tuerkei syrienTürkei schadet sich selbst mit Kriegsführung in Rojava

Religiöse Polarisierung im Mittleren Osten wird eskaliert

Ismet Kayhan, Journalist

Eigentlich hat alles in den 1970ern in Vietnam begonnen. Die USA hatten dort gerade eine Niederlage erlitten. Die Sowjetunion steckte dahinter. Die USA haben jahrelang auf eine Möglichkeit gewartet, um sich an den Sowjets zu rächen. Und diese Gelegenheit ergab sich in den 1980ern. Die Sowjetunion hatte Afghanistan besetzt. Der Regierung in Washington bot sich die Möglichkeit, dem »Feind« auf Umwegen eine Niederlage zuzufügen.

 

Der damalige Präsident Jimmy Carter übertrug diese Aufgabe seinem Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski. Und der entwickelte mit seinem Team eine Politik, die er »tausend diskrete Tode« nannte ...

Ziel war, die Sowjets zu besiegen, und das Mittel war die Unterstützung islamischer Bewegungen in den Ländern des Mittleren Ostens. Die USA knüpften enge Beziehungen zu den Islamisten in der Region. Sie entwickelten eine neue Strategie. Zunächst wurden die gegen die Sowjets kämpfenden afghanischen Krieger vom Geheimdienst Pakistans und Experten der Sondereinheiten des pakistanischen Militärs ausgebildet. Einer der Ausbilder war [der spätere Präsident] Pervez Musharraf. Damals war Zia-ul-Haq in Pakistan an der Macht. Er hat bis zuletzt Vorteile gezogen aus der US-Unterstützung afghanischer Kämpfer.

Die CIA übernahm die US-Operation in Afghanistan, um die Sowjets dort zu schlagen. Britische SAS-Offiziere leiteten die Ausbildung, Saudi-Arabien gewährte finanzielle Unterstützung. Und die Franzosen unterrichteten in medizinischer Hilfe auf dem Schlachtfeld.

Die radikalen Islamisten aus islamischen Ländern der Golfregion und des westlichen Mittelmeerraums wurden vom Iran unterstützt. Zu diesem Zeitpunkt erschien auch Osama bin Laden auf der Bildfläche und legte den Grundstein für die al-Qaida.

Die afghanischen Kämpfer sorgten dafür, dass sich die Sowjets 1989 aus dem Sumpf Afghanistans zurückziehen mussten. Zurück blieb eine überaus starke Erfahrung. Eine Erfahrung, die noch nicht einmal im Bürgerkrieg unter der Herrschaft der Taliban ihr Gewicht verlor. Eine Erfahrung, die die heutigen zwei »Supermächte« aus dem Land jagte.
Bin Laden war ein Saudi. Und al-Qaida mit saudischem Geld geschaffen. Und auch 15 der 19 Attentäter vom 11. September, was die USA im Innersten getroffen hat, waren Saudis.
Die Regierung in Washington begann vier Wochen nach dem 11. September mit der Bombardierung Afghanistans. Der damalige Präsident Bush erklärte das damit, dass die Taliban Bin Laden versteckt hätten.

»Wir werden sie aus ihren Löchern holen. Wir werden ihn aus seiner Höhle holen.« Trotz seiner harten Worte hat Bush eigentlich nicht viel getan. Bin Laden bewertete die Operationen in Afghanistan mit den Worten: »Was sie getan haben, war langsam und unerheblich.«

Die Regierung Bush schickte zunächst 11 000 Soldaten nach Afghanistan. Die US-Soldaten schafften es zwei Monate lang nicht, in die Gebiete einzudringen, in denen sich Bin Laden vermutlich versteckte. Der bekannte US-amerikanische Dokumentarfilmer Michael Moore sagte später über den Krieg in Afghanistan: »Bush hat einem Mörder, der die USA angegriffen hat, zwei Monate Fluchtzeit verschafft. Denn das Ziel des Krieges in Afghanistan ist ein anderes.«

1997, als Gouverneur von Texas, traf sich George W. Bush in Houston mit einer Gruppe Talibanführer und Vorstandsmitglieder der UNOCAL (Union Oil Company of California). Sie diskutierten über Gaspipelines vom Kaspischen Meer. An dem Tag, als die UNOCAL die Verträge unterschrieb, wurden dem Halliburton-Konzern, dem Dick Cheney [bis 2000 Vorstandsvorsitzender, anschließend US-Vizepräsident unter Bush] vorstand, die Bohrrechte zugesprochen. Die Pipeline hätte Enron-Vorstand Kenneth Lay, dem größten Wahlkampfspender Bushs, am meisten genutzt.

Noch fünfeinhalb Monate vor dem 11. September reiste Bush 2001 durch die USA, um das Image der Taliban zu verbessern, und empfing sogar deren Vertreter.
Besondere Beachtung verdient, dass die wiederholte Ausstrahlung der Aufnahmen vom 11. September eine Woche anhielt, danach änderten sich die Bilder in den Fernsehnachrichten. Auf den Bildschirmen tauchten zunächst Bilder zur Kriegsstärke der USA auf und dann Bilder des Hauptfeindes Osama bin Laden und der Taliban.

Organisation erstarkte nach Bin Ladens Tod

Etwa 3 000 Menschen haben ihr Leben am 11. September verloren. Die Ziele waren die Finanz- und Militärzentren der USA. Nach dem 11. September hat die al-Qaida ihre Ziele geändert, ihren »Dschihad« aus den westlichen Gebieten in die islamische Welt verlagert. Es fällt auf, dass in der Geschichte der al-Qaida, die ihren Krieg in den Irak, nach Syrien und Rojava [Westkurdistan=Nordsyrien] getragen hat, noch keine Aktion gegen Israel auftaucht.

Aus den Kriegen in Afghanistan und dem Irak steht nun eine starke al-Qaida vor uns. Insbesondere nach der Tötung ihres Führers Bin Laden ist sie noch mächtiger geworden.
In Pakistan wurde über die Tötung Bin Ladens als »Kampf gegen den Terror« durch die USA und als bedeutender »Erfolg« berichtet.

Duran Kalkan, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat die Beziehungen der USA zur al-Qaida unter die Lupe genommen: »Scheinbar sind sie im Mittleren Osten an Widersprüchen und Kämpfen zwischen den Religionen interessiert und drücken deshalb bei den Aktivitäten der al-Qaida ein Auge zu. Die Polarisierung in der Region liegt im Interesse der USA. Unter Federführung der al-Qaida wird versucht, die Sunniten im Irak als neuen Block angelehnt an Syrien und die Türkei zu formieren und gegen die schiitische Achse eine sunnitische Achse zu bilden. Somit wird der Mittlere Osten angelehnt an die Politik der USA Schauplatz neuer scharfer religiöser Diskriminierung. Das ist auch die Wahrheit darüber, warum die al-Qaida-Kräfte aus allen Richtungen der Welt gesammelt und so einfach nach Syrien geschafft werden.«

Neue Strategie der Organisation in Syrien

Eigentlich hat das Organisationsnetzwerk der al-Qaida nach Bin Ladens Tod zwar nicht militärisch, aber doch politisch einen echten Rückschlag erlitten. Sie haben den bewaffneten Kampf jedoch nicht zurückgefahren, sondern im Gegenteil verstärkt. Politische Propaganda kam für die al-Qaida immer an zweiter Stelle.

Sie hat ihren Krieg nach dem 11. September aus den westlichen Ländern in die islamische Welt verlagert. Als im März 2003 der Irak besetzt wurde, haben sich dort die al-Qaida und zugehörige Gruppen sofort niedergelassen. Die al-Qaida erklärt ihre regionalen und lokalen Aktivitäten damit, dass ihre Aktionen auf der Basis lokaler Unterstützung stattfänden.
Am Beispiel Syriens ist zudem erkennbar, dass Al-Nusra neben dem bewaffneten Kampf begonnen hat, sich ernsthaft innerhalb der Bevölkerung zu organisieren. Das war eigentlich etwas Neues für die al-Qaida. Sie hat das erste Mal außerhalb Pakistans/Afghanistans begonnen, sich in einem Land regional zu organisieren. Und ein wesentlicher Grund dafür, dass Al-Nusra nicht aus Syrien herausgerissen wird, ist ihre Organisierung im Volk ...

Es heißt, dass mit dem arabischen Frühling die Araber aus den Stammesgebieten an der afghanisch-pakistanischen Grenze wieder in ihre Länder zurückkehrten und dort ihre Aktivitäten fortsetzten. Die Organisation hat aus der Situation in den arabischen Ländern zweifellos ihren Nutzen gezogen. Vor einigen Monaten erklärte der Chef des britischen Geheimdienstes MI5, Andrew Parker, dass Hunderte englischer Muslime als »Terrortouristen« nach Syrien gegangen seien. Es ist nicht wahr, dass die westlichen Länder die Reisen nach Syrien nicht verhindern können. Wir müssen erkennen, dass die Reisen zum Dschihad in muslimische Länder zwar vom Westen vielleicht nicht organisiert, aber doch ernsthaft gefördert werden.

Al-Qaida erstarkt in Nordafrika

Das ist eigentlich keine neue Politik. Die Polarisierung zwischen Sunniten und Schiiten im Mittleren Osten nimmt langsam ein gefährliches Ausmaß an. Es handelt sich um einen offenen Krieg. Natürlich hat dies nicht mit Syrien begonnen, sondern mit der US-amerikanischen Besetzung Iraks. Washington zerstörte die soziale und politische Infrastruktur Iraks völlig und verbündete sich mit der al-Qaida und radikalen Islamisten. Der Irak wurde diesen dschihadistischen Gruppen regelrecht ausgeliefert.
Der Mittlere Osten und Nordafrika rudern geradezu auf einen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten zu. Und das Land, das all dieses Chaos organisiert, ist das von den USA unterstützte Saudi-Arabien ...

Die Financial Times meldete kürzlich, der Chef des saudischen Geheimdienstes, Bender bin Sultan, leite die »rebellischen Zentren« in der Türkei und Jordanien an. Saudi-Arabien schürt auch heute die Religionskriege und fungiert in der Region buchstäblich als eine Organisation von Handlangern des Westens und der USA ...
In letzter Zeit wurden in Mûsil (Mossul) ernsthafte Angriffe der al-Qaida gegen Schiiten und Schabak deutlich. Während sich hier die Attacken auf Mûsil und Falludscha konzentrieren, ist zu beobachten, dass Organisationen wie Ansar al-Scharia und die Islamische Kampfgruppe Libyens eine Strategie für Nordafrika entwickeln. Wir können allemal davon ausgehen, dass radikale Islamisten Pläne schmieden, um Nordafrika in den nächsten paar Jahren in eine Hölle zu verwandeln.

Westen unterstützt Krieg der radikalen Islamisten gegen Kurden

Kommen wir zu den Kurden ...

Wenn radikale Gruppen wie al-Qaida die Quelle höchster Besorgnis für die Regierung in Washington darstellen und in Syrien die Partei der Demokratischen Union (PYD) solche Elemente bekämpft, wie ist dann die Politik des Westens gegen die Kurden zu erklären?

Wie können wir erklären, dass kein einziges Land, das al-Qaida zum Feind erklärt hat, ernsthafte Reaktionen zeigt, während diese im Norden Syriens gegen die im Bürgerkrieg nach Neutralität trachtenden Kurden kämpft?

Wir können nicht außer Acht lassen, dass dieser Konflikt der al-Qaida mit den Kurden mit der These einer »regionalen Strategie« erklärbar ist, es aber eine zentrale Planung gibt. Zudem ist erkennbar, dass Staaten wie die USA, Großbritannien und Frankreich die Kämpfe der al-Qaida gegen die Kurden in Syrien zulassen. Hunderte Kämpfer sind aus diesen Staaten nach Syrien gereist und haben gegen Kurden gekämpft ...

Mit dem Krieg in Syrien kommt eine andere Wahrheit ans Licht, dass nämlich die Unterstützung und Bewaffnung mit dem Einverständnis der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf die Türkei, Katar und Saudi-Arabien übertragen worden ist. Diese Staaten sind ausgesprochene Handlanger.

Sykes-Picot ein Problem des Westens?

Patrick Cockburn, erfahrener Reporter der Zeitung Independent, ist der einzige ausländische Journalist in der syrischen Stadt Homs. Ich habe ihn gefragt: »Warum reagiert der Westen so kühl auf die Kurden in Syrien?«

Er antwortete: »Der Westen selbst hat mit dem Sykes-Picot-Abkommen die derzeitigen Grenzen des Mittleren Ostens festgelegt. Das Fortbestehen der Spaltung in dieser Region und das Beibehalten der Grenzen liegen in seinem Interesse. Aus diesem Grunde ist man beunruhigt über die Gefährdung des Status quo an den Grenzen durch die Kurden.«

Dabei wird unmissverständlich erklärt, dass sich die Grenzen Syriens mit dem Kampf der Kurden nicht ändern werden. Es gibt aber einige Ziele wie die Kontrolle über die Ölfelder im Norden Syriens und über die Grenzposten zur Türkei. Die Organisation Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIL) erhofft sich die Sicherung des Grenzübergangs zum Irak. Diese Gruppen sind eigentlich religiös geprägt und nicht nationalistisch, aber meist arabisch-sunnitisch ausgerichtet und können aggressiv gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten auftreten. Die Religionskämpfer, insbesondere die ISIL, tolerieren niemanden. Auch wenn von der Al-Nusra behauptet wird, sie sei toleranter, halte ich alle dschihadistischen Gruppen im Allgemeinen für gleich. Ihre Ideologie und Auffassungen unterscheiden sich nicht wirklich voneinander. Sie sind alle aggressiv ...

Al-Qaida-Hauptquartier liegt in der Türkei

Laut der libanesischen Tageszeitung As-Safir hat die Zahl der seit April 2011 allmählich nach Syrien kommenden ausländischen Dschihadisten heute die 50 000 erreicht: aus der Türkei 5 500, Ägypten 2 600, Jordanien 2 400, Jemen 1 600, Pakistan 1 900, Afghanistan 1 200, Kuwait 700, Algerien 1 600, Somalia 880, Russland 750, Marokko 550, Deutschland 668 und aus Frankreich 450. Und die Zahl der aus Saudi-Arabien und Tschetschenien zum Kämpfen nach Syrien Gekommenen geht in die Tausende. Allein diese Zahlen zeigen, dass es hier um eine andere Realität geht.

80 % der Dschihadisten nutzen die Türkei als logistisches Hauptquartier. Es lässt sich schwerlich behaupten, die türkische Regierung habe Probleme mit Baschar al-Assad und der Baath-Regierung. Ihr einziges Problem ist die Erlangung eines Status für die Kurden in Syrien.

Türkei verlagert den Krieg in die kurdische Region

Wir können angesichts dieser Zahlen eine weitere Realität aufzeigen. In Syrien werden »radikal-islamistische« Organisationen von der Türkei, Katar, Großbritannien, Saudi-Arabien, Frankreich und Deutschland unterstützt und formiert. Sogar die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) unter Mesûd Barzanî ist dort organisiert ... Und das belegt, dass wir uns im Mittleren Osten einer neuen Realität gegenübersehen. Sie ähnelt weder der Palästinafrage noch dem Problem im Irak, sondern ist vielschichtiger, globaler und chaotischer. Denn einer Meldung der New York Times zufolge weist der Direktor der nationalen US-Geheimdienste James Clapper darauf hin, dass die Lage in Syrien außer Kontrolle geraten könne: »Die Situation in Syrien kann sich derart entwickeln, dass sie nicht einmal die Regierung oder die Opposition noch kontrollieren kann.«
Die türkische Regierung erklärte 2011 Syrien zur »inneren Angelegenheit« und ist im dortigen Krieg zum wichtigsten Part geworden. Die AKP-Regierung verlangt von den westlichen Staaten, dass auch sie das Problem in Syrien als »innere Angelegenheit« betrachten.
Saudi-Arabien und die Türkei haben mit der Bewaffnung der Opposition allen voran den Annan-Plan und andere »friedliche« Initiativen sabotiert.
Die gegenwärtig lastwagenweise von der Türkei nach Syrien transportierten Waffen zerstören den Prozess der Verständigung. Es gibt aktuell nur einen Zweck, Waffen nach Syrien zu schicken, und das sind die Kurden. Der türkische Staat unterstützt die dortigen Organisationen, damit die Kurden keinen Status erlangen und der Krieg lange Zeit weitergeführt wird.
Auch wenn dieser Krieg primär von den USA, Frankreich, Saudi-Arabien, Katar und anderen abhängt, die gesamte Ruine Syriens wird auf die Türkei niederstürzen.
Falls der türkische Staat seine Verleugnungshaltung gegenüber den syrischen Kurden aufrechterhält, ihnen das Erreichen eines Status verhindert und weiterhin darauf besteht, den Krieg dorthin zu transportieren, dann werden sich die Kurden insgesamt gegen ihn stellen. Rojava ist ihre rote Linie. Wenn der türkische Staat nicht davon ablässt, den Krieg in Rojava zu verschärfen, lässt sich prognostizieren, dass die PKK den Waffenstillstand beenden könnte.