahre und 8 Monate
Figen Yüksekdag* 1 Jahr und 6 Monate
İdris Baluken 16 Jahre und 8 Monate
Çaglar Demirel 7 Jahre und 6 Monate
Abdullah Zeydan 8 Jahre, 1 Monat und 15 Tage
Gülser Yıldırım 7 Jahre und 6 Monate

 

Tabelle 2 zeigt die drei HDP-Abgeordneten, die für die Wahlperiode 2018‒2023 gewählt wurden und denen verschärfte Strafen auferlegt wurden.

Tabelle 2:Haftstrafen für die Parlamentarier:innen, die für die Wahlperiode 2018–2023 gewählt wurden
Parlamentsabgeordnete Haftstrafen
Musa Farisoğulları 9 Jahre
Leyla Güven 22 Jahre
Omer Faruk Gergerlioğlu 2,5 Jahre

 

Unsere ehemaligen Stellvertreter:innen Nazmi Gür, Ayla Akat Ata, Ayhan Bilgen (abgesetzer Bürgermeister von Qers (Kars)), Beyza Üstün und Emine Ayna wurden im Jahr 2020 aufgrund von parlamentarischen Aktivitäten vor den Wahlen 2015 festgenommen. Stand Mai 2021 sind 14 HDP-Abgeordnete in Haft.

Gewählte Abgeordnete werden ersetzt durch von der Regierung berufene Treuhänder

Nach den Kommunalwahlen vom 31. März 2019 ersetzte Erdoğan in 49 der 65 von der HDP gewonnenen Gemeinden die gewählten Vertreter:innen durch von der Regierung ernannte Treuhänder. Diese Gemeinden umfassten drei Metro­polenregionen, fünf Provinzen und 33 Distrikte. 37 Kommunalvorsitzende, darunter 19 Frauen, wurden inhaftiert. Stand März 2021 sind 15 Ko-Bürgermeister:innen, darunter der Ko-Bürgermeister von Amed, Adnan Selçuk Mızraklı, der Ko-Bürgermeister von Qers (Kars), Ayhan Bilgen, und sieben Frauen in Haft. Weitere sechs Ko-Bürgermeister:innen stehen unter Hausarrest.

Die Berufung von nicht gewählten, von der Regierung ernannten Treuhändern anstelle von gewählten Vertreter:innen ist nicht neu. Schon die bei den Kommunalwahlen vom 30. März 2014 gewählten Ko-Bürgermeister:innen wurden im September 2016 durch nicht gewählte, von der Regierung ernannte Treuhänder ersetzt. So wurden 95 der Gemeinden, die von der Hauptkoalitionspartnerin der HDP, der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), bei den Wahlen gewonnen wurden, beschlagnahmt und ihnen Treuhänder auferlegt. Die 93 Ko-Bürgermeister:innen wurden anschließend festgenommen. Damit wurde das System des Ko-Vorsitzes, das zur Erreichung der Geschlechtergleichstellung eingeführt worden war, angegriffen, und auch viele von Frauen geführte Organisationen wurden beseitigt. Unter den zu dieser Zeit inhaftierten Ko-Bürgermeister:innen sind die Ko-Bürgermeisterin von Amed, Gültan Kısanak, Ko-Bürgermeister von Wan (Van), Bekir Kaya, Ko-Bürgermeisterin von Colemêrg (Hakkari), Dilek Hatipoğlu und Ko-Bürgermeisterin von Dersim, Nurhayat Altun.

Strafrechtliche Verfolgung der HDP-Mitglieder zwischen 2015 und 2021

Unsere Aufzeichnungen zeigen, dass seit 2015 über 10.000 HDP-Mitglieder in Haft waren. Ein paar tausend wurden zwar wieder frei gelassen, dennoch befinden sich über 4.000 Mitglieder, darunter auch ehemalige Abgeordnete und Bürgermeister:innen, hinter Gittern. Auch im Ausland leben tausende HDP-Mitglieder, darunter Abgeordnete und ehemalige Ko-Bürgermeister:innen, die vor politisch motivierten Haftbefehlen der AKP-freundlichen Justiz fliehen mussten.

Der »Fall Kobanê«

Die Verhandlungen im sogenannten Kobanê-Prozess haben am 26. April 2021 begonnen und wurden am selbigen Tag auf den 18. Mai verschoben.

Im Oktober 2014 rief die HDP zur Solidarität mit Kobanê und gegen die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) ausgeführten Angriffe auf die Stadt sowie gegen die Unterstützung der türkischen Regierung des IS die Bevölkerung zum Protest auf. Seit Jahren fordert die HDP eine Parlamentarische Untersuchung, um ans Licht zu bringen, was zu dem Angriff auf Kobanê geführt hat. Das Erdoğan-Regime hat diesen Vorschlag jedoch bisher immer abgelehnt.

  • Selahattin Demirtaş, ehemaliger Ko-Vorsitzender der HDP, wurde am 4. November 2016 im Rahmen dieses Verfahrens in Haft genommen. Dies fiel unter die Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
  • Am 22. Dezember 2020 forderte der EGMR seine sofortige Freilassung mit der Begründung, dass der Fall keine Grundlage habe und die Inhaftierung rein politischer Natur sei.
  • Anstatt die Entscheidung des EGMR umzusetzen, unternahm Erdoğan einen neuen Schritt mit seiner Kontrolle über das Gerichtssystem und die Justiz.
  • Am 28. Dezember 2020 machte Erdoğan die HDP als »Hauptverursacher der Vorfälle vom 6. bis 8. Oktober 2014« verantwortlich.
  • Am 30. Dezember 2020 reichte die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift ein.
  • Am 7. Januar 2021 wurde die Klage schließlich erhoben und der »Fall Kobanê« vom Strafgericht in Ankara angenommen. Die Reihe der Vorkommnisse zeigt, dass der »Kobanê-Prozess« durchaus ein politischer Fall ist, der vom Erdoğan-Regime durchgeführt wurde.

Danach hat der türkische Generalstaatsanwalt den »Fall Kobanê« eingeleitet und die Inhaftierung von 108 Personen angeordnet, darunter führende Vertreter:innen der HDP; 28 von ihnen werden, wie bereits erwähnt, als Geiseln gehalten. Nach 75 Personen wird fieberhaft gefahndet. Mit diesem Schauprozess sollen bekannte Politiker:innen als Kriminelle dargestellt werden, um gesellschaftliche Unterstützung für die HDP zu unterdrücken.

Die 3.530 Seiten lange Anklageschrift beinhaltet Beweismittel, die nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Wenn es nach Erdoğan ginge, dann soll Selahattin Demirtaş bis zu 15.000 Jahre im Gefängnis sitzen. Dies ist die Forderung des Generalstaatsanwalts. Aber der Kobanê-Prozess soll dazu dienen, den Sieg über den IS in Kobanê zu rächen. Denn sie wollen den Widerstand und die Solidarität mit Kobanê kriminalisieren und die HDP mit ihrem (Rechts)system zerschlagen. Wie schon von dem ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, gesagt wurde: »Was Erdoğan wirklich erschüttert, ist nicht unser Volk, das brutal ermordet wurde, sondern die Niederlage des IS in Kobanê.«

Versuche, die HDP aufzulösen

Der von dem zuständigen Generalstaatsanwalt des Türkischen Kassationsgerichts beim Verfassungsgericht eingereichte Verbotsantrag zielt auf die Auflösung der HDP sowie auf das politische Betätigungsverbot für über 687 HDP-Mitgliedern ab. Des Weiteren wird mit diesem Fall versucht, eine Basis für die vollständige Schließung der HDP herbeizuführen. Das Verfassungsgericht befand die Anklage als »komplett unvollständig und falsch«: namentlich, die Behauptungen des Staatsanwalts bezüglich der Schließung der HDP erwiesen sich als nicht nachhaltig. Dennoch droht die Schließung der HDP, seitdem die Rechtsnorm instrumentalisiert wird, um HDP-Mitglieder einzusperren.

Das Ende der Pressefreiheit

Unter Erdoğan sind 90 bis 95 Prozent der Medien in der Türkei unter die Kontrolle der Regierung gebracht worden. Nach der Verhinderung demokratischer, freier und unabhängiger Informationsnetzwerke und dem Verbot und der Sperrung tausender Websites und dutzender Zeitungen, Zeitschriften und anderer Informationsquellen ist Erdoğan in der Position, der Gesellschaft seine eigene Meinung aufzuzwingen, während er versucht, sein Regime zu institutionalisieren. Am Welttag der Pressefreiheit – dem 3. Mai 2021 –, an dem mindestens 68 Journalist:innen ihrer Freiheit beraubt wurden, fasste die Ko-Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins, Eren Keskin, die Situation wie folgt zusammen: »Ich bezeichne den Prozess, den wir durchlaufen, wirklich als ›schrecklich‹. Ich kämpfe schon seit 30 Jahren für die Menschenrechte. Es gab noch nie eine Zeit, in der es so unberechenbar war und ich mich so ungeschützt gefühlt habe. Ich kann mich wirklich nicht an einen Prozess erinnern, in dem das Gesetz von einem einzigen Zentrum abhängig ist und die Richter und Staatsanwälte so viel Angst hatten.«

Einmischung in die Universitätsautonomie

Seit 2018 entscheidet Recep Tayyip Erdoğan allein über alle hochrangigen Ernennungen an den Universitäten. Die Bosporus-Universität (Boğaziçi) ist eine der führenden Universitäten der Türkei und wählte früher ihre Rektoren aus den eigenen Reihen. Doch Anfang Januar 2021 ernannte Erdoğan den AKPler Melih Bulu zum neuen Rektor der Universität. Proteste gegen Melih Bulu wurden gewaltsam niedergeschlagen und über 500 Studierende festgenommen. Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele noch inhaftiert sind.

In der »neuen Türkei« verlieren die Universitäten ihre universelle Perspektive und werden zu ideologischen Zentren für das türkisch-islamisch-konservative Weltbild.

Austritt aus der Istanbul-Konvention

Am 20. März 2021 ist die türkische Regierung aus der Istanbul-Konvention – dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – ausgetreten. Ein von Human Rights Watch veröffentlichter Bericht, der sich mit dem Rückschritt der Türkei bei den demokratischen Grundrechten befasst, beschreibt, wie sich Erdoğans Angriff auf Recht und Demokratie gegen Frauen, Kurd:innen, LGBT-Menschen und demokratische Garantien richtet.

Laut der Plattform »Wir werden Frauenmorde stoppen« in Istanbul wurden in der Türkei im ersten Quartal 2021 mindestens 106 Frauen von Männern ermordet. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher sein. Die gleiche Organisation stufte weitere 171 Todesfälle, darunter auch angebliche Selbstmorde, als »verdächtig« ein. Die »ideale Frau», die sich die «neue Türkei« vorstellt, ist ohne Rechte und Freiheiten, unpolitisch, gehorsam gegenüber Männern, mit einem Kopftuch bedeckt und zu Hause bleibend, um zu kochen und Kinder zu bekommen.

Verstoß gegen internationale Konventionen

Der türkische Staat unter Erdoğans Herrschaft ist bekannt geworden für seine Bilanz an Menschenrechtsverletzungen und sein ständiges Hinausschieben der Verpflichtungen, die er nach internationalem Recht zu erfüllen hat. Der jüngste Bericht des Europäischen Komitees zur Verhinderung von Folter (CPT) macht deutlich, dass die Situation im Hochsicherheitsgefängnis von İmralı, in dem Abdullah Öcalan und vier weitere Gefangene festgehalten werden, Anlass zu großer Sorge gibt. Der Ausschuss befand die Haftbedingungen für inakzeptabel und forderte die türkischen Behörden auf, den Gefangenen ohne weitere Verzögerung die Ausübung ihrer Grundrechte zu ermöglichen. Abdullah Öcalan befindet sich in Einzelhaft; es ist ihm nicht erlaubt, seine Anwält:innen oder seine Familienangehörigen zu treffen, trotz Aufforderungen des CPT.

Die Entschließung des Europaparlaments vom 11. März 2021 zum Syrien-Konflikt – 10 Jahre nach dem Aufstand – stellt klar, dass die Türkei ein völkerrechtswidriger Besatzer ist, und fordert sie auf, ihre Truppen aus den besetzten Gebieten in Nordsyrien abzuziehen. Außenpolitisch orientiert sich die »neue Türkei« an einer neoosmanischen Ausrichtung, was zu eskalierenden Spannungen mit den Nachbarländern sowie mit Zypern und Libyen führt. In der folgenden Entschließung hat sich das Europäische Parlament auch mit der türkischen Praxis der ethnischen Säuberung befasst.

Das Europaparlament »fordert die Türkei auf, ihre Truppen aus Nordsyrien abzuziehen, das sie ohne jegliches UN-Mandat illegal besetzt hält; verurteilt die illegalen Überstellungen kurdischer Syrer:innen aus dem besetzten Nordsyrien in die Türkei zur Inhaftierung und Verfolgung unter Verletzung der internationalen Verpflichtungen der Türkei gemäß den Genfer Konventionen; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Gefangenen, die in die Türkei überstellt wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden; ist besorgt, dass die anhaltenden Vertreibungen durch die Türkei einer ethnischen Säuberung gegen die syrische kurdische Bevölkerung gleichkommen könnten; betont, dass die illegale Invasion und Besetzung durch die Türkei den Frieden in Syrien, im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeer gefährdet; verurteilt entschieden den völkerrechtswidrigen Einsatz syrischer Söldner durch die Türkei in Konflikten in Libyen und Berg-Karabach«.

Efrîn, eine kurdische Stadt und Region im Nordwesten Syriens, ist seit der Besatzung der türkischen Armee im Januar 2018 schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Über diese Verbrechen haben verschiedene Organisationen berichtet, darunter auch das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Aus den Berichten geht hervor, dass Frauen in Efrîn systematisch gefoltert, verschwunden gelassen, entführt, vergewaltigt und ermordet wurden, was unter anderem beim Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen und dem US-Außenministerium große Besorgnis hervorgerufen hat.

Was wir in diesem Bericht beschrieben haben, ist nur die Spitze des Eisbergs. Um alle von Erdoğans Regierung begangenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu dokumentieren, wären viele, viele weitere Seiten nötig.

Fazit

Ein Ergebnis der Koalition zwischen AKP und MHP ist eine zunehmend aggressive Politik gegen die Kurd:innen und andere religiöse und ethnische Gruppen. Um auch in einer Wirtschaftskrise an der Macht zu bleiben, haben die Regierung und ihr Koalitionspartner, die MHP, den Krieg in Syrien und im Irak vorangetrieben und eine Politik der Vernichtung der Kurd:innen in der Türkei, Syrien und im Irak betrieben. Infolgedessen ist der von Abdullah Öcalan aus dem Gefängnis İmralı initiierte Friedensprozess seit 2015 gestoppt worden. Solange der Weg des Friedensdialogs versperrt ist, wird die Gewalt weitergehen. Die politische Strategie der Regierung unter Erdoğan basiert auf Autoritarismus, einer feudalistischen Auslegung des Islams, Koalitionen mit Nationalisten und radikalen Dschihadisten, Gewalt, Krieg und Unterdrückung – all das führt in eine Sackgasse.

Die Türkei hat sich von der Demokratie entfernt und ist in den Autoritarismus gestürzt. Der Staatsapparat und die Institutionen werden neu konfiguriert, um staatliche Mechanismen zu kontrollieren. Die primäre Aufgabe des neu gestalteten Staates ist die Unterdrückung demokratischer Organisation geworden, um dem autoritären Regime Platz zu machen. Der demokratische Rückschritt ist in allen Lebensbereichen zu beobachten und schädigt die Gesellschaft sowohl wirtschaftlich als auch moralisch.

Die HDP spielt eine entscheidende Rolle bei der Sicherung der demokratischen Rechte des kurdischen Volkes, beim Aufbau des Friedens und bei der Förderung der Demokratisierung der Türkei. Die politischen Errungenschaften, die die HDP durch die schwache Demokratie in der Türkei erringen konnte, können auch anderen Gemeinschaften helfen, gemeinsam für Koexistenz und Demokratie zu arbeiten. Aber wenn zugelassen wird, dass die Demokratie weiter zurückfällt, wird das schwerwiegende Folgen haben, nicht nur regional, sondern auch international. Wenn die Demokratie gestärkt werden soll, muss die türkische Regierung ermutigt werden, die bedeutende Rolle der HDP zu akzeptieren.

Wir fordern die internationalen Organisationen – die Vereinten Nationen, den Europarat, die Europäische Union und die europäischen Regierungen – auf, den notwendigen politischen Druck auf die türkische Regierung aufrechtzuerhalten, damit sie sich den Menschenrechtskonventionen und dem Völkerrecht verpflichtet. Wann immer Erdoğans »neue Türkei« international als »legitimer« Partner akzeptiert wird, normalisieren sich Kriege, Gewalt, Besetzungen, Unterdrückung, Verfolgung und Inhaftierung. Diese Handlungen sollten nicht standardisiert werden.


 Kurdistan Report 216 | Juli/August 2021