Tabqa – eine Stadt vier Jahre nach der Befreiung vom IS

Interview mit Salah Ibrahim, Berater des Parlaments der Region Tabqa


Tabqa liegt ca. 60 km westlich von Raqqa, an der Grenze der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens zum vom Regime beherrschten Teil Syriens. Die Stadt hat eine besondere strategische Bedeutung, nicht nur wegen ihrer geografischen Lage, sondern auch wegen der Euphrat-Talsperre, auch Tabqa-Talsperre genannt. Student:innen der Akademie »Şehîd Desti« haben den Berater des Parlaments der Region Tabqa, Salah Ibrahim, zur aktuellen Lage im Kanton und in der Stadt befragt.

Bitte geben Sie uns einen kurzen Überblick über die politischen und administrativen Strukturen des Kantons.

Unsere Region ist wie alle Kantone in Nord- und Ostsyrien basisdemokratisch organisiert. An der Basis organisieren sich die Nachbarschaften bzw. Dörfer in Kommunen, und hier kommen die Anliegen und Bedürfnisse der Menschen vor Ort direkt zur Sprache. Sieben Komitees, die jede Kommune aus ihren Mitgliedern heraus selbst wählt, greifen die Anliegen auf, suchen nach Lösungen und leiten sie gegebenenfalls an die nächste Ebene weiter.

Welche Aufgaben hat das Parlament des Kantons und wie ist seine Zusammensetzung?

Es ist das Parlament des Kantons und befasst sich deshalb mit den Anliegen der Bevölkerung des ganzen Kantons. Hier werden lokal notwendige Entscheidungen getroffen und Gesetze erlassen, die für das Leben der Bevölkerung hier wichtig sind. Beispiele dafür sind das Baurecht, Bebauungspläne, Straßenbau etc.

Zentral erlassene Gesetze der Autonomieverwaltung für ganz Nord- und Ostsyrien können nicht außer Kraft gesetzt werden durch die lokale Gesetzgebung. Im Parlament sind keine Parteien vertreten, sondern 80 direkt gewählte Vertreter:innen und 20 Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Es gilt wie überall die Ko-Präsidentschaft – eine Frau und ein Mann, und im Parlament sind die Hälfte der Mitglieder Frauen.

Das Parlament hat drei Verantwortungsbereiche:

  • Die Exekutive – die Zivilverwaltung
  • Die Legislative – die Diskussion und Verabschiedung der Gesetze
  • Den Verantwortungsbereich für die Sicherheit und Umsetzung der Gesetze.

Die Komitees sind eine wichtige Säule des basisdemokratischen Systems. Können sie uns einige Beispiele nennen?

In Tabqa haben wir 12 zivile Komitees, die direkt an das Kantonsparlament angebunden sind. Einige Beispiele: Das Komitee für Diplomatie, für Erziehung, für Energieversorgung (Elektrizität), für Frauen, für Kultur und Kunst, für die praktische Verwaltung der Stadt (Reinigung, Müll ...). Das Komitee für Diplomatie spielt in der Stadt eine wichtige Rolle für das friedliche Zusammenleben. Hier werden z. B. die Probleme der Menschen untereinander, Stammesstreitigkeiten, Landstreitigkeiten, Familienstreitigkeiten oder Probleme der Menschen mit der Verwaltung gelöst.

Es gehört aber auch zu den Prinzipien unserer basisdemokratischen Politik, dass die Anliegen der Menschen nicht an Hierarchien scheitern, wie wir es aus der Zeit vor der Revolution kennen. Die Türen aller Verantwortlichen in der Stadt, auch der Ko-Präsident:innen des Parlaments sind offen für alle.

Alle Komitees treffen sich in kurzen Abständen, verfassen ihre Tätigkeitsberichte und beraten in monatlichen großen Treffen mit der zentralen Verwaltung Problemlösungen und Perspektiven.

Ich habe vorhin die direkt in den Nachbarschaften arbeitenden Komitees erwähnt. Hier einige Beispiele: Das Komitee für die Jugend, für die Selbstverteidigung, für Frauen, für die Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten ...

Beim ersten Blick auf Tabqa fallen die vielen schwarz verschleierten Frauen im Straßenbild auf. Alles weist auf eine konservativ-islamische Bevölkerung hin. Wie ist die Haltung der Menschen zur basisdemokratisch organisierten Selbstverwaltung?

Im Kanton Tabqa leben 350.000 Menschen, und die Bevölkerung ist mehrheitlich arabisch und religiös konservativ eingestellt, vor allem wenn es um die Stellung der Frau geht. Aber es leben auch viele Kurd:innen und Tscherkess:innen im Kanton.

Die in Tabqa nach der Besetzung durch den IS verbliebene Bevölkerung hat sehr unter dem »Islamischen Staat« (IS) gelitten, und die Befreiung durch die Kräfte der YPG und YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) wurde gefeiert. Man kann sagen, die YPJ und die YPG wurden von den Menschen gerufen, um den IS zu vertreiben.

Den größten Teil der Einwohner:innen machen heute arabische Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens aus, aber auch kurdische Flüchtlinge aus dem von der Türkei besetzten Efrîn sind hier. Außerdem gibt es zwei große Flüchtlingscamps im Kanton.

Es leben hier also viele Menschen, die eine Alternative zum Assad-Regime suchen und die unter der Herrschaft des IS gelitten haben. Diese überwältigende Mehrheit unterstützt die basisdemokratisch organisierte Selbstverwaltung, und es gibt keinen Mangel an Menschen, die bereit sind, sich zu engagieren. Die »Syrische Zukunftspartei – Hizbul Suri Mustakbel«, deren Generalsekretärin Hevrîn Xelef am 12.10.2019 von einer zur SNA (Syrische Nationalarmee) gehörenden dschihadistischen Miliz brutal ermordet wurde, ist z. B. auch hier in Tabqa sehr stark.

Natürlich, wie in einer Demokratie üblich, gibt es Parteien, die z. B. das Assad-Regime unterstützen oder andere politische Richtungen vertreten. Aber sie repräsentieren nicht die Mehrheit der Bevölkerung.

Eine Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden sind allerdings die Bemühungen des Assad-Regimes, der südkurdischen PDK (Demokratischen Partei Kurdistans) und der Türkei, mittels bezahlter Spitzel Unruhe zu stiften sowie eine nicht zu unterschätzende Anhängerschaft des IS. Diese Anhängerschaft stellt ein großes Sicherheitsproblem dar.

Selbstverständlich arbeitet die Verwaltung auch eng mit den Moscheen zusammen. Es gibt dafür ein eigens eingerichtetes Komitee, das auch Bildungen für die Moscheegemeinden organisiert. Es gilt das Ziel: andere Religionen und Lebensformen müssen akzeptiert werden.

Glücklicherweise können wir sagen: Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in diesem Kanton akzeptieren sich gegenseitig und leben gut zusammen.

Sie haben die Flüchtlingslager im Kanton erwähnt. Können Sie uns dazu weitere Informationen geben?

Im Kanton gibt es zwei große Flüchtlingscamps: Ein Camp, 5 km entfernt von der Stadt, mit 8.000 Menschen und ein zweites Camp, 15 km entfernt von der Stadt, mit 5.000 Menschen. Die Menschen sind Binnenflüchtlinge aus Idlib und aus dem Regime-Gebiet.

In den Camps funktionieren dieselben basisdemokratischen Strukturen, die ich eingangs beschrieben habe. Die Verwaltung des Kantons unterstützt die gesellschaftliche Arbeit dort, einschließlich der Bildungsarbeit. Außerdem ist die Verwaltung verantwortlich für die Wasser- und Stromversorgung und für die Sicherheit der Camps. Zusätzlich unterstützen einige internationale Organisationen die Menschen in den Camps.

Wie ist die Situation der Frauen in der Gesellschaft?

Die Frauen stehen stark unter Druck durch die Familien, z. B. streng islamische Kleidungsregeln (schwarzer langer Mantel und Gesichtsschleier) einzuhalten und sich diesen Moralvorstellungen entsprechend zu verhalten. Aber die ökonomische Situation vieler Familien macht es Frauen möglich, berufstätig zu sein, denn ihr Verdienst wird gebraucht. Es gibt im Kanton ein eigens für arbeitssuchende Frauen eingerichtetes Komitee. Nach einer Sicherheitsüberprüfung unterstützt dieses Komitee Frauen bei der Arbeitssuche. Und damit ist der Kontakt hergestellt. Im Frauenzentrum vor Ort bietet beispielsweise die Frauenbewegung Nord- und Ostsyriens »Kongreya Star« Bildungen für Frauen an, in denen sie u. a. über ihre Rechte informiert werden, und an die Mitarbeiterinnen des Zentrums können sich Frauen jederzeit wenden und Unterstützung bekommen. Berufstätige Frauen und Studentinnen der Universität hier stellen die Mehrheit der politisch aktiven Frauen.

Frauen haben ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, und die Verwaltung unterstützt das wo immer möglich, aber der Widerstand der Männer dagegen ist stark. Ein Beispiel: In Nord- und Ostsyrien ist die Heirat mit mehr als einer Frau gesetzlich verboten. Der Koran erlaubt die Heirat mit vier Frauen. Hier sind eine sehr geduldige politische Praxis und Überzeugungsarbeit notwendig, die nicht auf Konfrontation setzen, sondern auf Gespräch und Bildung. Aber auch eine klare Haltung in den Institutionen der Selbstverwaltung ist unabdingbar: Lehrerinnen in den Schulen dürfen z. B. keinen Gesichtsschleier tragen. Wir sehen den Erfolg dieser Arbeit.

Die Verwaltung legt großen Wert auf Bildung, sowohl der erwachsenen Bevölkerung als auch der Kinder. Wie ist die Situation an den Schulen?

Die Schulbildung vor der Revolution war dominiert von der arabischen Sprache, von autoritären Hierarchien; selbstständiges Denken war nicht erwünscht. Unter der Herrschaft des IS ist das Schulsystem zusammengebrochen. Es gab praktisch keine Schulbildung mehr. Nach der Befreiung des Kantons mussten die Gebäude neu aufgebaut und neue Lehrpläne entwickelt werden. Basisdemokratisches Denken muss schon in der Schule vermittelt werden, das betrifft auch das Verhältnis zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen. Ein Beispiel: Vor der Revolution war es in syrischen Schulen üblich, Schüler:innen zu schlagen. Das ist jetzt gesetzlich verboten.

Im Moment arbeiten 1.639 Lehrer:innen an den Schulen. Fortbildungen in den Ferien sind für alle Lehrkräfte verpflichtend.

Die Bildungsarbeit insgesamt wird vom Komitee für Erziehung organisiert und wird als sehr wichtig erachtet. Entsprechend fließt auch ein erheblicher Teil des Budgets in diesen Bereich.

Wie ist die ökonomische Situation im Kanton Tabqa?

Im Vergleich zu anderen Kantonen ist die ökonomische Situation hier sehr gut. Das ist auch ein Grund für den Zuzug vieler aus ihren Heimatregionen geflohener Menschen.
Hier gibt es Wasser und damit Elektrizität und damit verbunden Arbeitsplätze. In den Händen der Elektrizitätsgesellschaft Tabqa liegt die Stromversorgung für ganz Nordostsyrien. Und das Wasser macht auch die Fischerei zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.

Andere Säulen unserer lokalen Wirtschaftskraft sind die Landwirtschaft (vor allem Schafzucht) und die damit verbundene Lebensmittelproduktion, der Handel, Handwerksbetriebe, kleine Fabriken (z. B. für Baumaterial) und die Bauindustrie. Die IS-Herrschaft und der Krieg haben große Schäden verursacht, und es muss viel wieder aufgebaut werden. Die Zerstörung ist immer noch deutlich sichtbar, und viele Menschen leben in noch teilweise zerstörten Gebäuden.

Vor dem Krieg war auch der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle der Bevölkerung, aber die aktuelle Bedrohungssituation durch die Türkei und durch IS-Schläferzellen sind keine guten Voraussetzungen für die Wiederbelebung des Tourismus.

Für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung wurden verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen gegründet.

Der Etat des Kantons hängt allerdings nicht von seiner Wirtschaftskraft ab. Die Menschen zahlen nur geringe symbolische Gebühren für Elektrizität, Stadtreinigung usw. und keine Steuern. Jeder Kanton in Nord- und Ostsyrien bekommt je nach Größe von der zentralen Selbstverwaltung ein jährliches Budget zugeteilt. Diese zentralen Einnahmen kommen z. B. aus dem Handel mit Öl, landwirtschaftlichen Produkten, aus Zollgebühren für Ein- und Ausfuhren etc.

Alle Einfuhren nach Nord- und Ostsyrien unterliegen einem Embargo. Sowohl die Grenze nach Nordkurdistan (Türkei), als auch die Grenzen zu Südkurdistan (Nordirak; von der PDK/YNK regiertes Gebiet) und zum vom Assad-Regime beherrschten Teil Syriens sind für den Warenverkehr geschlossen. Welche Folgen hat das für die Arbeit der Selbstverwaltung und für den Alltag der Menschen?

Das Embargo schafft große Probleme für die Grundversorgung der Bevölkerung. Die Preise für die Güter des täglichen Bedarfs sind hoch, und viele Familien verfügen nicht über die notwendigen finanziellen Mittel. Ich nenne Ihnen drei Beispiele: Vor dem Embargo haben 7 Brote 100 Lira gekostet, heute 250 Lira, der Preis des T-Shirts, das ich trage, ist von 5.000 Lira auf 40.000 Lira gestiegen, Ersatzteile für Autos sind durchschnittlich inzwischen 20 Mal so teuer.

Eine Lehrerin z. B. verdient monatlich 290.000 Lira, das entspricht aktuell 85 Dollar.

Eine Stadtverwaltung braucht Baumaterial, technisches Gerät, Fahrzeuge usw. Die Preise sind eine große Belastung. Außerdem kann notwendiges Material nicht eingeführt werden.
Unser Krankenhaus braucht medizinisches Gerät, braucht Medikamente – alles unterliegt dem Embargo.

Zusätzlich verschärfen die Profiteure des Embargos das Problem: Manche Produkte sind nur für Dollar erhältlich oder werden zurückgehalten, bis die Preise weiter steigen.

Tabqa hat eine große Ausstrahlungskraft für ganz Nordostsyrien. Was macht diese Stadt, diesen Kanton so besonders? Hat die Verwaltung der Stadt Interesse an einer Städtepartnerschaft mit einer Stadt in Deutschland?

Tabqa ist nicht nur wirtschaftlich stark. Es ist ein Zentrum für Kunst und Kultur in Nordostsyrien. Wir haben hier eine sehr lebendige Kulturszene, jetzt im September findet ein großes Kulturfestival statt. Außerdem finden sich hier viele historische Stätten. Ein nicht zu übersehendes Beispiel dafür ist die Festung, direkt am Wasser gelegen. Sie wurde übrigens vom IS als Gefängnis missbraucht und dann teilweise zerstört.

Wir sagen hier: Tabqa ist für ganz Syrien die Sonne.

Und ja, wir haben Interesse an einer Städtepartnerschaft.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021