Aktuelle Bewertung

Interessengeflechte im Mittleren Osten

Seyit Evran

Eines steht außer Frage: Dieses Jahr wird zu vielen bedeutenden politischen Entwicklungen auf der Welt, im Mittleren Osten und in Kurdistan führen. Wir können sogar davon ausgehen, dass viele politische Entwicklungen auf der Welt und im Mittleren Osten von Kurdistan ausgehen werden. Denn hier stoßen Beziehungen, Widersprüche und Auseinandersetzungen verschiedenster Akteur:innen aufeinander. So gesehen werden auch die Entwicklungen, die von der kurdischen Freiheitsbewegung ausgehen, regional wie überregional Wellen schlagen.

Das Jahr 2021 war für die kurdische Freiheitsbewegung, aber auch für Freiheitsbewegungen im Allgemeinen und für viele weitere politische Akteur:innen, die für Demokratie, ökologische Gerechtigkeit und Geschlechterbefreiung einstehen, ein Jahr mit vielen Auseinandersetzungen. Auch die Konflikte zwischen den herrschenden Mächten waren im letzten Jahr vergleichsweise stark ausgeprägt. Und viele dieser Auseinandersetzungen haben sich in das neue Jahr fortgesetzt und dauern an. Das Jahr ist zwar noch relativ jung, doch bereits jetzt kennt es viele Konflikte.

Ebenso wie diejenigen auf globaler Ebene halten auch die tiefsitzenden Konflikte des Mittleren Ostens weiter an. Wenn sie nicht gelöst werden, werden sie uns Jahr für Jahr weiter begleiten. Die Probleme und Konflikte haben oftmals eine lange Geschichte. Wenn wir diese Probleme beim Namen nennen wollen, so können wir die Frage der »demokratischen Gesellschaft« bzw. eines »demokratischen Gesellschaftssystems« als wichtigste benennen. Hinzu kommt die Frage der Identitäten, der Gemeinschaften, der Ethnien und der religiösen Gruppen, die seit Generationen geleugnet, diskriminiert und marginalisiert werden. Und natürlich gibt es die zentrale Frage der verleugneten und ihrer Rechte beraubten Frau. Ohne eine Lösung dieser zentralen gesellschaftlichen Fragen werden wir auch ihren verschiedenen Varianten im Mittleren Osten nicht ernsthaft begegnen können. Und wenn Probleme nicht gelöst werden, können auch Auseinandersetzungen und Konflikte nicht beigelegt werden. Im Gegenteil, dort, wo ein Problem dauerhaft nicht gelöst wird, vertiefen sich die Widersprüche und gewinnt die Gewalt an Bedeutung.

Die Probleme des Mittleren Ostens

Der Mittlere Osten stellt den Fixpunkt für die ungelösten Probleme der internationalen Mächte dar. Das hat gleich mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die internationalen Mächte die Kultur, die Traditionen und die Lebensbedingungen dieser Region nicht verstehen können oder wollen. Die Realitäten der Region befinden sich im Widerspruch zu denjenigen der internationalen Mächte. Auch deshalb konnte keine der politischen und militärischen Interventionen internationaler Kräfte im Mittleren Osten zum beabsichtigten Ziel führen. Halten die internationalen Akteure dennoch an ihren Zielen fest, führt das zu deutlichen Reaktionen der lokalen Bevölkerung.

Wir müssen auch festhalten, dass die Probleme des Mittleren Ostens keineswegs hausgemachte Probleme sind. Sie sind das Ergebnis der Interessenpolitik externer Kräfte. Die dadurch geschaffenen Widersprüche führen zu tiefgreifenden Problemen, die nicht selten eskalieren.

Die US-Interessen in der Region

Die USA als Weltmacht verfolgen selbstverständlich ihre eigenen Pläne in der Region. Diese wurden bis Anfang der 2000er Jahre als »Neue Weltordnung« bezeichnet. Danach wurden sie in »Greater Middle East Project« umbenannt. Der Plan verfolgte das Ziel der Etablierung einer US-Hegemonie über die Region, womit die Kontrolle über Bodenschätze und andere Ressourcen einhergehen sollte. Um dieses Vorhaben zu vereinfachen, sollten auch die kulturellen und gesellschaftlichen Werte der Region im Sinne kapitalismusfreundlicher US-Kultur transformiert werden. Hierfür wiederum sollten in bestimmten Ländern Regierungswechsel eingeleitet werden. Die USA hatten dafür entsprechende Vorbereitungen getroffen und einige US-freundliche Administrationen für den Mittleren Osten ausgebildet und unterstützt. Diese Politik wurde für alle 23 arabischen Staaten der Region sowie für die Türkei in die Wege geleitet und zum Teil erfolgreich umgesetzt. Auch heute verfolgen die USA eine ähnliche Politik und unterstützen politische Parteien in der Region, die den US-Interessen freundlich gesonnen sind und einen Machtanspruch in ihrem Land erheben. Diese Parteien und Strukturen waren teilweise über Jahre hinweg von den USA gemeinsam mit der NATO und ihren Gladio1-Strukturen organisiert, ausgebildet und aktiviert worden. Um ihre Pläne mit noch mehr Nachdruck umsetzen zu können, intervenierten die USA nach 2000 selbst in der Region. Für diese Intervention bedurfte es allerdings eines Grundes, den schließlich der Terroranschlag der al-Qaida am 11. September 2001 lieferte. Mit diesem Argument im Rücken intervenierten die USA zunächst in Afghanistan und anschließend im Irak, obwohl sie zuvor in periodischen Abständen seit 1990 immer wieder mit den Machthabern in Bagdad kooperiert hatten. Auf diese Weise übten die USA nicht nur ökonomisch und mittels ihrer lokalen »Partner« in der Region Einfluss auf die Geschehnisse im Mittleren Osten aus, sie waren nun auch militärisch dort präsent.

Und Russland?

Ebenso wie die USA hat auch Russland ein Interesse daran, als Hegemonialmacht im Mittleren Osten zu agieren. In Moskau hat dieses Interesse eine lange Tradition. Russlandfreundliche Gruppierungen, Kräfte und Länder wurden im Mittleren Osten über Jahre hinweg aufgebaut. Doch nach der Irak-Intervention der USA beschränkte sich der Einfluss der Machthaber in Moskau vorerst auf Syrien. Um diese Isolierung zu durchbrechen, hat Russland eine Partnerschaft mit dem Iran aufgebaut, obwohl zwischen diesen beiden Staaten ein ernster Interessengegensatz in Bezug auf das Kaspische Meer besteht. Ihre Partnerschaft ist zwar nicht solide, sie hängt sozusagen am seidenen Faden, dennoch haben beide Seiten sie aufgrund der gemeinsamen Interessen gegen die US-Politik in der Region bis heute bewahrt.

Zur Rolle des Iran

Zu den Staaten, die Regionalmachtambitionen im Mittleren Osten haben, gehört freilich auch der Iran. Aufgrund dieser Ambitionen befindet sich der Iran in einem permanenten Konflikt mit den USA. In Teheran sind die Machthaber bemüht, mit Russland, der Türkei sowie arabischen Staaten wie Katar Beziehungen aufzubauen, um gegen die »US-Gefahr« bestehen zu können. Dies gestaltet sich allerdings nicht immer einfach, weil der Iran auch Interessenskonflikte mit diesen Staaten hat. Und auch China als aufstrebende Macht mischt sich in dieses Beziehungsgeflecht ein. Aber auch die AKP-Regierung in der Türkei, die seit 2002 mit Unterstützung der USA die Macht im Lande hat, hat Ambitionen, dominierende Regionalmacht zu werden. Diese Bestrebungen des Erdoğan-Regimes sollen mithilfe einer Verleugnungs- und Auslöschungspolitik gegenüber den Kurd:innen realisiert werden.

Der »Türkei-Plan« der USA

Für die Realisierbarkeit ihrer strategischen Pläne im Mittleren Osten haben die USA eine politische Strömung stark gemacht, die unter dem Namen »gemäßigter Islam« bekannt werden sollte. Als passende Führungspersönlichkeit dieser Strömung wurde Recep Tayyip Erdoğan ausgemacht, der mit Zustimmung der USA die AKP gründete. Erdoğan wurde so sehr gepusht, dass er mit dem Anspruch auftrat, die islamische Welt zu repräsentieren. Mithilfe seiner Person wollten die USA ihren Einfluss in der arabischen Welt stärken. Denn in den arabischen Ländern war das Ansehen der USA aufgrund ihrer strategischen Partnerschaft mit Israel nachhaltig beschädigt. Zudem benötigten die USA eben neben Israel einen weiteren strategischen Partner in der Region. Die AKP und Erdoğan wurden zu diesem Zwecke bei der Gründung und beim Aufbau unterstützt.

Im Prinzip hat Erdoğan bis in das Jahr 2012 hinein die ihm übertragene Rolle im Mittleren Osten zur Zufriedenheit der USA ausgeübt. Zu einem Riss in der Beziehung kam es allerdings ab dem Jahr 2012 durch die Revolution von Rojava. Denn ab diesem Zeitpunkt begann die AKP eigenmächtig eine Gastgeberrolle gegenüber verschiedensten islamistischen Gruppierungen einschließlich der al-Nusra-Front und des IS einzunehmen. Mithilfe dieser Gruppen versuchte die Regierung in Ankara, ihre eigenen Großmachtambitionen zu verwirklichen. Nun agierte die AKP nicht nur im Sinne der US-Strategie, sondern suchte je nach eigenem Interesse auch die Nähe zu Russland oder zum Iran. Erdoğan schreckte noch nicht einmal davor zurück, den europäischen Staaten mit der »Gefahr des Dschihadismus« zu drohen.

Die Revolution von Rojava inmitten dieser Gemengelage

Während die internationalen Großmächte und einige regionale Akteure sich im Mittleren Osten Verteilungs- und Machtkämpfe lieferten, brach Ende 2010 in Tunesien der sogenannte Arabische Frühling aus. Zunächst wurde der Machthaber in Tunis von der Bevölkerung gestürzt, anschließend breiteten sich die Proteste auch auf Länder wie Ägypten, Libyen und Syrien aus. In Syrien führten die Proteste, die sich rasch in einen Bürgerkrieg verwandelten, zu einer Entwicklung, die so kaum jemand auf dem Schirm hatte. Es kam zur Revolution von Rojava, welche mit der Zeit in eine Revolution in ganz Nord- und Ostsyrien münden sollte. Die Machthaber in Syrien, aber auch in der gesamten Region hatten nicht erwartet, dass die Kurd:innen in der Lage waren, eine solche Revolution zu initiieren.

Diese Revolution hat ihre Besonderheiten. Sie hat den Anspruch, ein System zu etablieren, in welchem sich alle Völker und Kulturen selbst repräsentieren können. Sie will die Geschwisterlichkeit der Völker und den Frieden in der Region möglich machen. Und sie verfolgt ein demokratisches, ökologisches und geschlechterbefreiendes Paradigma, das auf den kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan zurückgeht. Dieses Paradigma repräsentiert die Linie der demokratischen Moderne in Abgrenzung zur kapitalistischen Moderne.

Durch die Revolution verschwinden die Unklarheiten!

Kurz nach der Revolution begannen in Rojava die Arbeiten zum Aufbau eines eigenen Systems. Binnen kurzer Zeit strahlte die Wirkung der Revolution auf die Region aus. Selbstverwaltete Kantone wurden ausgerufen und ihre Zahl sollte mit der Zeit wachsen.

Um eine rasche Entfaltung der Revolution zu verhindern, wurde dann der IS zum Kampf gegen Rojava angestachelt. Der hatte zuvor in Südkurdistan und Nordirak Mûsil (Mosul) erobert und anschließend die êzîdisch besiedelte Region Şengal überfallen. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ verhinderten durch ihr Einschreiten, dass der Genozid, den der IS an der êzîdischen Bevölkerung verübte, ein noch größeres Ausmaß annahm. Danach organisierten sich êzîdische Jugendliche und wurden zu Selbstverteidigungseinheiten der Lokalbevölkerung ausgebildet. Auch diese Entwicklungen stehen in direkter Verbindung zur Revolution von Rojava.

Die Wirkkraft der Revolution überraschte auch die globalen und regionalen Mächte. Diese legten deshalb zum Teil ihre internen Konflikte ad acta und agierten plötzlich gemeinsam gegen die Selbstverwaltung von Rojava. Diese Tatsache macht deutlich, dass es bei dieser Revolution um etwas anderes geht, als ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Es geht um die Linie der demokratischen Moderne gegen diejenige der kapitalistischen Moderne. So gesehen stellt die Rojava-Revolution nicht nur eine Gefahr für das syrische Regime oder Ankara dar, sondern auch für die USA und Russland. Auch wenn die USA durch den gemeinsamen Kampf gegen den IS den Eindruck zu vermitteln versuchen, dass sie auf der Seite der Revolution stehen, so steht doch außer Frage, dass sie sich im Prinzip im gegnerischen Lager befinden.

Auch wenn Akteure wie die USA, Russland oder der Iran sich gegen die Revolution stellen, so zeigen sie ihre feindliche Haltung nicht offen. Stattdessen lassen sie die Türkei agieren. Mit der direkten Hilfe aus Ankara wurden auf diese Weise zunächst islamistische Gruppierungen wie die Muslimbrüder und die al-Nusra-Front gegen die Revolution ins Feld geführt. Anschließend wurde der Kampf gegen die Revolution dem IS übertragen, welcher wiederum Unterstützung aus Ankara erhielt. Und als auch dies nicht zum erhofften Erfolg führte, griff die Türkei ab 2015 selbst ins Kriegsgeschehen ein. Zunächst besetzte die türkische Armee Cerablus, al-Bab und Azaz. 2018 attackierte die Türkei Efrîn und setzte die Stadt dem Bombardement von 72 Kampfflugzeugen aus, bevor die türkische Armee und ihre dschihadistischen Partner sie besetzten. Und am 9. Oktober 2019 erfolgten der Angriff und dann die Besatzung von Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad). Nach der militärischen Besetzung dieser Gebiete folgte jeweils eine Vertreibung der kurdischen Bevölkerung. Der türkische Staat veränderte die demografische Zusammensetzung der besetzten Gebiete.

Bei all diesen Angriffen schwiegen die europäischen Staaten, Russland und die USA und billigten das Vorgehen der Türkei. Während also die internationalen Mächte mithilfe des türkischen Staats ihren Kampf gegen die Revolution von Nord- und Ostsyrien führen, hat der türkische Staat für seine Vernichtungspolitik auch lokale Akteure eingespannt, welche die Angriffe der Türkei flankieren bzw. die notwendige Unterstützung liefern. Die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) ist der wichtigste Kollaborateur der Türkei. In der Vergangenheit leistete die PDK diese Unterstützung noch verdeckt. In den letzten zwei Jahren wurde diese Beihilfe im Kampf gegen die Revolution von Rojava und die kurdische Freiheitsbewegung ganz offen demonstriert. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele.

Auch wenn im Kampf gegen die Revolution von Nord- und Ostsyrien alle genannten Akteure einvernehmlich an einem Strang ziehen, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie ihre Widersprüche untereinander beiseitegelegt hätten. Im Gegenteil, wie eingangs beschrieben, gibt es viele Streitthemen unter den verschiedenen internationalen und regionalen Mächten. Am deutlichsten äußert sich dieser Konflikt derzeit vielleicht am Beispiel des Irak. Dort haben im Oktober letzten Jahres Parlamentswahlen stattgefunden. Doch ein Präsident hat sich bis heute nicht gefunden. Das liegt daran, dass die verschiedenen externen Mächte einen Präsidenten im Irak sehen wollen, der in ihrer Gunst und nicht in der des politischen Gegners steht. Wann der Irak wieder über einen Ministerpräsidenten2 verfügen wird, bleibt derzeit ungewiss.

Werfen wir nochmals einen Blick auf die Gesamtsituation, so müssen wir festhalten, dass sich über die Jahre zahlreiche tiefgreifende Probleme im Mittleren Osten angesammelt haben, die uns auch in diesem Jahr beschäftigen werden. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Schweigens der internationalen Mächte gegenüber den türkischen Angriffen in Nord- und Ostsyrien, aber auch in Şengal und Mexmûr dürfen wir zudem damit rechnen, dass uns gewaltsame und blutige Monate erwarten. Wenn wir diese Kriegssituation, in der so viele verschiedene regionale wie internationale Akteure involviert sind, als dritten Weltkrieg bezeichnen, so müssen wir festhalten, dass dieser Weltkrieg sein Gravitationszentrum in Kurdi­stan hat. Doch wie wird dieser Krieg ausgehen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Aber die Seite, die sich überzeugt und organisiert dem Krieg und den Angriffen ihrer Gegner stellt, wird sicherlich gute Chancen haben, am Ende erfolgreich zu sein. Und dass wir diese Überzeugung durch die Kraft einer organisierten Gesellschaft in der Revolution von Nord- und Ostsyrien wiederfinden, kann niemand bezweifeln. Eine Prognose aufzustellen ist schwierig. Aber die kurdische Freiheitsbewegung und die Akteur:innen der Revolution von Nord- und Ostsyrien wirken gut gewappnet.

Fußnote:

1 - Geheime paramilitärische Struktur der NATO im Kalten Krieg. Stay-behind-Gruppen sollten im Falle einer Invasion der Sowjetunion hinter der Front kämpfen.

2 - Solange es keinen Präsidenten gibt, gibt es auch keinen Ministerpräsidenten und keine Regierung. Es ist Aufgabe des Präsidenten, innerhalb von 15 Tagen nach seiner Wahl aus dem größten Parteienblock einen Regierungschef zu ernennen.


 Kurdistan Report 220| März/April 2022