Die NATO-Politik im Mittleren Osten und die Strategie der KCK

»Die NATO hat das Leben für die Völker im Mittleren Osten zur Hölle gemacht«

Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)

Mit einem Luftangriff zerstörte die Türkei am 17. August ein Krankenhaus in Şengal | anfAnfang Mai dieses Jahres hat die Kampagne TATORT Kurdistan die vierte Broschüre ihrer Reihe veröffentlicht. Die neue Broschüre mit dem Titel »Die Strategie der KCK« beinhaltet ein Interview mit dem Ko-Vorsitzenden der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayik, über die NATO-Politik im Mittleren Osten, Internationalismus und die Beziehungen der KCK zu den globalen demokratischen Kräften. Die 24-seitige Broschüre kann wie die anderen drei Broschüren als PDF auf der Homepage von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. heruntergeladen werden. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus der Broschüre und stellen sie zur Diskussion:

KCK-Vertreter:innen haben wiederholt die Politik der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten im Mittleren Osten kritisiert. Welche Strategie verfolgen ihre führenden Mitglieder USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich im Mittleren Osten?

Unsere Bewegung hat sich von Anfang an klar gegen diese NATO-Politik gestellt, da sie eindeutig gegen die unterdrückten Völker und gegen die Bewegung des Sozialismus, der Freiheit und der Demokratie gerichtet war. Die NATO hat ihren Terror auf der gesamten Welt verbreitet. Wir kritisierten allerdings nicht nur die NATO-Politik in aller Welt, sondern auch ihre Politik gegenüber den Kurd:innen und Kurdistan. Und wir kritisieren sie bis heute. Wir tun dies, weil sich die NATO gegen unsere Bewegung an die Seite des türkischen Staates gestellt hat. Sie hat ihn in allen Belangen unterstützt, um unsere Bewegung daran zu hindern, stark zu werden und ihre Ziele zu erreichen. Der türkische Staat hat uns angegriffen und einen Krieg gegen uns geführt, er hat viele Morde begangen und viele Massaker verübt. Die Unterstützung durch die NATO war entscheidend, um all das geschehen zu lassen. Es waren nicht nur die Ressourcen der Türkei, sondern auch die der NATO, die all dies möglich gemacht haben. Von Anfang an hat die Türkei mit Hilfe der NATO und der Europäischen Union gegen unsere Bewegung und unser Volk gekämpft. Wir kritisieren die Politik der NATO und wir werden dies auch weiterhin tun, da sie diese Politik bis jetzt noch nicht aufgegeben hat.

Unter den vielen möglichen Gründen für den NATO-Beitritt der Türkei war der Hauptgrund der, die Unterstützung der NATO für die Fortsetzung ihrer Völkermordpolitik gegen die Kurd:innen zu bekommen. Der Plan war, dass die Türkei so in die Lage versetzt werden würde, ihre Ziele zu erreichen und den türkischen Nationalstaat zu errichten. Sie nutzte ihre NATO-Mitgliedschaft allerdings nicht nur, um die eigenen Interessen zu verfolgen, sondern auch, um Beziehungen zur Europäischen Union zu knüpfen. Sie wollte die Unterstützung der Europäischen Union wie auch der NATO für ihre völkermörderischen Absichten gegen die Kurd:innen benutzen und so ihre Ziele erreichen. Dies war die Hauptmotivation der Türkei für ihren Beitritt zur NATO und die Entwicklung der Beziehungen zur EU.

Als wir unseren Freiheitskampf für das kurdische Volk und Kurdistan begannen, waren wir nicht nur Angriffen des türkischen Staates ausgesetzt. Neben der Türkei positionierten sich auch die NATO und die EU gegen uns. Dies ist der Grund, weshalb unser Kampf so intensiv war und weshalb wir einen derart hohen Preis bezahlen mussten. Der Hauptgrund dafür ist, dass die NATO und die EU immer an der Seite der Türkei standen. Sie haben nicht nur die Grenzen der Türkei geschützt, sondern haben auch alles in ihrer Macht Stehende getan, um einen politischen Wandel innerhalb der Türkei zu verhindern. Sie wollten immer demokratische Bewegungen innerhalb der Türkei verhindern. Sie betrachteten solche Bestrebungen als Widerspruch zu ihren eigenen Interessen. In ihren Augen würde eine demokratische Türkei gegen ihre eigenen Interessen arbeiten. Deshalb waren NATO und EU in keiner Weise daran interessiert, dass sich etwas an der politischen Landschaft der Türkei im Hinblick auf Demokratisierung änderte. Sie versorgten die Türkei mit aller nötigen Unterstützung, um es ihr zu ermöglichen, die Entwicklung einer demokratischen Bewegung zu verhindern, und sie kämpfen gegen die kurdische Bewegung genauso wie gegen die demokratische Bewegung. Das war es, was ihre Interessen in der Türkei von ihnen erforderten. Die Türkei profitierte von dieser Politik und unterdrückte durchgehend sowohl die kurdische Freiheitsbewegung als auch die demokratischen Kräfte im Land.

Um die kurdische Freiheitsbewegung zu isolieren und ihr damit einen schweren Schlag zu versetzen, ermordete die NATO [den schwedischen Premierminister] Olof Palme. Dann schob sie den Mord der PKK in die Schuhe, um zu verhindern, dass sie an Einfluss gewinnt. Sie benutzten den Mord an Olof Palme, um die PKK auf die Terrorliste zu setzen, und entwickelten eine entsprechende Politik, die sie bis heute verfolgen. Zudem griff die NATO den Papst in Italien an, um das türkische Militärregime von Kenan Evren zu legitimieren. Mit dem versuchten Attentat wollten sie das von ihnen in der Türkei errichtete System legitimieren und so verhindern, dass sich irgendwer dagegen wendet. Sie wollten die allseitige Unterstützung für ihr System in der Türkei gewinnen. Als Organisation war die NATO geschaffen worden gegen die Völker, die sozialistische Bewegung und die Bewegung für Demokratie und Freiheit. Dementsprechend hat sie sich formiert. Die NATO hat absolut nichts mit Demokratie zu tun.

Es ist bekannt, dass die NATO aus Gründen der Menschenrechte und der Demokratie in vielen Ländern interveniert hat. In Wirklichkeit verteidigt sie allerdings keinesfalls Menschenrechte oder Humanität. Sie interveniert nicht um der Demokratie willen, sondern benutzt sie schlicht und ergreifend als Vorwand, um ihren eigenen Interessen nachzugehen. Indem sie von Menschenrechten und Demokratie redet, versucht sie lediglich die Öffentlichkeit zu täuschen. Sie benutzt diese Rechtfertigung für ihre Interventionen mit dem Ziel der Interessensicherung. Die NATO will ständig ihre Fähigkeit erweitern, in den Ländern, in denen sie interveniert, ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

Die Türkei führt alle Arten von Angriffen gegen die Kurd:innen und die demokratischen Kräfte durch. Doch die NATO bleibt stumm. Wäre das, was die Türkei den demokratischen und sozialistischen Kräften und gerade den Kurd:innen antut, in irgendeinem anderen Land geschehen, hätte die NATO augenblicklich interveniert. Wenn es allerdings um die Türkei geht, vermeidet sie nicht nur Interventionen, sie verschließt auch Augen und Ohren. Sie behauptet ganz einfach, nichts gesehen und gehört zu haben. Doch tatsächlich wird die Türkei heimlich auf jegliche Art und Weise unterstützt. Aufgrund dessen kann die Türkei ihrer Politik gegen die Kurd:innen und die demokratischen Kräfte nachgehen.

Zahlreiche europäische Staaten sind NATO-Mitglieder, und eine Hauptaufgabe der NATO ist es, Europa zu schützen. Es ist die NATO, die die Politik Europas für die Türkei und die Kurd:innen definiert. Diese von der NATO vorbestimmte Politik gibt den Rahmen vor, in dem Europa ihnen gegenüber agiert. Heute hat die Türkei die Kontrolle über viele kurdische Städte in Rojava übernommen. Sie hat diese Gebiete besetzt und verändert fortwährend deren Demografie. Doch Europa bleibt still. Die Türkei greift Şengal, Mexmûr und die Medya-Verteidigungsgebiete [in Südkurdistan] an. Doch Europa bleibt still. In der Türkei selbst sind die Kurd:innen mit einer sehr schmutzigen Politik konfrontiert. Die Türkei verübt einen Genozid an ihnen und setzt die demokratischen Kräfte unter starken Druck. Doch Europa bleibt still. Warum tut Europa nichts? Weil es die NATO ist, die die europäische Politik gegenüber den Kurd:innen bestimmt. Sie stützt die Türkei in dieser Politik. Deshalb bleibt Europa still und verschließt davor die Augen.

Unter den NATO-Mitgliedsstaaten hat Deutschland die Verantwortung dafür übernommen, die Türkei zu beschützen. Diese Aufgabe wurde ihm von der NATO übertragen. In deren Auftrag schützt Deutschland die Türkei vor der kurdischen Freiheitsbewegung und den Bewegungen für Demokratie und Freiheit. Das ist auch der Grund, weshalb die Türkei ihre dreckige völkermörderische Politik verfolgen kann. Ohne die Unterstützung der NATO und speziell Deutschlands wäre die Türkei dazu nicht in der Lage.

Bekanntlich kam es in den letzten Jahren zu einer Reihe von Problemen zwischen der Türkei und verschiedenen anderen Staaten. Lediglich die türkisch-deutschen Beziehungen blieben davon unberührt, sie waren in den letzten Jahren tatsächlich sehr stark. Wann immer die Türkei ernsthafte Probleme bekam, unterstützte Deutschland sie und half ihr aus der schwierigen Situation. Selbst als gewisse Mittelmeerstaaten Maßnahmen gegen die Türkei ergreifen wollten, verhinderte Deutschland dies und schützte so die Türkei.

Deutschland war immer der Hauptpartner der völkermörderischen Politik der Türkei gegen die Armenier:innen, Griech:innen, Ezîd:innen, Assyrer:innen und Kurd:innen. Dies ist die historische Rolle Deutschlands. Es hat immer daran teilgehabt. Und bis heute verfolgt es diese Politik gemeinsam mit der Türkei. Deutschland unterstützt die Türkei auf jegliche Art und Weise und diese nutzt die Hilfe für den Genozid an den Kurd:innen. Deutschlands Strategie ist absolut gegen die Kurd:innen gerichtet. Sie steht im völligen Einklang mit der Besatzungspolitik der Türkei und mit der NATO. Bis heute hat es nicht eine Änderung dieser NATO-Politik gegeben. Auch Deutschland hat nichts geändert, weil es die Politik nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Namen der NATO verfolgt. Darum sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland so eng und strategisch. Deutschland ist die Hauptkraft, die das Herrschaftssystem in der Türkei stützt. Ohne diese Unterstützung könnte sich das Machtsystem in der Türkei nicht einen Tag lang auf den Beinen halten. Und es wäre nicht zu seiner Genozidpolitik in Nordkurdistan, Rojava und Südkurdistan in der Lage. Deshalb ist Deutschland auch für diese Politik der Türkei verantwortlich, es ist schuldig. Es ist wichtig, dass dies alle verstehen.

Die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich sind die Staaten, die den Mittleren Osten in ein großes Chaos gestürzt und die Region so in ein vordringliches Problem für alle verwandelt haben. Diese vier Staaten haben riesige Konflikte im Mittleren Osten geschaffen. Sie haben den Krieg verbreitet und so das Leben für die Völker im Mittleren Osten zur Hölle gemacht. Ihre Politik ist die Grundlage aller Probleme der Region. Egal wie oft sie behaupten, diese Probleme lösen zu wollen, sie lügen schlicht und ergreifend und versuchen alle zu täuschen. Denn sie sind es selbst, die diese Probleme erst geschaffen haben. Diejenigen, die ein Problem geschaffen haben, werden nicht in der Lage sein, es zu lösen. Diese Staaten haben auch keinerlei Interesse an der Lösung der Probleme des Mittleren Ostens. Ihnen ist bewusst, dass dies im Gegensatz zu ihren eigenen Interessen stehen würde. Konflikte, Krieg, Krise und Instabilität sind die Mittel, um ihren Interessen zu dienen. Deshalb befördern sie weiterhin Instabilität und Krieg in der Region.

Die KCK versteht die Völker der Welt und die internationalen demokratischen Kräfte als ihre strategischen Verbündeten. Auf der ganzen Welt führen die Staaten massive Angriffe gegen die Gesellschaften und ihre demokratischen Kräfte durch. Was für eine Strategie ist nötig für deren gemeinsamen, globalen Kampf für Freiheit und Demokratie?

Die KCK stützt sich nicht auf das Macht- und Staatensystem, da ihre Ziele Demokratie, Freiheit und Gleichheit sind. Wer das will, kann nicht Konzepte wie Macht und Staat zum Ziel des Kampfes machen. Deshalb hat die KCK stattdessen das System des Demokratischen Konföderalismus zu ihrem Ziel erklärt. Dafür stützt sie sich auf eine demokratische und organisierte Gesellschaft. Dies ist die Basis, auf der die KCK das System des Demokratischen Konföderalismus aufbauen und vorantreiben will. Auf diesem Weg versucht sie, die Probleme zu lösen, mit denen die Kurd:innen, der Mittlere Osten, alle Völker und die Menschheit heute konfrontiert sind.

Es gibt zwei Wege, dies zu tun: Zunächst, alle Sozialist:innen, Kräfte der Demokratie und Freiheit und all jene, die gegen Unterdrückung, Faschismus und Diktatur kämpfen wollen, können sich in ihrem eigenen Land als eine vereinigte demokratische Front organisieren und zusammen kämpfen. Auf dieser Basis können all diese unterschiedlichen Kräfte eine solche Allianz, eine solche breite demokratische Front bilden. So können sie ihren Kampf gegen Macht, Diktatur und Faschismus verstärken und ihre Ziele erreichen.

Dies allein ist allerdings nicht genug und führt nicht zu allen gewünschten Ergebnissen. Das System der kapitalistischen Moderne hat seine Macht und Hegemonie überall auf der Welt errichtet. Deshalb ist es notwendig, einen Kampf gegen das aktuelle System der Macht in allen Ländern zu führen und gleichzeitig eine globale Allianz all jener zu bilden, die für Sozialismus, Demokratie und Freiheit kämpfen. Solch eine breite, demokratische Front globalen Ausmaßes zu schaffen ist nötig, wenn wir fähig sein wollen, das System der kapitalistischen Moderne zu bekämpfen. Das ist es, was von uns erwartet wird angesichts der Situation, in der sich die Menschheit aktuell befindet.

Wenn alle Kräfte der Freiheit und Demokratie und alle Sozialist:innen, wenn alle Frauenbewegungen und Jugendbewegungen solch eine breite, globale Allianz aufbauen, werden sie in der Lage sein, ihre Erfahrungen miteinander zu teilen. Sie werden sich gegenseitig helfen können. Gemeinsam werden sie zu einer riesigen Kraft werden. Das wird es ihnen ermöglichen, gegen die kapitalistische Moderne zu kämpfen, sich selbst zu schützen, ihren Kampf zu verstärken und ihre gewünschten Ziele zu erreichen. Du kannst nicht erfolgreich gegen das System der kapitalistischen Moderne, gegen den Staat und die Macht kämpfen, indem du nur isolierte Kämpfe in den einzelnen Ländern führst. Das wird nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Wir müssen in jedem einzelnen Land und zur selben Zeit einen vereinten globalen Kampf führen.

Wenn du den Sozialismus aufbauen willst, reicht es nicht, den Kampf nur auf der Basis von Allianzen mit sozialistischen Kräften zu führen. Das allein wird nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Zusätzlich musst du auch eine Allianz all jener bilden, die sich im Staaten- und Machtsystem unwohl fühlen und die stattdessen Freiheit und Demokratie wollen. Du musst deinen Kampf auf eine demokratische Kultur stützen. Auf dieser Basis wird es möglich, den Sozialismus zu fördern und aufzubauen. Ohne eine starke demokratische Kultur zu schaffen und ohne unsere Mentalität, Persönlichkeit und Gesellschaft auf dieser Grundlage zu ändern, ist es unmöglich, den Sozialismus aufzubauen. Dies sind die Vorbedingungen dafür. Deshalb ist es nötig, eine demokratische Bewegung aufzubauen, die Demokratie zu fördern und auf dieser Basis in jedem Land und ebenso in globalem Maßstab eine Allianz zu bilden. Es ist notwendig, die Schaffung eines »Globalen Kongresses der Demokratie« zu unserem Ziel zu machen. Dieser Kongress wird die Basis für den Kampf für Freiheit und Demokratie bilden. Wir schlagen vor, diesen Kampf auf der Grundlage des demokratischen Konföderalismus zu führen ...


 Kurdistan Report 217 | September/Oktober 2021