Appell an unsere Generation:

Wenn wir heute nicht kämpfen, wird es kein Morgen geben, an dem noch gekämpft werden kann!

Dirok Hevi


Wenn wir 2021 als das Jahr bezeichnen, in dem die durch den Klimawandel befeuerten Naturkatastrophen für uns hier in Deutschland und generell im Westen am deutlichsten geworden sind, ist das nicht untertrieben. Und dabei ist das Jahr noch nicht einmal ganz vorbei, wenn ich diese Zeilen schreibe. Diese Sichtbarkeit beziehe ich an dieser Stelle besonders auf Deutschland, gab es doch hier die schweren Überschwemmungen im Sommer. Die Auswirkungen der globalen Erwärmung, der Klimakrise, sind zwar zualler­erst im globalen Süden zu spüren, doch treffen sie zunehmend auch den globalen Norden.

Im Zelt des Demokratischen Konföderalismus – Şehîd Andok Cotkar finden auf dem Mobilitätswendecamp während der IAA in München verschiedene Vorträge und Workshops statt. | Foto: anf In den Flammen der Waldbrände in Kurdistan, Spanien, Italien, Kalifornien etc. und in den Wassermassen in Belgien, Deutschland und der Schweiz sehen wir, wie unsere Zukunft verbrannt wird oder ertrinkt. Das ist keine Übertreibung. Es ist vollkommen klar, dass die Naturkatastrophen infolge der jährlich noch an Tempo zunehmenden Klimaerwärmung noch häufiger und zerstörerischer werden. Es ist auch klar, dass wir nur noch wenig tun können, um das Ganze zu verlangsamen oder abzuschwächen. Doch trotz all dieser Klarheit, trotz all dieser Information, erkennen wir wenig bis gar keine Bereitschaft des Staates zu handeln oder gar die Ernsthaftigkeit des Themas zu begreifen. Warum auch? Die in die Jahre gekommenen Politiker:innen werden die ganz große Katastrophe, das große Leiden, wahrscheinlich gar nicht mehr erleben. Sie leben ganz nach dem Motto »Nach mir die Sintflut«. Und wir? Während überall in den politischen Parteien um die Klimafrage gerungen wird, sie teilweise sogar geleugnet wird oder regelmäßig Menschenleben gegen Kosten abgewogen werden, ist es unsere Zukunft, mit der gespielt, die für ein paar Euros und Dollars der großen Kohlekonzerne einfach verhökert wird.

Ökologische Kämpfe und Frauenbefreiung als die zentralen Kämpfe des 21. Jahrhunderts

Blicken wir in die Geschichte zurück, sehen wir in unterschiedlichen Abständen immer wieder, dass bestimmte Themen zu einem konkreten historischen Zeitpunkt eine enorme Rolle spielen und sich intensive Kämpfe um sie entspinnen. Betrachten wir die heutige Zeit und die aktuellen Probleme, dann sehen wir, dass neben einigen anderen zentralen Kampfpunkten besonders die Klimafrage und die Frauenbefreiung auf die Tagesordnung rücken und noch präsenter werden. Täglich finden an unterschiedlichsten Orten der Welt Proteste zu diesen Themen statt. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] benennt in seinen Verteidigungsschriften die ökologischen Kämpfe und die Kämpfe für Frauenbefreiung als die Zentralen im 21. Jahrhundert. Selbstverständlich können wir diese Themen nicht losgelöst vom Kapitalismus betrachten, da er die Manifestation all dieser Probleme darstellt. Es geht viel mehr darum, dass sie als Triebfedern das Potential großer Organisierung bilden. Viele Menschen politisieren sich durch diese Themen und kommen an einen Punkt, dass sie die gegebenen Verhältnisse nicht mehr hinnehmen wollen. Selbstverständlich führt es zu einer großen Wut unter Jugendlichen, wenn sie erkennen, mit welcher Leichtigkeit ihre Zukunft gerade an die Wand gefahren wird. Das Verständnis davon, welche Auswirkungen diese Wut hat und welche Versuche es gibt, sie in unterschiedlichste Bahnen zu lenken, ist von großer Bedeutung.

Im Hinblick auf Organisierung ist es für uns wichtig, einige Schlussfolgerungen aus Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht worden sind (und an denen heute noch oftmals festgehalten wird), zu ziehen, um nicht in die gleichen Fallen des Systems zu tappen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wie jeder Kampf auch dieser vom System nicht einfach hingenommen werden wird. Es ist schon jetzt sehr deutlich, dass mit verschiedenen Strategien gegen Klimaproteste und andere Protestbewegungen vorgegangen wird. Sie versuchen mit aller Kraft und auf unterschiedlichsten Wegen, die Proteste entweder für sich zu instrumentalisieren oder sie zu liquidieren. Deswegen sind einige grundsätzliche Punkte von unglaublicher Wichtigkeit.

Blicken wir historisch auf die Entwicklung der letzten 5.000 Jahre, sehen wir, dass, bevor sich mit der Entwicklung der Hierarchie der Männer über die Frauen langsam der Staat entwickelte und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf die Tagesordnung trat, der Mensch über einen unvorstellbar langen Zeitraum von Millionen von Jahren in Harmonie mit der Natur gelebt hat. Er nahm sich, was er brauchte, um zu überleben, der Mensch als Teil der Natur. Später jedoch, als Folge der zuvor angesprochenen Entwicklungen und im Grunde genommen als logische Konsequenz der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen folgte die Ausbeutung der Natur durch den Menschen. Ein Prozess der Entfremdung des Menschen von der Natur, indem er die Natur immer mehr als tote, ihm untergeordnete Materie begreift, als Objekt seiner Handlungen, als sein Besitz. Der Mensch (der Mann) als handelndes Subjekt. Exemplarisch kann hier auf die sog. »wissenschaftlichen« Entwicklungen im Zuge der Renaissance hingewiesen werden. Descartes schuf mit seiner These vom Dualismus von Subjekt und Objekt eine perfekte ideologische Grundlage für die folgende Ausbeutung von Frau und Natur. Wir sehen also, wie stark diese beiden Kämpfe, der für Frauenbefreiung und der für das Klima, zusammenhängen. Mehr noch, wir erkennen, dass beide Kämpfe selbstverständlich nicht in einem luftleeren Raum existieren und nicht von anderen getrennt betrachtet werden können. Ein Kampf für Ökologie ohne Frauenbefreiung und ohne den Kapitalismus überwinden zu wollen, ergibt keinen Sinn. Selbiges gilt für den Widerspruch in Bezug auf den Staat. Wir müssen begreifen, dass der Staat als Resultat der ersten Spaltung der Gesellschaft, der Entwicklung von Hierarchie und Patriarchat entstanden ist und diese daher ihm immanente Charaktere sind. Der Staat kann also kein Werkzeug der Befreiung sein. Am Ende haben wir das sehr deutlich in der Sowjetunion gesehen. Den Staat heute in einen grüneren Staat verwandeln zu wollen, kann daher nicht erfolgreich sein, was wir sehr deutlich am Beispiel der Partei Die Grünen sehen können. Sie entstand aus einem Teil der damals großen linken Bewegung in Deutschland, die den Standpunkt vertrat, mit dem Marsch durch die Institutionen eine Veränderung des Systems erreichen zu können. Die erste Schlussfolgerung ist daher, dass unser Ziel keinesfalls sein kann, Veränderung in einer für den Bundestag kandidierenden Partei oder den Institutionen des Staates zu suchen. Der zweite Punkt ist, dass man das System und seine Taktiken, Bewegungen, die ihm gefährlich werden können, unschädlich zu machen, gut verstehen muss. Ein Klassiker ist die »Teile und herrsche«-Politik. So versucht das System zu bestimmen, wer als legitim in seinen Protesten zu betrachten ist, etwa eine bestimmte Person oder eine bestimmte Gruppe, und den Rest als illegitim abzustempeln. Der »legitime Teil« muss letzteren dann auch lautstark verurteilen, um seine Loyalität zum System zu bestätigen. Drittens folgt die Frage, wie sich zu organisieren.

Vereinter Kampf unter dem Banner des demokratischen Sozialismus

Während ab und an eine riesige Anzahl an Demonstrierenden für eine ausgewählte Demo zur Klimafrage zusammenkommen, findet sich ein großer Teil dieser in keiner lokalen Struktur organisiert. Dabei besteht die Stärke gerade darin, eine organisierte Kraft zu werden. Wenn all diese Hunderttausenden in lokalen Strukturen aktiv wären (die selbstverständlich auch überregional und international vernetzt wären), hätte der Kampf für ein ökologisches Leben lange schon ein ganz anderes Niveau erreicht. Während das System eben auch aus seiner Organisiertheit seine Stärke zieht, dürfen wir damit nicht mit Desorganisiertheit antworten, wozu es unter dem Label eines vermeintlichen Anarchismus heute immer wieder Tendenzen gibt. Gleichzeitig sollten wir die Klimafrage bzw. den Kampf für ein ökologisches Leben als Initiator für Politisierung und Organisierung betrachten, in denen wir das System als Ganzes analysieren und Alternativen formulieren und umsetzen. Wie schon zuvor angesprochen, kann unser Kampf nur in einer Ganzheitlichkeit erfolgreich sein, weil diese Kämpfe zusammenhängen. Die Klimafrage ist jetzt zentral und es bedarf großer Eile, doch ist sie untrennbar mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden. Die Klimafrage ist eine Systemfrage, denn in unserem heutigen System kann ein ökologischen Leben nicht möglich sein. Von der Ökologie ausgehend, kann die Frage nach Frauenbefreiung und Demokratie betrachtet werden und zum Vorschlag für ein alternatives Leben kommen. Unter dem Banner des demokratischen Sozialismus, basierend auf einem Sozialismusverständnis, das in den letzten vierzig Jahren von der kurdischen Freiheitsbewegung entwickelt wurde und das auf nichtstaatliche Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie setzt – den demokratischen Konföderalismus –, vereinen sich all diese Kämpfe auf praktische Weise. Mit dem demokratischen Konföderalismus ist ein Modell der kurdischen Freiheitsbewegung gemeint, das auf Organisierung von unten setzt, mit Kommunen als ihrer kleinsten Zelle. Über Räte auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene werden Probleme und Themen diskutiert, wenn es notwendig ist, doch der Fokus der Lösung liegt auf der lokalen. Damit verbunden ist die Abkehr vom Industrialismus hin zu Kooperativen und ökologischer Industrie. In all diesen Strukturen sind Frauen auf allen Ebenen in einem System des Ko-Vorsitzes repräsentiert und autonom organisiert.

Für uns alle, die wir für ein schöneres Leben kämpfen, möchte ich noch ein paar abschließende Gedanken hinzufügen. Zuallererst müssen wir die Notwendigkeit der Eile spüren, die dieser Kampf nötig hat, und uns dementsprechend dieser Thematik nähern. Es reicht nicht aus, alle paar Tage mal ein, zwei Stunden diesem Kampf zu widmen. Gleichzeitig müssen wir uns darüber klar werden, dass ein ökologisches Leben nicht einfach ein Leben wie heute ist, nur mit grüner Energie und Elektroautos. Die Art und Weise unseres Konsums, der Produktion etc. muss sich drastisch ändern – was jedoch nicht bedeuten soll, dass nur durch den Kauf von einigen grüner produzierten Waren irgendeine Verbesserung eintreten wird. Einerseits müssen wir danach streben, so schnell es geht das System zu einer neuen, sauberen Art und Weise der Produktion zu zwingen (Ökoindustrie) und selbst so gut es geht lokale Alternativen aufbauen, vorhandene Stärken und Vernetzung unter ihnen schaffen. Wir müssen die Veränderung, die wir anstreben, gleichzeitig aber auch bei uns beginnen, um somit ein Vorbild sein zu können für die Menschen um uns herum. Wir können nicht einfach darauf beharren, unseren Lebensstil ohne Rücksicht auf Verluste fortsetzen zu wollen. Alles genauso haben zu wollen wie heute, nur in grün und ökologisch, kann nicht funktionieren. Neben alldem scheint der Aspekt der Ethik, also diesen Kampf auch und vorerst als eine ethische Frage zu betrachten, zu wenig Bedeutung zu bekommen. Ethische Werte werden vom System der kapitalistischen Moderne gezielt zerstört, weil sie die Gesellschaft zusammenhalten wie Zement. So sehen wir beispielsweise ganz deutlich im Unterschied zu früheren Zeiten, wie viel mehr Überwindung es heute Menschen kostet, einer fremden Person in Not zu helfen, und dass das Nicht-Helfen sogar per Gesetz bestraft werden kann. Eigentlich ein von Grund auf ethischer, menschlicher Wert. Denn der Mensch ist nun mal ein gesellschaftliches Wesen – er wird durch die Gesellschaftlichkeit zum Menschen. Wir müssen gegen die Regeln des Staates (Gesetze), die auf die Erhaltung seiner Macht abzielen, unser eigenes Wertesystem verfechten. Eine demokratische Ethik. Sie zu stärken wird dem Kampf neue Kraft, Reichweite und Dauer verleihen.

An unsere Generation: Der Kampf für Ökologie ist der Kampf für unsere Zukunft, der Kampf für das Leben. Außer einem Sieg können wir nichts akzeptieren. Dies sollte uns die Dringlichkeit dieses Problems und die Notwendigkeit dieses Kampfes verdeutlichen. Denn wenn wir nicht in kürzester Zeit eine immense Veränderung erkämpfen und, wie schon zuvor verdeutlicht, wird es uns nicht durch Kämpfe gelingen, werden wir alle Chancen der Zukunft verspielt haben. Wir sehen uns also erneut mit der alten Frage konfrontiert: Sozialismus oder Barbarei.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021