Die Bedeutung zweier widerständiger Orte in einer zunehmend chaotischen Region

Mexmûr und Şengal – »umstrittene Gebiete«?

Baxtiyar Çelê, Mitglied des Volksrats von Mexmûr


Das Camp Mexmûr samt seiner aus rund 12.000 politischen Geflüchteten bestehenden Bevölkerung liegt in einem nicht gewöhnlichen Gebiet, dessen als »umstritten« bezeichneter Status laut Artikel 140 der irakischen Verfassung durch ein Referendum endgültig zu bestimmen ist. Wir sprechen hier von einem Gebiet, das sich von Şengal im Westen bis nach Xaneqîn im Osten und damit über rund die Hälfte des Territoriums Südkurdistans erstreckt. Verschiedenste Kräfte, die in der Region ihre jeweils eigenen politischen Ziele verfolgen, sind dort aktiv und verstärken durch ihre ständigen Interventionen das Chaos zunehmend. Es lohnt sich angesichts dieser verwirrenden Lage einen Schritt zurückzugehen und sich folgende Fragen zu stellen: Warum erhielt dieses Gebiet den Status eines »umstrittenen Gebiets«? Warum wird es als »problematisch« beschrieben? Warum wurde sein Status in der irakischen Verfassung durch Artikel 140 gesondert geregelt? Wir werden jetzt versuchen, sie kurz zu erörtern und Antworten zu finden.

Die besagte Region, zu der auch Mexmûr gehört, ist historisch, geographisch, demographisch und kulturell gesehen ein Teil Kurdistans und ein Siedlungsgebiet der Kurd:innen. Trotz dieser Tatsache entschieden die USA und ihre Verbündeten nach der Irak-Intervention im Jahr 1991, eine bis zum 36. Breitengrad reichende Sicherheitszone einzurichten. Damit verwandelten sie rund die Hälfte Südkurdistans in ein »umstrittenes Gebiet«, das seither einer Art gordischem Knoten ähnelt. Offiziell wurde dieser Status in Artikel 140 der nach der zweiten US-Intervention im Jahr 2003 ausgearbeiteten und 2005 offiziell verabschiedeten neuen irakischen Verfassung festgelegt. Doch wurde später deutlich, dass es sich bei diesem Verfassungsartikel um eine Falle handelte, die nicht rechtzeitig erkannt worden war. Die damaligen Repräsentant:innen Südkurdistans waren offensichtlich unfähig, dies zu begreifen, und zudem schlicht nicht aufmerksam genug. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang einen genaueren Blick auf die Strategie und die Politik der USA und der anderen imperialistischen Kräfte in der Region zu werfen. Sie entwickeln ständig neue Pläne, um den von ihnen entwickelten Status im Irak und insbesondere in Kurdistan aufrechtzuerhalten und entsprechend ihren imperialistischen Interessen bei Bedarf anzupassen. Aktuell zieht das US-Militär seine Kampfeinheiten aus den arabischen Teilen des Irak zurück und verlegt sie nach Südkurdi­stan. Zugleich übernimmt der EU-Flügel mit Frankreich an seiner Spitze innerhalb der internationalen Koalition eine immer aktivere Rolle. Diese Entwicklungen verstärken das Interesse an den »umstrittenen Gebieten« umso mehr. Hinzu kommt, dass die UN-Vertretung im Irak, die eher einer Vertreterin der internationalen Koalition gleicht, aufgrund ihrer Aktivitäten und Beziehungen in der Region eine sehr provokative und negative Rolle spielt.

Ungefähr 70 % aller Erdölvorkommen Südkurdistans finden sich in dem von uns beschriebenen Gebiet. Von Şengal bis Xaneqîn lagern reiche Öl- und Gasvorkommen, von denen viele noch gar nicht vollständig erschlossen wurden bzw. verarbeitet wurden. Historisch bedeutsame Handelswege führen hindurch und aktuell werden verschiedene Projekte und Pläne entwickelt, diese Rolle als zentrale Handelsroute wieder zu stärken. Süßwasser aus zahlreichen Quellen in Nord- und Ostkurdistan und weitflächige Ebenen mit fruchtbarer Erde verleihen der Region das Potential, bei richtiger Bewirtschaftung das gesamte Land mit landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen. Sie zieht folglich aufgrund der historischen, geographischen und aktuellen Gegebenheiten die Aufmerksamkeit der imperialistischen Kräfte und der Anrainerstaaten auf sich.

Besetzungsbestrebungen der Türkei

Die regionale Strategie der Türkei basiert auf einer Mentalität, die noch aus der Zeit des Osmanischen Reiches stammt. Entsprechend dauern die türkischen Besetzungsversuche in der Region an. Die Türkei hat große Truppenkontingente in Südkurdistan stationiert und führt ununterbrochen Militäroperationen in allen Teilen Südkurdistans durch – als handele es sich um türkisches Staatsgebiet. Hier unterhält sie über 60 Militär- und Geheimdienststützpunkte. Başika ist eines der Gebiete, in dem türkische Truppen stationiert sind. Der Umstand, dass es zu den »umstrittenen Gebieten« gehört, ist entscheidend für die militärischen Pläne im Rahmen der türkischen Besetzungsbestrebungen. Trotz entsprechender Beschlüsse des irakischen Parlaments und der irakischen Zentralregierung weigert sich die Türkei bis heute, ihre Truppen aus Başika abzuziehen. Diese Besatzung, die mithilfe der Kollaboration der PDK (Demokratische Partei Kurdistans) durchgesetzt wird, ist mittlerweile in allen PDK-kontrollierten Gebieten Südkurdistans deutlich spürbar. In den »umstrittenen Gebieten« ist es bisher weder dem Irak noch der südkurdischen Regionalregierung gelungen, die vollständige Kontrolle zu erlangen. Militärisch ist die irakische Armee präsent, doch auf administrativer Ebene bestimmt in vielen Gebieten noch immer die Regionalregierung. Das Gebiet wird permanent instabil gehalten. Das politische Vakuum und die Instabilität waren zwei wesentliche Gründe dafür, dass es dem IS-Terror im Jahr 2014 gelang, sich über lange Zeit vor Ort zu halten. Auch heute noch ist das Gebiet sehr anfällig für Interventionen, was die faschistische Regierung der Türkei nutzt, um ihre Besetzungsaktivitäten zu intensivieren. Im Rahmen ihrer Versuche, die Kontakte mit der sunnitisch-arabischen Bevölkerung des Irak auszubauen, setzt sie auf Kräfte wie die Familie Usama an-Nudschaifi, die schon mit dem Osmanischen Reich kollaborierte, oder auf die Reste des IS. Zugleich verlegt die Türkei von ihr ausgebildete islamistische Proxy-Kräfte in die Region.

Auf Grundlage einer Fatwa des religiösen Führers der Schiit:innen Ajatollah Ali al-Sistani wurden im Jahr 2014 die militärischen Einheiten der Hashd al-Shaabi (Volksmobilmachungskräfte) für den Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) gegründet. Sie setzten sich aus Freiwilligen zusammen. Ihr Widerstand trug dazu bei, dass zahlreiche Städte, inklusive der den »umstrittenen Gebieten« zugerechneten Provinzen Mossul und Kerkûk, vom IS-Terror befreit wurden. Es ist allseits bekannt, dass die mit dem Iran verbundenen schiitischen Gruppen eine aktive und entscheidende Rolle im Krieg gegen den IS und bei der Befreiung der Region gespielt haben. Auch heute noch verfügen sie über einen großen Einfluss auf die dortige Sicherheit. Von Şengal bis Xaneqîn sind sie eine dominante militärische Kraft und an einigen Orten auch in administrativer Hinsicht einflussreich, und sie bemühen sich aktiv darum, die Sympathien der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. In Orten wie Tuz Xurmatu und Tal Afar besteht ein Teil der Bevölkerung aus Schiit:innen. Doch der Umstand, dass der Großteil der dort lebenden Menschen sunnitisch ist und tiefgreifende historische Widersprüche mit den schiitischen Kräften hat, führt hier zu einer weitgehenden Ablehnung der Hashd al-Shaabi.

Diese Region stellt einen wichtigen Transitweg im Rahmen der Expansionsbestrebungen des iranischen Regimes dar. Dementsprechend groß ist die strategische Bedeutung, die der Iran ihr – inklusive Şengal und Mexmûr – beimisst. Es ist folglich sehr unwahrscheinlich, dass die schiitischen Kräfte aus dem Iran und dem Irak dieses Gebiet, das von ihnen befreit wurde und in dem der Iran eine einflussreiche Rolle spielt, aufgeben werden.

Ebenso unwahrscheinlich ist, dass diese Kräfte von der lokalen Bevölkerung akzeptiert werden und vor Ort dementsprechend Fuß fassen können. Das gilt auch für das von Unterdrückung und Gewalt geprägte osmanische Erbe der Türkei und ihre faschistisch-diktatorischen Bestrebungen in der Region. Die türkische Unterstützung für den IS und andere dschihadistische Kräfte, aber auch die Expansionsbestrebungen der Türkei im Mittleren Osten sind der Bevölkerung hier heute sehr wohl bekannt. Trotz der US- und NATO-Hilfe und der Kollaboration lokaler Kräfte wie der sunnitischen Turkmen:innen und der PDK wird es für die Türkei sehr schwer sein, die lokale Bevölkerung zu gewinnen. Ihre faschistische Mentalität, die sich auf eine türkisch-islamische Synthese stützt, trifft bei den in der Region lebenden Menschen auf starke Vorbehalte. Insbesondere aufgrund des türkischen Versuchs, durch die Unterstützung des IS an Einfluss zu gewinnen, empfindet die lokale Bevölkerung eine deutlich größere Nähe zu dem arabischen Nationalismus, der von Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien gefördert wird.

All diese Kräfte, die vor Ort militärisch präsent sind, aber nur über sehr geringen gesellschaftlichen Rückhalt verfügen, haben der lokalen Bevölkerung nichts Neues zu bieten. Ihre Präsenz basiert auf Unterdrückung und Gewalt. Die Menschen haben erkannt, dass das bestehende System Jahrhunderte alt ist und mittlerweile jegliche Kraft verloren hat, die bestehenden Probleme zu lösen. Weder haben seine Herrschenden den Menschen etwas anzubieten, noch verfügen sie über die Kraft, Veränderungen herbeizuführen. Sie haben keinerlei Pläne, wie Freiheit, Demokratie und ökonomischer Wohlstand, dessen die Völker beraubt wurden, wiederhergestellt, die bestehenden Verhältnisse verändert und die zahlreichen Probleme gelöst werden können. Ob das völlig schwache und hilflose System im Irak, die demokratische Kultur imperialistischer Mächte wie der USA oder der EU, das expansionistische, konfessionell motivierte System des Iran oder die faschistische Besatzungsmacht Türkei – keine dieser Kräfte ist dazu in der Lage. Ganz im Gegenteil, sie alle haben untereinander historisch motivierte Widersprüche und Konflikte. Die Existenz dieser Staaten stellt für die gesamte Region eine enorme Gefahr dar. Eine nur geringfügige Intensivierung der interventionistischen Politik dieser Mächte kann hier zu Ergebnissen führen, die für massive Veränderungen sorgen würden. Die Türkei erhält umfassende Unterstützung durch die USA und die NATO. Zugleich unterstützt sie selbst den IS, die PDK und Teile der turkmenischen Stämme. Sollte es zu einer direkten Konfrontation zwischen den faschistischen Kräften der Türkei und den vom Iran unterstützten Kräften kommen, kann die Region von Kriegen erschüttert werden, deren Folgen unabsehbar wären. Die aktuellen Entwicklungen machen ein derartiges Szenario immer wahrscheinlicher. Auch der Status der Region Kurdistan Irak, dieses Überbleibsels von Artikel 140 der irakischen Verfassung, ist dementsprechend akut gefährdet.

Angriffsziele: Şengal und das Mexmûr-Camp

Wir können derzeit ohne große Mühen rasante Entwicklungen in Richtung einer Vertiefung des regionalen Chaos erkennen. Dass im Kontext dieses Durcheinanders Şengal und das Mexmûr-Camp nicht auch zu Angriffszielen werden, ist völlig undenkbar. Denn diese beiden Orte verfügen über die widerständigste und organisierteste Bevölkerung in der Region. Sie haben sich umfassend auf alle möglichen Entwicklungen vorbereitet. Zudem verstehen sie sich als Vertreter:innen eines bedeutenden Projekts und als Alternative zum bestehenden System. Auf dieser Basis pflegen sie direkte Kontakte zur Bevölkerung in ihrer Umgebung. Je besser es ihnen gelingt, den Menschen dort ihre Ideen verständlich zu machen, desto mehr gewinnen Şengal und Mexmûr selbst an Kraft. Die Bevölkerung Şengals kann auf eine enorm lange Widerstandsgeschichte zurückschauen. Insbesondere im Zuge der Ausbreitung des Islam in der Region waren die Menschen Şengals aufgrund ihres Glaubens ständigen Massakern ausgesetzt – insgesamt 74 im Verlauf der Jahrhunderte. Doch sie leisteten durchgängig Widerstand, beschützten ihren Glauben und waren somit in der Lage, ihn bis heute am Leben zu halten. Obwohl sie ununterbrochen unterdrückt, diskriminiert und isoliert wurden, gaben die Êzîd:innen ihren Glauben nicht auf. Vereint in ihrem gemeinsamen Glauben entwickelten sie eine Kultur permanenten Widerstandes. Zuletzt wurden sie ihm Jahr 2014 von den IS-Banden angegriffen. Tausende Êzîd:innen wurden damals ermordet oder als Sklav:innen in die Türkei und andere Länder verkauft. Hunderttausende sahen keine andere Möglichkeit als zu fliehen und leben heute verstreut in den unterschiedlichsten Teilen der Welt. In den von der PDK kontrollierten Gebieten Südkurdistans erfuhren die êzîdischen Geflüchteten allerlei Formen von Korruption und unmoralischen Handlungen. In den dortigen Camps werden sie wie Geiseln festgehalten und durch die Zweckentfremdung internationaler Hilfsgelder als Profitquelle missbraucht. Zu Beginn der IS-Angriffe im Jahr 2014 leistete die Bevölkerung Şengals gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Guerilla-Kämpfer:innen Widerstand. Später befreite sie gemeinsam mit den HPG (Volksbefreiungskräften) und den YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten) ihre Heimat Şengal. Auf der Basis dieses Widerstandsgeistes halten sich die Menschen Şengals heute auf den Beinen, organisieren und bilden sich. Auf diese Weise verkehren sie ihre schrecklichen Erlebnisse in ihr Gegenteil und setzen ihren Widerstand erhobenen Hauptes fort. Durch ihre eigene Erneuerung kämpfen sie dafür, sich als Gemeinschaft fortzuentwickeln. Mithilfe der Inspiration, die Abdullah Öcalan für sie darstellt, organisieren und stärken sie sich, um den Aufbau des Systems der demokratischen Autonomie ­voranzutreiben. Şengal hat eine widerständige Lebensform entwickelt und verfügt über enorme Widerstandserfahrungen. Deshalb ist es heute in der Lage, all diese Erfahrungen mit den anderen Völkern in der Region zu teilen und durch sein freies, gleichberechtigtes und organisiertes Leben eine Vorbildfunktion auszuüben. So kann Şengal zu einem Ort werden, an dem sich die friedliche Koexistenz der Völker beispielhaft durchsetzt. Im Gebet wenden sich die Êzîd:innen mit ihren Wünschen an Gott – zuerst für die gesamte Menschheit, dann für ihre Umgebung und erst zuallerletzt für sich selbst. Auf der Grundlage ihres reichen Glaubens, neu entwickelten Bewusstseins und ihrer Erfahrungen, aber auch ihrer von Sicherheit und Selbstlosigkeit geprägten Kultur können sie es sich heute zur Aufgabe machen, der Menschheit und den anderen Völkern in der Region den Weg zu weisen. So kann es ihnen gelingen, neue Hoffnung nicht nur für sich selbst, sondern für die gesamte Region zu schaffen.

Die Bevölkerung des Mexmûr-Camps lebt seit mittlerweile 23 ihrer 27 Fluchtjahre in Mexmûr. Hier war ihr Leben stets von Widerstand und Kampf geprägt. Mit ihrer Lebenskultur haben sich die Menschen den Respekt und das Vertrauen der Bevölkerung in der Umgebung verdient. Trotz all der Behinderungen durch die in der Region aktiven Mächte ist es ihnen gelungen, harmonische Beziehungen zu ihren benachbarten Gemeinschaften zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Durch Mexmûrs Kampf gegen die IS-Banden haben die Völker der Region heute ein sehr positives Bild von seiner Bevölkerung. Im Jahr 1998 wandte sich Abdullah Öcalan über Funk an die Camp-Bevölkerung. Neben der Hoffnung und Aufregung, die seine Worte damals vermittelten, gab er den Menschen auch die Mission mit auf den Weg: »Als Bevölkerung des Camps werdet ihr eine Brückenfunktion zu den anderen Völkern der Region haben.« Heute kann Mexmûr diese Aufgabe mit seiner in der Zwischenzeit gesammelten Erfahrung und seinem Wissen verbinden. Dem Camp stellt sich also die drängende Aufgabe, das auf Demokratie, Ökologie und Freiheit der Frau basierende Paradigma und System den anderen Völkern der Region zu vermitteln. So bietet sich Mexmûr heute die historische Gelegenheit, seiner historischen Mission gerecht zu werden.

Wir können abschließend feststellen, dass die Region der »umstrittenen Gebiete« samt Şengal und Mexmûr auf absehbare Zeit von einem großen Chaos geprägt sein wird. So wie bereits in der Vergangenheit, so kann diese Situation hier auch in Zukunft erneut große Verluste für die Völker mit sich bringen. In dieser Lage sehen sich Şengal und Mexmûr mit der historischen Aufgabe konfrontiert, durch die Verbreitung des demokratisch-konföderalen Systems und der demokratischen Autonomie in der Region eine Führungsrolle beim Aufbau einer vielversprechenden Zukunft zu spielen.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021