Über die Bedeutung der Selbstverwaltung und Dezentralisierung für alle

Die Verantwortung für die Zukunft Syriens

Tim Krüger


Die Situation in Syrien scheint festgefahren und aussichtslos. Jahre des Kämpfens und Mordens haben das Land verwüstet, seine Städte in Schutt und Asche gelegt und nahezu die Hälfte der Bevölkerung des Landes entwurzelt, ihrer Heimat beraubt und zur Flucht gezwungen. Was als Volksaufstand gegen die Despotie und für einen demokratischen Wandel begann, verwandelte sich in kürzester Zeit in einen der verheerendsten Konflikte unserer Tage. Auch nach zehn Jahren, in denen die Völker Syriens vom Bürgerkrieg geplagt waren, scheint seine friedliche Beilegung in weiter Ferne.

Noch im August äußerte sich Baschar al-Assad in ungewohnt gemäßigten Tönen, als er anlässlich der Vereidigung seines neuen Kabinetts in einer Rede über die Lage des Landes von einer möglichen »Dezentralisierung« des Staatsapparates sprach. Doch mit den Parlamentswahlen am 26. Mai dieses Jahres ließ er sich erneut mit über 95 % der Stimmen in seiner Herrschaft bestätigen. Die demokratische Opposition und ihr Dachverband, der Demokratische Syrienrat (Meclîsa Sûriyeya Demokratîk, MSD), hatten zum Boykott der Abstimmungen aufgerufen, und in den befreiten Gebieten der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens waren sowohl Wahlkampf als auch Urnengang untersagt. Auch die derzeit von den türkischen Besatzern und ihren islamistischen Söldnerbanden beherrschten Gebiete fallen aus der Zählung heraus. Und dennoch, selbst unter Berücksichtigung dieser Tatsachen, scheint das Ergebnis mehr als fragwürdig. Ganz zu schweigen von den Bedingungen, unter denen die Wahlen abgehalten worden sind.

Wer nun also einen radikalen Wechsel in der Politik der Zentralregierung erwartet, wird wohl auch noch weiter enttäuscht werden. Bemerkenswert ist dennoch, dass Diktator al-Assad in seiner Rede am 14. August zum ersten Mal eingestand, ­Syrien werde »nicht wieder in die Zeit vor 2011 zurückkehren«. Bisher hatte das nationalistische Regime in Damaskus vehement auf der vollständigen Wiederherstellung der alten Ordnung beharrt und sich auch nicht einmal rhetorisch zu einem Kompromiss bereit gezeigt. Das Land müsse von »Terroristen und Verrätern gesäubert« und die Souveränität des Regimes in allen Teilen wiederhergestellt werden. Ganz so, als habe es die letzten zehn Jahre nicht gegeben, sollte also wieder zum Normalbetrieb übergegangen werden. Soweit die bisherige Position der Regierung. Ein grundsätzliches strukturelles Problem, in dem die Ursache für den Aufstand und die Spaltung von Gesellschaft und Land zu suchen wären, wird in Damaskus offensichtlich nicht gesehen.

Ohne eine grundlegende Verfassungsreform keine Lösung

Das Parlament der demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Dêrik, Kanton Cizîrê. | Foto: Jonas StahlDie Ko-Vorsitzende des Exekutivkomitees des Demokratischen Syrienrates, Îlham Ehmed, erklärte, dass die Aussagen al-Assads zwar als ein »wichtiges Zugeständnis betrachtet« würden, entgegnete aber auch klar und deutlich, dass es darauf ankomme, in welche Zukunft »Syrien gehen wird«. Sie stellte fest, dass ohne eine grundlegende Verfassungsreform keine Lösung denkbar sei. Abermals bekräftigte der MSD bei dieser Gelegenheit seine Verhandlungsbereitschaft und lud, sofern besagte Dezentralisierung ernst gemeint werde, zu Dialog und gegenseitigem Austausch ein. Schon zu Beginn des syrischen Bürgerkrieges erklärten die Selbstverwaltung und die verschiedenen politischen Kräfte Nord- und Ostsyriens ihre Politik des unabhängigen »Dritten Weges« und ließen sich weder darauf ein, zum verlängerten Arm eines brutalen und räuberischen Regimes zu werden, noch mit einer selbsternannten »Opposition« zu paktieren, die im Auftrag ausländischer Mächte das Land spaltet und seine Reichtümer den Besatzern ausliefert. Die Revolution von Rojava und Nordostsyrien beharrte auf ihrem eigenen Standpunkt und verschrieb sich schon sehr früh einem Dialog als einzigem Weg zur Lösung der Krise.

Mit der Regierung in Damaskus wurde sich auf eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz verständigt, welche von Seiten des Regimes allerdings nur in Ermangelung militärischer Kapazitäten zur Zerschlagung der Selbstverwaltung gezwungenermaßen akzeptiert wurde. Nicht nur einmal versuchten al-Assad-treue Kräfte und Milizen die Ruhe zu brechen und provozierten teils heftige Auseinandersetzungen mit den Selbstverteidigungskräften der Revolution. Wer einen Blick in die offiziellen Stellungnahmen der Regierung und auf die Reden von al-Assads Ministern wirft, wird schnell erkennen, dass der politische Wille zur Lösung äußerst schwach ausgeprägt ist. Es wird sich immer noch gerne über die »Landesverräter« im Norden echauffiert und der Selbstverwaltung vorgeworfen, im Verbund mit den US-amerikanischen Imperialisten an einer Teilung Syriens zu arbeiten. Im Einklang mit der Kriegsrhetorik der türkischen Propaganda werden die Demokratischen Kräfte Syriens QSD auch schon mal als »Terroristen« bezeichnet, und es wird von angeblichen »separatistischen Plänen« phantasiert, die die territoriale Integrität Syriens gefährdeten.

Derartige Behauptungen und Anschuldigungen stehen nicht nur einem Dialog und einer wirklichen Lösung im Wege, sondern reden auch der türkischen Besatzungspolitik nach dem Munde. So spricht auch das faschistische Regime in Ankara immer noch vom Schutz der »territorialen Integrität Syriens«, um die eigene Besatzungspolitik zu legitimieren, und bezichtigt die Selbstverwaltung, nichts weiter als ein »separatistischer Terrorstaat« zu sein. Das nationalistische Baath-Regime, das sich selbstgerecht die Unabhängigkeit und Einheit der syrischen Nation auf die Fahne geschrieben hat, leistet damit weiteren türkischen Expansionsbestrebungen indirekt Vorschub. So haben auch die Selbstverwaltung und ihre politischen Kräfte oft erklärt, dass die festgefahrene Mentalität eines Regimes, das nur die eigene Macht und nicht das Schicksal des Landes im Blick hat, der Besatzung erst Tür und Tor geöffnet hat.

Statt gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten und ein Syrien zu schaffen, in dem alle Volksgruppen und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben können, eine gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen und Reichtümer garantiert wird und die Menschen über eine regionale, partizipative und dezentrale Verwaltung ihre Zukunft selbst gestalten, sät das Regime weiter Hass und Zwietracht und schwächt damit den inneren Zusammenhalt und die Selbstverteidigung des Landes. Dass Syrien heute zum Spielball in den Händen fremder Besatzungsmächte geworden ist, hat die Regierung in Damaskus selbst zu verantworten. Die Schuldigen nun dort zu suchen, wo sich mit allen Kräften den türkischen Invasoren in den Weg gestellt und unter größten Opfern zu verhindern versucht wird, dass weitere Teile des Landes dem türkischen Faschismus anheimfallen, ist perfide, verlogen und selbst der größte Verrat an den Völkern Syriens.

Allein die Tatsache, dass seit dem Sommer 2019 sämtliche offiziellen Gesprächsangebote von Seiten der Zentralregierung blockiert werden, beweist mehr als deutlich, wie viel der Regierung tatsächlich an der »Einheit und Souveränität« des Landes gelegen ist. Lieber lässt die herrschende Machtclique das faschistische türkische Regime weitere Gebiete Nordsyriens annektieren, als auch nur einen Schritt auf die demokratische Selbstverwaltung zuzugehen und womöglich einen Teil der eigenen Macht an das Volk abzutreten. Auch die selbsternannte Schutzmacht Syriens, Russland, hat bis dato nicht zu einer tatsächlichen Lösung beigetragen und stattdessen versucht, das Problem auf eine rein nationale Frage der kurdischen Bevölkerungsteile Nord- und Ostsyriens zu reduzieren. Diese sollen sich mit kultureller Autonomie, dem Recht, in staatlichen Stellen die Muttersprache zu sprechen, und bedingtem Mitspracherecht auf der Ebene der Kommunalverwaltung zufriedengeben und einer Rückkehr des Regimes in die befreiten Gebiete bereitwillig zustimmen.

Das Schicksal in die eigenen Hände nehmen

Die Selbstverteidigungskräfte und die lokalen Sicherheitskräfte der demokratischen Selbstverwaltung sollen in ihrer Eigenständigkeit aufgelöst werden und an ihre Stelle wieder die Armee der Zentralregierung und al-Assads Polizeikräfte treten. Nicht nur, dass es, wenn die eigenen bewaffneten Kräfte einmal nicht mehr sind, keinerlei Garantie für den Bestand der versprochenen Rechte geben würde, auch lässt sich das Problem schon lange nicht mehr einzig auf die kurdische Frage reduzieren. Denn heute leben mehr als sechs Millionen Menschen in den befreiten Gebieten und unter dem System der demokratischen Selbstverwaltung. Sechs Millionen Menschen, die im Projekt der demokratischen Selbstverwaltung ihre politische Heimat gefunden haben, zum ersten Mal in ihrer Geschichte von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen, ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben und gemeinsam an einer Zukunft frei von Ausbeutung und Unterdrückung bauen.
Alle, ganz gleich, ob Kurd:innen oder Araber:innen, ob Christ:innen, Muslim:innen oder Êzîd:innen, sind sich einig, das System, welches sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben, nicht so einfach aufzugeben und die demokratischen Errungenschaften der Revolution bis zuletzt und wenn nötig um jeden Preis zu verteidigen. Die Reduzierung der Selbstverwaltung auf ein rein ethnisches Projekt ist ebenfalls nichts weiter als ein Versuch, die Völker der Region abermals gegen­einander auszuspielen und eine wirkliche tiefgreifende Lösung zu verhindern. Um eine gesamtsyrische Lösung zu erreichen, bedarf es vor allem auch einer Aussöhnung zwischen den verschiedenen Bevölkerungskomponenten des Landes und der Beseitigung der Ursachen des Konfliktes. Mit der Demokratischen Föderation von Nord- und Ostsyrien existiert ein Projekt, das seit Jahren Wege und Lösungen aus dem ­Chaos des Krieges erprobt und das gemeinsame Zusammenleben, wirkliche Demokratie und soziale Gerechtigkeit zur Grundlage eines bleibenden Friedens gemacht hat.

Was im Norden des Landes erfolgreich in die Tat umgesetzt wird, kann auch für eine Demokratisierung des gesamten Landes Modell und Anleitung sein. Nur eine Ausweitung der demokratischen Selbstverwaltung auf Basis einer umfassenden Verfassungsreform kann den Weg für die Vereinigung der Völker Syriens im Sinne einer demokratischen Nation ebnen und Fremdbestimmung und Besatzung ein Ende bereiten. Erst wenn die Menschen Syriens selbst die Zukunft ihres Landes gestalten können, werden bleibende Lösungen gefunden werden. Es wird sich zeigen, ob die Bewohner:innen der Paläste von Damaskus wirklich bereit sind, sich auf einen grundlegenden Wandel einzulassen, oder aber ob al-Assads Worte nichts weiter als heiße Luft waren. Angesichts der türkischen Bedrohung aus dem Norden und neuerlicher Operationsvorbereitungen bleibt allerdings nicht viel Zeit, sich zu entscheiden. Die Verantwortung vor der Geschichte und dem eigenen Volk, im entscheidenden Moment aus individueller Machtgier und anderen niederen Interessen nicht die nötigen Schritte unternommen zu haben, werden al-Assad und seine Clique selbst zu tragen haben.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021