Hier wird um die Existenz gekämpft ...

Die Situation der Kurd:innen unter Präsident Ebrahim Raisi

Rezgar Rawshani, Analyst und politischer Aktivist


Im Augenblick durchlebt der Nahe und Mittlere Osten grundlegende Veränderungen. Offenbar versucht die Islamische Republik Iran, ihre Krisen und die politische und soziale Sackgasse zu überwinden. Dafür betätigt sie sich an militärischen Interventionen und verfolgt das Projekt der strategischen Tiefe (Aufbau eines sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Netzwerks aus schiitischen Gruppen im Libanon, Irak und Syrien). Im Gegensatz zu den totalitären Positionen des Regimes, die darauf abzielen, die Herrschenden als stark und handlungsfähig erscheinen zu lassen, ist das System sowohl im wirtschaftlichen, sozialen als auch im Verwaltungs- und Sicherheitsbereich des Landes zunehmend mit Krisen konfrontiert. Unter anderem haben breite Proteste und oppositionelle Bestrebungen gegen die iranische Regierung ein explosives Niveau erreicht und entwickeln sich zur Achillesferse des Regimes.

Außenpolitische Isolation

Auch in der Außenpolitik verändern sich regionale Gleichungen und ihre Bestimmungsfaktoren zu Ungunsten der Islamischen Republik Iran. Das US-Abkommen mit der Terrorgruppe Taliban und der grundlegende Wandel in Afghanistan mischten die Karten für die Position des Iran im Mittleren Osten neu.

Die Machtübernahme der sunnitischen Regierung im Irak, die sich als Opposition zur schiitischen Regierung des Iran versteht, die Änderung der US-Militärstrategie in der Region bis hin zu dem Versuch, jenseits der Kriegsökonomie Formen der Dominanz im Nahen Osten zu entwickeln, haben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die USA in Zukunft mehr auf ihre »politischen Arme« wie Israel oder Saudi-Arabien setzen sowie auf marktwirtschaftliche Reformpolitiken und die Weltbank, um die Entwicklung des Regimes zu blockieren.

Zudem ist die iranische Regierung mit dem Expansionismus der neoosmanischen Regierung der Türkei mit ihren Bestrebungen, ihr Territorium bis zu den Grenzen des ehemaligen Osmanischen Reiches auszudehnen (Misak-ı Millî, Nationalpakt), konfrontiert. Dies bedroht die territoriale Integrität des Iran und die politischen und kulturellen Interessen des Regimes.

Außerdem hat sich durch die Sanktionen der USA und das Drängen der sog. Internationalen Gemeinschaft – allen voran Europas – zur Rückkehr zum Atom-Abkommen und zum Beitritt zur FATF (Financial Action Task Force (on Money Laundering)) der Druck auf den Iran erheblich verstärkt.

Es ist schwer vorstellbar, dass das theokratische Regime des Iran dieser inneren Krise und der fragilen äußeren Situation auf Dauer gewachsen ist. Um diese verfahrene Situation zu überwinden, strebt die Islamische Republik Iran dennoch weiterhin eine stärkere Einflussnahme in der Region an.

Sie verfolgt einen interventionistischen Ansatz unter Einbeziehung militärischer Aktivitäten. Ein Beispiel hierfür ist die Annäherung an Russland und China im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Hierbei versucht der Iran, die eigenen politischen und rechtlichen Interessen gegenüber den Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig sollen Hindernisse für die Umsetzung von außenpolitischen Vorhaben wie dem Aufbau der »Widerstandsfront«1 und dem »schiitischen Halbmond«2 überwunden werden.
In diesem Zusammenhang greift die Islamische Republik Iran die US-Interessen im Irak und in Südkurdistan (Nord­irak) durch ihre verbündeten Streitkräfte an und verfolgt eine Politik, welche auf den Abzug der US-Truppen abzielt.

Auch die ostkurdischen Parteien sind verstärktem Druck ausgesetzt

Der Mangel an angemessenen Lebensbedingungen und fehlende soziale Stabilität schaffen eine Spaltung zwischen den Völkern des Iran, weil die Islamische Republik keine Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen trifft. Die grundlegenden Bedürfnisse nach Gesundheit und Bildung, die Fragen der Arbeitslosigkeit, der sozialen Sicherheit, Eindämmung der Prostitution und der Drogensucht werden nicht angegangen. Das System ist selbst zum Ausgangspunkt der Krisen geworden.

Neben diesen gesamtstaatlichen Problemen ist das kurdische Volk in Ostkurdistan (Westiran) wegen der militaristischen Herangehensweise des Regimes mit Problemen der systematischen Unterentwicklung und dem Mangel an sozialen Dienstleistungen konfrontiert, was die iranische und ostkurdische Gesellschaft an den Rand des sozialen Zerfalls bringt.

Aufgrund dieser sozialen Krisensituation hat vor kurzem eine neue Phase von Drohungen und Angriffen der Islamischen Republik Iran gegen die Stützpunkte der kurdischen Parteien in Ostkurdistan (PJAK, Komala, Demokrat:innen) innerhalb und außerhalb der Grenzen begonnen. Die Islamische Republik hat eine lange Geschichte solcher militärischen Ansätze in mehr als vier Jahrzehnten des Engagements für die »Lösung der Kurdenfrage«.

Aber es scheint, dass die Revolutionsgarden als faktische Besatzungsmacht nach der Bildung der konservativen Regierung und der Gleichschaltung aller Kräfte dieses Regimes mehr praktische Möglichkeiten zur Umsetzung seiner Militärpolitik erhalten als je zuvor.

In seiner Antrittsrede behauptete der neue Präsident des Iran, Ebrahim Raisi, die zweite Phase der Islamischen Revolution im Iran habe begonnen. Das Regime sei bestrebt, im In- und Ausland dauerhafte Sicherheit zu schaffen und den national-religiösen Staat weiterzuentwickeln.

Nach den Äußerungen von Ebrahim Raisi sind wir im vergangenen Monat Zeuge von Drohungen seitens des Kommandeurs der Landstreitkräfte der Revolutionsgarden, Mohammad Pakpour, bei einem Besuch der Stützpunkte des iranischen Besatzungsregimes in Ostkurdistan geworden. Diese Drohungen wurden vom Generalstabschef der iranischen Streitkräfte Mohammad Hossein Bagheri wiederholt und markierten damit den Beginn einer neuen Ära der antikurdischen Stimmung des tyrannischen Regimes im Iran.

Nach diesen Erklärungen der politischen und militärischen Funktionäre des Regimes haben die Revolutionsgarden große Truppenverbände an die Ost- und Südgrenze Kurdistans entsandt, um die kurdischen Parteien anzugreifen. Vor einiger Zeit verübte das iranische Regime Artillerieangriffe auf Stellungen der PDK-Iran in der Region Bradost in Südkurdistan.

Die Rolle der südkurdischen Regionalregierung

Inzwischen erleben wir diplomatischen Verkehr zwischen den Regierungen des Iran, Irak und der südkurdischen Regierung mit dem Ziel, Vereinbarungen zur Unterdrückung der Freiheitsbewegung des kurdischen Volkes in Ostkurdistan zu treffen.

Die Rolle und das Ziel der Regierungen der Besatzungsstaaten Kurdistans sind offensichtlich, aber was die öffentliche Meinung Kurdistans beunruhigt und zu anhaltender Kritik führt, ist die Rolle der Verantwortlichen der südkurdischen Regionalregierung, welche als Akteur dieses diplomatischen Dreiecks auftritt, um für den »Hintermann« Iran geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, die der kurdischen Bevölkerung und ihren Interessen Schaden zufügen sollen.

Am 15. August dieses Jahres reiste eine Delegation der Regionalregierung Kurdistans unter der Leitung von Nêçîrvan Barzanî nach Teheran, um an der Vereidigungszeremonie von Ebrahim Raisi teilzunehmen. Bei bilateralen Gesprächen sagte Barzanî, dass sie bei allen Problemen die iranische Regierung an ihrer Seite sahen und ihnen somit Dank schulden. Er betonte, dass sie der Sicherheit des Iran gegenüber loyal sind und sich als einen Teil der Islamischen Revolution begreifen. Natürlich ist es im Rahmen internationaler Beziehungen üblich und rechtens, sein Engagement für die Sicherheit eines Nachbarlandes zu beteuern, aber diese Äußerungen stehen zweifellos im Widerspruch zu den Interessen des kurdischen Volkes.

Vor dem Treffen traf sich eine Delegation des Politbüros der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) mit Vertretern aus Politik und Sicherheit des iranischen Regimes, um die Lage im Irak und in der kurdischen Region zu erörtern. Der Inhalt dieser Vereinbarungen wurde zwar nicht bekanntgegeben, aber nach Barzanîs Äußerungen wurde deutlich, dass sich damit die Situation des kurdischen Volkes, insbesondere in Ostkurdistan, verschlechtern wird.

Vor einiger Zeit bat Ali Shamkhani, Sekretär des Obersten Sicherheitsrats des iranischen Regimes, bei einem Treffen mit dem irakischen Premierminister Mustafa Al-Kadhimi um die Entwaffnung der kurdischen Parteien. Entweder soll das Betätigungsfeld dieser Parteien außerhalb der Grenzen des Irak verlegt werden, ähnlich dem Szenario der Abschiebung der MEK3 in die Balkanländer, oder die Entwaffnung und Unterwerfung dieser Parteien und damit die Säuberung und Beseitigung der Kämpfe für die Befreiung der kurdischen Nation ist geplant.

Aber dafür braucht die Islamische Republik Iran zweifellos die Hilfe der Regionalregierung Kurdistans und der irakischen Zentralregierung: offenbar wurde das bei den jüngsten Treffen koordiniert.

Freiheitskampf als Selbstverteidigung

Erwähnenswert sind auch die medienpolitischen Aktivitäten der iranischen Regierung zur Fortsetzung der Kriegspolitik zur Terrorisierung der kurdischen Befreiungsbewegung. Die iranische Regierung will der iranischen Gesellschaft einreden, dass diese Parteien und Bewegungen die Ursache der Unterentwicklung Ostkurdistans sind. Diese Sicherheits- und Geheimdienstpolitik des iranischen Regimes hat bewusst oder unbewusst Auswirkungen auf einen Teil der intellektuellen Elite, regimenahe Akademiker:innen im Ausland und das reformistische Spektrum.

Dieser Personenkreis verhält sich so, als ob er die Konzepte und die Haltung der Islamischen Republik Iran in Bezug auf die Gesellschaft Kurdistans oder die Geschichte ihres Besatzungsregimes in Kurdistan nicht kennen würde.

Diese Personen verhalten sich so, als hätten sie vergessen, dass Khomeini durch das Rezitieren von »Ashda Ali al-Kafar Rahmaha Binham« am 19. August 1979 den Dschihad erklärte und tausende Menschen, Politiker:innen wie Zivilist:innen, ohne das Recht auf ein faires Verfahren hingerichtet wurden und dass dieser Rechtsspruch noch heute in Kraft ist.
Aufgrund eben dieser Politik des Regimes wurde der bewaffnete Kampf zur existenziellen Notwendigkeit, um sich vor weiteren Massakern und »Säuberungen« zu schützen; die Kurd:innen hatten keine Wahl. Der bewaffnete Widerstand ist deshalb als legitime Selbstverteidigung anzusehen und im Einklang mit internationalem Recht.

Der Ansatz des bewaffneten Kampfes der kurdischen Parteien ist tief mit anderen Bereichen des sozialen und zivilen Kampfes verflochten: Am 8. September 2018 griff die Revolutionsgarde den Stützpunkt der PDK-Iran in der Nähe von Hewlêr an. Zur gleichen Zeit gab es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der PJAK und der IRGC (Iranische Revolutionsgarde) in der Şaho-Region, in deren Verlauf mehrere Guerillakämpfer:innen getötet wurden. Zeitgleich wurden die drei politischen Häftlinge Zanyar Moradi, Luqman Moradi und Ramin Hossein Panahi hingerichtet. Diese kurdenfeindlichen Handlungen des Iran stießen bei der Zivilgesellschaft auf Widerspruch, weshalb diese dem Aufruf der kurdischen Parteien zum Generalstreik folgte und sich beteiligte.

Diese und andere Beispiele, wie der Generalstreik nach der Hinrichtung von Farzad Kamangar, Farhad Vakili, Shirin Alamhouli und Ali Heidarian4 am 9. Mai 2010, sind ein Zeichen dafür, dass der Freiheitskampf der kurdischen Parteien in der Region und die Zivilgesellschaft eng miteinander verbunden sind.

Diese Freiheitsbewegung hat zur Entwicklung des politischen Bewusstseins und der Organisierung der kurdischen Zivilgesellschaft beigetragen. Hier wird um die Existenz gekämpft, anstatt durch Kapitulation die Vernichtung und Massakrierung zu akzeptieren.

Während der Präsidentschaft von Ebrahim Raisi sind die Rechte der iranischen Völker, insbesondere des kurdischen Volkes in Ostkurdistan und seiner Befreiungsbewegung, mehr denn je bedroht. Deswegen sind internationale Solidarität und Aufmerksamkeit für die Situation der iranischen Gesellschaft, insbesondere der sozialen, politischen und zivilgesellschaftlichen Kämpfe der Kurd:innen, sehr wichtig. Die religiös-faschistische Regierung des Iran versucht, Menschenrechtsverletzungen und den Mangel an Demokratie in der iranischen Gesellschaft zu verschleiern, indem sie die öffentliche Meinung der internationalen Gemeinschaft auf ihre Streitigkeiten mit den Regierungen der Vereinigten Staaten und der EU lenkt. Sie versucht, sich ihrer Verantwortung gegenüber den sozialen und politischen Problemen zu entziehen, indem sie in Fragen der Sicherheit und Außenpolitik Vereinbarungen mit diesen Regierungen trifft.

Fußnoten:

1 - Als »Widerstandsfront« wird hier die Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe von Staaten verstanden, die sich gegen Israel und die USA behaupten wollen (Iran, Syrien, Libanon und die Rebell:innen in Jemen).

2 - Unter dem Begriff »schiitischer Halbmond« werden die Länder zusammengefasst, die eine schiitische Mehrheit oder einen hohen Anteil von Schiit:innen in ihrer Bevölkerung haben. Dazu zählen nicht nur die Länder Iran und Irak, sondern auch Bahrain, der Libanon und Aserbaidschan.

3 - Mojahedin-e-Khal (MEK), meist »Volksmudschahedin« genannt. Weil das Leben der MEK-Mitglieder seit dem Sturz Saddam Huseins immer öfter durch iranische Raketenangriffe gefährdet wurde – Teheran betrachtet die MEK als Terrororganisation –, bemühten sich die mit den MEK verbündeten Amerikaner jahrelang um einen Bleibeort. Letztendlich erklärte sich das NATO-Land Albanien, der treueste Verbündete der USA auf dem Balkan, bereit, mehr als 3.000 MEK-Anhänger:innen aufzunehmen.

4 - Sie alle saßen wegen »Gefährdung der nationalen Sicherheit« und »Feindschaft zu Gott« im Zusammenhang mit der Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) im Gefängnis und waren nach unfairen, nur wenige Minuten dauernden Verfahren zum Tode verurteilt worden.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021