Die Istanbul-Konvention ist im öffentlichen Bewusstsein präsent

Polen und die Istanbul-Konvention

Ilona Sobota, Dziewuchy Berlin – »Polish queer feminist collective«


Die Istanbul-Konvention ist einer der umfassendsten internationalen Verträge zur Bekämpfung der Diskriminierung von Frauen. Sie enthält nicht nur Leitlinien für den Umgang mit unmittelbar drohender Gewalt (wie Femizid oder sexualisierte Gewalt), sondern trägt auch dazu bei, Chancengleichheit zu schaffen, zum Beispiel in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt. Die Konvention ist auch ein wichtiger Schritt zum Schutz der Rechte von Minderheiten, besonders auch von Flüchtlingsfrauen.

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Konvention durch den Europarat im Jahr 2011 war die Regierungspartei in Polen die Bürger:innenplattform (Platforma Obywatelska). Sie ist eine christlich-demokratische Partei, die der internationalen Zusammenarbeit offen gegenübersteht. Polen hatte die Istanbul-Konvention 19 Monate nach ihrer Erstellung unterzeichnet. Es gab noch viel Arbeit für die Ratifizierung, die im Frühjahr 2015 erfolgte – sechs Monate vor den nächsten Parlamentswahlen, die von der rechtsgerichteten Partei »Recht und Gerechtigkeit« (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) gewonnen wurden.

Staat und Kirche gegen die Konvention

Seitdem wird von der neuen Regierungspartei und den ihr nahestehenden Kreisen ein sehr beunruhigendes Narrativ rund um die Konvention verbreitet. Dieser Teil der politischen Szene in Polen ist mit den Bestimmungen der Konvention nicht einverstanden und verlangt, die polnische Gesellschaft solle sich nicht an die Veränderungen anpassen, sondern ihre eigenen Lösungen schaffen. Beteuerungen, dass die Regierungspartei die Gewalt gegen Frauen bekämpft, werden mit Behauptungen vermischt, dass das traditionelle Familienmodell mit seinem stereotypen Bild von der Rolle der Frau das Beste für das Land sei. Es gibt auch Vorwürfe des »ideologischen Drucks von außen« und der »Zerstörung der traditionellen Familie«. Die Verantwortlichen der katholischen Kirche in Polen haben sich ebenfalls gegen die Konvention ausgesprochen. Ein ernsthafter religiöser Konflikt zwischen der katholischen Kirche und den Frauen ist ebenfalls ein großes Problem. Artikel 42 des Übereinkommens wird häufig manipuliert. Die Gegner:innen behaupten, dass die Konvention gegen die Kultur, die Tradition oder die Religion als solche kämpft, was nicht stimmt. Artikel 42 besagt: »Die Vertragsparteien stellen sicher, dass Kultur, Brauch, Religion, Tradition oder die so genannte ›Ehre‹ nicht als Rechtfertigung für Gewalttaten angesehen werden, die in den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens fallen«, und wird ebenfalls oft als »Beleg« dafür angeführt, dass das Übereinkommen nicht umgesetzt werden sollte. Er wird als Angriff auf und Einmischung in religiöse oder kulturelle Belange betrachtet.

Ein großer Schock war das Schreiben des polnischen Justizministeriums an Kroatien, die Tschechische Republik, Slowakei und Slowenien, in dem es sich negativ über die Konvention äußerte und weitere Länder dazu aufforderte, sich von ihr zurückzuziehen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass ultrakonservative Kreise mehr Einfluss in den Ländern Ost- und Südosteuropas haben wollen. Dies wurde von BRIN, Balkan Investigative Reporting Network, im März 2021 aufgedeckt, der Brief wurde 2020 in Umlauf gebracht. Nur durch die internationale Zusammenarbeit von Aktivist:innenen und Informationsaustausch kann sichergestellt werden, dass soziale Organisationen schnell genug auf solche Versuche, die Konvention zu untergraben, reagieren können.

Die Regierung will keine Veränderung

Am 16.09.2021 wurde der Bericht GREVIO veröffentlicht. Die Expert:innengruppe zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt analysierte die Umsetzung des Übereinkommens in Polen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass eines der dringendsten Probleme die Notwendigkeit ist, die Definition von Vergewaltigung im polnischen Recht zu ändern – eine fast 100 Jahre alte Definition, die den Nachweis eines aktiven Widerstands erfordert, ist in Polen immer noch in Gebrauch. Ein weiteres Problem ist der schwierige Zugang zum Schwangerschaftsabbruch für Opfer sexueller Gewalt. Obwohl er nach polnischem Recht erlaubt ist, ist eine gerichtliche Bestätigung des Verbrechens erforderlich, was für das Opfer anstrengend und demütigend ist. Infolgedessen sind die Frauen gezwungen, ins Ausland zu reisen, was teuer ist und das gesamte Verfahren in die Länge zieht. Außerdem gibt es im polnischen Recht keine Definition von ökonomischer Gewalt, was ein Hindernis für wirksame Gerichtsverfahren darstellt.

In Polen gibt es nur wenige Zentren zur Unterstützung von Opfern von Gewalt und Diskriminierung, nicht genug, um den Bedarf zu decken. Sie sind hauptsächlich für Frauen aus größeren Städten zugänglich, die wissen, wie sie im Internet nach Informationen suchen können. In kleinen, lokalen Gemeinschaften ist es manchmal sogar unmöglich, Anonymität und Intimität zu gewährleisten, was ein großes Hindernis bei der Suche nach Hilfe darstellt.

Die Istanbul-Konvention und ihre Anerkennung durch die nationalen Regierungen sind entscheidend für rechtliche und soziale Reformen. Rechtsgerichtete, konservative Regierungen mit engen Verbindungen zu religiösen Autoritäten sind nicht gerade erpicht auf notwendige Veränderungen. Sie sind oft bereit, mit Gewalt- und Machtargumenten in Konflikte mit der Gesellschaft zu treten. Im März 2021 debattierte das polnische Parlament über einen Gesetzentwurf, der es dem Präsidenten ermöglicht, aus der Konvention auszutreten.

Kampf um Frauenrechte wird von der Zivilgesellschaft getragen

In Polen wird ein großer Teil des Kampfes für die Rechte der Frauen von Stiftungen und Vereinen geführt, die zwischen staatlicher Finanzierung und der Beschaffung von Mitteln aus privaten Quellen hin- und herpendeln. Die Sicherstellung der Finanzierung einer ununterbrochenen Arbeit ist von grundlegender Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Hilfs­kanäle. Neben der direkten Hilfe für Einzelpersonen befassen sich diese Stiftungen mit der Aufbereitung von Informationen und Statistiken, mit Sozial- und Bewusstwerdungskampagnen und mit politischer Lobbyarbeit. Letzteres ist manchmal am schwierigsten – der Konflikt zwischen feministischen Organisationen und konservativen Behörden führt nicht nur dazu, dass Frauenfragen übersehen werden, sondern dass sogar schädliche Gesetze verabschiedet werden.

Eine der bekanntesten Stiftungen ist das Zentrum für Frauenrechte (Centrum Praw Kobiet) in Warschau. Es bietet umfassende Beratung sowie rund um die Uhr eine Telefonberatung an, es gibt Broschüren über Frauenrechte heraus und ist in den Medien aktiv. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen ist der polnische Nationale Dienst für Opfer von Gewalt in der Familie, der seit 25 Jahren besteht. Seine Symbole sind die Blaue Linie (eine weitere Helpline) und die Blue Card. Bei der Blue Card handelt es sich um eine Reihe von Verfahren, die von öffentlichen Einrichtungen (wie der Polizei oder den Gesundheitsdiensten) bereitgestellt werden und Pläne zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt enthalten.

Positiv zu vermerken ist, dass die Istanbul-Konvention im öffentlichen Bewusstsein präsent ist. Selbst Jugendliche nutzen soziale Medien, um Grafiken und grundlegende Informationen über ihre Rechte auszutauschen. Die Konvention wird breit diskutiert, und viele kompetente Aktivist:innen haben Schulungsunterlagen zur Konvention erstellt. Auf diese Weise können Fehlinformationen und Manipulationen über die Konvention, wie oben erwähnt, bekämpft werden. Informationskampagnen sollten in den lokalen Sprachen durchgeführt werden und auf allen sozialen Kanälen präsent sein, die bei Jugendlichen und Frauen beliebt sind. Heutzutage werden solche Kampagnen hauptsächlich im Internet geführt, was den Emigrant:innengemeinschaften ein großes Aktionsfeld bietet. Die Synergie von Initiativen aus verschiedenen Ländern, die schnelle Verbreitung von Informationen, der Austausch von Erfahrungen – all dies führt zu einer wachsenden Stärke im Kampf für die Sicherheit von Frauen in der Welt. Je größer das Bewusstsein für die Vorteile der Einführung der Grundsätze des Übereinkommens ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Menschen dies langfristig von den Regierungs- oder Oppositionsparteien einfordern werden. Die Hoffnung liegt auch darin, dass Frauen, die sich der notwendigen Veränderungen bewusst sind, selbst zu den Wahlen antreten und die Gesellschaft vor der Verabschiedung schädlicher Gesetze schützen werden.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021