Der außenpolitische Nutzen der Türkei in Afghanistan

»Afghanistan und die Türkei sind zwei Bruderländer«

Jörg Kronauer, Journalist und Autor


Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Zwar scheint der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seinem ursprünglichen Plan nicht durchzudringen, Soldaten aus der Türkei sollten die Sicherung des Hamid Karzai International Airport in der afghanischen Hauptstadt Kabul übernehmen (vgl. Kurdistan Report 217). Erdoğan hatte darüber am 14. Juni am Rande des NATO-Gipfels mit US-Präsident Joe Biden diskutiert, als die rasante Machtübernahme der Taliban in Afghanistan noch nicht wirklich absehbar war. Er hatte den Plan, der als Einflusshebel für Ankara recht nützlich gewesen wäre, dann auch den Taliban vorgeschlagen, war bei ihnen jedoch auf Granit gestoßen: Truppen aus einem NATO-Staat auf afghanischem Territorium operieren zu lassen, war für sie völlig undenkbar, auch wenn es der einzige islamisch geprägte NATO-Staat war. Wie es aussieht, wird die Türkei aber anderweitig im von den Taliban beherrschten Afghanistan Einfluss erhalten. Darauf deuten jedenfalls Äußerungen des zweiten stellvertretenden Ministerpräsidenten Abdul Salam Hanafi hin.

»Afghanistan und die Türkei sind zwei Bruderländer«, lobte Hanafi, der bereits im ersten Talibanregime (1996 bis 2001) eine Zeitlang als Erziehungsminister tätig war und jüngst auch dem Verhandlungsteam der Islamisten in Qatars Hauptstadt Doha angehörte, Ende September im Gespräch mit der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. «Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Nationen sind so alt«, bekräftigte er, »dass eine Seite nicht von der anderen getrennt werden kann.« Das Lob des Mannes kam nicht von ungefähr. Die Taliban sind angesichts der dramatischen Not, die in Afghani­stan nach dem Abzug des Westens herrscht, existenziell auf Hilfe angewiesen. In ihrem Bemühen, internationale Anerkennung zu finden, brauchen sie zudem andere Staaten als Fürsprecher. Was läge näher, als sich dabei auch an die Türkei zu wenden, die seit Jahren bemüht ist, ihre Stellung am Hindukusch nicht nur politisch, sondern auch mit Entwicklungshilfe zu stärken? «Unsere Erwartung an das türkische Volk ist«, äußerte Hanafi, »dass es dem afghanischen Volk hilft, in der Erziehung, bei der Gesundheitsversorgung und auf allen Gebieten, auf denen es Menschen braucht.«

Erdoğan lässt sich das nicht zweimal sagen. Längst hat Ankara begonnen, Nägel mit Köpfen zu machen. Cihad Erginay, türkischer Botschafter in Afghanistan, verhandelte am 24. September, nur einen Tag nach seinem ersten Treffen mit Taliban-Außenminister Amir Khan Muttaqi, mit dem neuen afghanischen Minister für Energie und Wasser, Abdul Latif Mansoor. Mansoor ließ danach mitteilen, die guten Beziehungen zur Türkei und die Kooperation mit ihr würden fortgesetzt, ja sogar ausgebaut, während die türkische Botschaft erklärte: »Türkische Unternehmen halten ihre Investitionen in Afghanistan aufrecht, und wir hoffen, diese Kooperation in der nächsten Zeit zum Wohl des afghanischen Volkes ausweiten zu können.« Türkische Baukonzerne etwa laufen sich längst für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes warm. Am 29. September traf Erginay Nooruddin Azizi, Minister für Handel und Industrie, um die Ausweitung des Handels zu diskutieren. Zugleich liefen Hilfslieferungen über den Türkischen Roten Halbmond an. Allerdings gibt es die türkische Unterstützung nicht umsonst. Erdoğan und türkische Regierungsmitglieder haben inzwischen mehrfach betont, die Taliban-Regierung sei «nicht inklusiv«; das solle sich ändern. Freilich schränken sie ein, man müsse mit seinen Erwartungen „realistisch« sein.

Die Türkei ist gegenüber den Taliban auch deswegen in einer günstigen Position, weil sie sehr eng mit Qatar kooperiert. Beide Staaten setzen, ganz im Gegensatz etwa zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, auf eine enge Zusammenarbeit mit der Muslimbruderschaft. Als Qatar deshalb im Juni 2017 von Saudi-Arabien, den Emiraten und weiteren Staaten vollständig blockiert wurde – in Doha fürchteten manche gar einen saudischen Einmarsch –, da stockte Ankara die Truppen auf seinem erst 2015 gegründeten Militärstützpunkt in dem Golfstaat auf und sprang dem Land auch sonst zur Seite. Umgekehrt hat das Emirat Berichten zufolge mittlerweile 22 Milliarden US-Dollar in der Türkei investiert. Qatar wiederum ist der Staat, in dem die Taliban im Jahr 2013 ein Büro etablierten, über das sie unter anderem ihre Verhandlungen mit den USA organisierten. Zeitweise sollen sich bis zu 100 führende Taliban-Funktionäre im qatarischen Exil aufgehalten haben. Im August frisch an die Macht gelangt, gestatteten die Taliban Qatar dann auch im Gegenzug, über seine Botschaft in Kabul die Ausreise westlicher Ausländer zu ermöglichen. Doha hat Experten zum Kabuler Flughafen entsandt, um dort alle technischen Voraussetzungen für den regulären Flugbetrieb zu schaffen – und es kooperiert dabei mit Ankara.

Einfluss in Afghanistan hat für die Türkei in mehrfacher Hinsicht außenpolitischen Nutzen. Zum einen ist sie der einzige NATO-Staat, der aktuell nicht nur eine diplomatische Vertretung in Kabul, sondern dort auch etwas zu sagen hat. Das wertet sie gegenüber den anderen NATO-Mitgliedern auf, nicht zuletzt gegenüber den USA, mit denen sie anderweitig harte Konflikte austrägt. Hinzu kommt, dass sich neue Chancen zur Kooperation mit Russland ergeben könnten. Ankara und Moskau handeln den Gang der Dinge in Syrien aus, haben starken Einfluss in Libyen und sind die maßgeblichen äußeren Mächte im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, wobei sie jeweils gegnerische Kräfte unterstützen. »Afghanistan könnte ein neues Kapitel in diesem Buch werden«, urteilte Mitte September Zaur Gasimov, Spezialist für Osteuropa und die Türkei an der Universität Bonn. Nicht zuletzt bahnt sich eine intensive Zusammenarbeit mit China an. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten hätten zuletzt erheblich an Schwung gewonnen, urteilte der türkische Botschafter in Beijing, Abdulkadir Emin Önen, Mitte September im Gespräch mit der chinesischen Zeitung Global Times: Man könne sie nun auf Feldern wie Energie und Infrastruktur im Kontext des bevorstehenden Wiederaufbaus am Hindukusch deutlich ausbauen. Önen bezog dabei Chinas «Neue Seidenstraße« explizit ein.

Ganz konkret geht es für Ankara darüber hinaus darum, seine Stellung in Zentralasien zu stärken. Zuletzt ist es ihm gelungen, über die Öffnung des Zangezur-Korridors, einer Landverbindung aus der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan ins Kernland Aserbaidschans, einen direkten Zugang zu Letzterem zu erhalten. Damit steht der Türkei der Landweg ins Kaspische Becken und über das Kaspische Meer auch der Weg nach Zentralasien mit seinen immensen Erdöl- und Erdgasvorräten offen. Gelänge es Erdoğan, seinem Land Einfluss in Afghanistan zu sichern, dann erhielte Ankara in Zentralasien mit einem Schlag ganz erhebliches Gewicht. Das wiederum ist ein Plan, den in der Türkei vor allem pantürkische Nationalisten seit je hegen. In Zentralasien sind Turksprachen sehr weit verbreitet; auch in Afghanistan werden sie von den Minderheiten der Usbeken und der Turkmenen gesprochen. Darauf aufbauend ein riesiges türkisches Einflussgebiet in Zentralasien zu schaffen – das streben ultrarechte Kräfte in der Türkei schon lange an.

Machtpolitisch betrachtet bliebe eines: Die Zusammenarbeit mit den Taliban ist riskant. Noch ist nicht klar, wie deren Regime sich letzten Endes entwickeln wird. Mit einem Staat zu kooperieren, der Dieben die Hände abschneidet und Entführer an Kränen aufhängt, ist dem eigenen Ansehen nicht unbedingt förderlich. Allerdings hat Erdoğan bekanntlich wenig Hemmungen, sich mit wüstesten Islamisten zusammenzutun, wenn sie ihm nur Einfluss bringen. Das zeigt nicht zuletzt die faktische türkische Unterstützung für den Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al Sham (HTS) im Norden Syriens, der seinerseits übrigens die Machtübernahme der Taliban in Kabul begeistert begrüßte.


 Kurdistan Report 218 | November/Dezember 2021