Wahlzettel im Muell gefundenKommunalwahlen in Pîran

Demokratische Wahlen? – Nicht in Nordkurdistan!

Mako Qocgirî, 01.04.2014

Zwei Tage nach den Kommunalwahlen in der Türkei am 30. März wird überall auf den Straßen von Amed (Diyarbakır) immer noch über die Wahlergebnisse gesprochen. Siegerin in den kurdischen Gebieten ist die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), daran besteht kein Zweifel. Sie hat in insgesamt 102 Bezirken die meisten Stimmen erhalten, dabei sind ganze elf Provinzen. Das sind drei mehr als noch bei den letzten Kommunalwahlen 2009.

 

Doch trotz des aus Sicht der BDP erfolgreichen Wahlausgangs war der Wahlverlauf in den kurdischen Gebieten vielerorts von Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet. Das hatten die Verantwortlichen der BDP auch nicht anders erwartet. Um sich gegen mögliche Versuche von Wahlfälschung besser zu wappnen, hatten sie deshalb bereits zwei Monate vorher gemeinsam mit dem Menschenrechtsverein IHD international zur unabhängigen Wahlbeobachtung aufgerufen. Dem folgten Dutzende Menschen aus Europa. Auch ich reiste nach Amed, um dort sowohl das Newrozfest am 21. März als auch die Wahlen mit zu verfolgen. Am Wahltag führte mich meine Reise nach Pîran (Dicle), einem Vorort von Amed.

Pîran – Heimatstadt des Ensarioğlu-Clans

Als ich am Tag vor den Wahlen gemeinsam mit einem jungen italienischen Journalisten und zwei Mitgliedern der sozialistischen Rødt-Partei aus Norwegen in die Gruppe nach Pîran eingeordnet wurde, wusste ich nicht wirklich viel mit dem Ort anzufangen. Die erste Information, die ich erhielt, besagte, dass der AKP-Kandidat für Amed, Galip Ensarioğlu, aus der Stadt stammt. Ensarioğlu ist der Name einer einflussreichen Familie in Amed, die seit jeher über enge Beziehungen zum türkischen Staat verfügt. Der Onkel des Ameder AKP-Kandidaten Salim Ensarioğlu war drei Perioden Staatsminister im türkischen Parlament, sowohl unter der Regierung von Tansu Çiller als auch unter Necmettin Erbakan. Selbst in den Zeiten des schmutzigen Krieges in Kurdistan tauchen somit Mitglieder dieses Clans in staatlichen Positionen auf. In der Parlamentswahl 2011 scheiterte besagter Ensarioğlu als unabhängiger Kandidat in Amed, erzielte aber immerhin mehr als 18 000 Stimmen. Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr war für die AKP außer in der Großstadt Amed auch in Pîran ein Ensarioğlu aufgestellt, und zwar ein gewisser Faysal Ensarioğlu, der Cousin von Salim Ensarioğlu.

Nun war für Amed ein Scheitern der Ensarioğlus abzusehen, aber in Pîran wollten sie für einen künftigen Bürgermeisterposten alles in Bewegung setzen. Zuvor hatte die BDP in Pîran zweimal hintereinander die Kommunalwahlen gewonnen. Doch dieses Mal war in ihren Kreisen eine gewisse Nervosität zu spüren. Es gab Gerüchte, dass bis zu 2 000 Mitglieder der Spezialeinsatzkräfte in der Region zusammengezogen worden seien, um dort als Stimmberechtigte die Stimmenzahl für die AKP in die Höhe zu treiben. Später erfuhren wir von einem Anwalt aus Pîran, dass dies rechtlich gar nicht möglich sei, und der Fall trat dann auch tatsächlich nicht ein. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Wahlvorgang insgesamt sauber verlief.

»Ihr setzt die Wähler unter Druck«

Wir fuhren am Abend des 29. März in Richtung Pîran. Der Ort liegt etwa 70 km vom Stadtzentrum Ameds entfernt. Die Nacht verbrachten wir bei einer Familie in einem Dorf, das an Pîran angebunden ist. Die Familienmitglieder und Nachbarn befragten uns bis spät in die Nacht, wie demokratische Wahlen in Europa ablaufen, und erzählten von ihren Erfahrungen in Pîran. Sie mahnten uns, am Folgetag äußerst aufmerksam zu sein, denn die AKP würde gemeinsam mit Polizei und Militär alles in Bewegung setzen, um ihren Bürgermeisterkandidaten durchzubringen. Nach einer ziemlich kurzen Nacht wachten wir bereits um fünf Uhr morgens auf. Eigentlich wollten wir eine Stunde später aufstehen, doch die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit brachte nicht nur uns, sondern auch unsere Gastgeber durcheinander. Eigentlich hätte die Zeitumstellung am 30.03. stattfinden sollen, doch aufgrund des Wahltags hatte die AKP-Regierung sich dazu entschlossen, die Umstellung um einen Tag zu verschieben.

Unsere Arbeit begann um sieben Uhr. Um diese Zeit öffneten die Wahllokale in den kurdischen Gebieten der Türkei. So besuchten wir gleich zu Beginn die zwei Wahllokale im Stadtzentrum von Pîran und eines in einem nahe gelegenen Dorf. Die meisten Wahllokale waren in staatlichen Schulen untergebracht, in einigen Dörfern auch in Containern. Sofort bei unserem ersten Besuch in einer Schule in Pîran bekamen wir einen Eindruck davon, wie die Wahl dort abläuft. Ein Panzerwagen des Militärs war eindrucksvoll vor dem Eingang der Schule platziert, vor und in der Schule hielten sich Dutzende Polizeibeamte auf. Und von Letzteren wurden wir nicht gerade freundlich empfangen. Sie fragten aggressiv, was wir dort zu suchen hätten. Es sei lediglich türkischen Staatsbürgern gestattet, die Wahllokale zu betreten. Wir schilderten in ruhigem Ton, dass wir unabhängige Wahlbeobachter seien, doch die Reaktion blieb zunächst dieselbe. Schließlich erklärte uns ein Herr in Zivil, dass wir uns kurz umsehen könnten und dann die Schule zu verlassen hätten. Das taten wir dann zunächst auch und informierten uns schließlich bei einem Rechtsanwalt vor Ort über unsere Rechte als unabhängige Wahlbeobachter, um bei der nächsten Konfrontation dieser Art besser vorbereitet zu sein. Es hieß, dass wir das Recht hätten, uns in den Fluren der Schulen umzusehen und in die Klassenräume mit den Wahlurnen hineinzuschauen. Mit Erlaubnis des Wahlurnenleiters hätten wir auch das Recht, in die Klassen zu gehen und mit den Mitarbeitern über den bisherigen Wahlverlauf zu sprechen. Dann wurden wir über die Rechte der Polizei aufgeklärt. Diese dürfte sich nur bis auf fünfzehn Meter der Wahlurne nähern und selbst dürften sie nur unbewaffnet wählen gehen. Ansonsten dürften sie bei einem Konflikt an der Wahlurne nur nach Aufforderung des Wahlurnenleiters die Klassenräume betreten. Was wir beim ersten und bei so gut wie allen weiteren Wahllokalen zu sehen bekamen, stand im eklatanten Widerspruch zu diesen Regeln.

So standen beispielsweise an der zweiten Schule, die wir nach dem Gespräch mit dem Anwalt besuchten, bewaffnete Polizisten direkt an den Türen der Klassenräume und musterten die Gesichter der Eintretenden. Wir machten einen Polizisten auf die 15-Meter-Regel aufmerksam. Er war recht verblüfft und versuchte zu erklären, dass diese Regel bei den engen Fluren kaum einzuhalten sei, was nicht der Wahrheit entsprach. Während wir im Gespräch mit dem Polizisten waren, schrie uns dann ein kleinerer Mann in Zivil von etwa 45 Jahren an, was wir dort zu suchen hätten. »Ihr setzt die Wähler unter Druck«, behauptete er halb nervös, halb aggressiv und rief den Polizeichef herbei. Wir baten ihn, uns diejenigen persönlich vorzustellen, die sich durch unsere Präsenz unter Druck gesetzt fühlten, was er natürlich nicht tat. Der Polizeichef ersuchte uns diesmal in freundlichem Ton, die Schule zu verlassen, was wir dann auch taten, um die Situation nicht unnötig zu eskalieren. Vor der Tür haben wir dann erfahren, dass derjenige, der uns so hastig aus dem Wahllokal heraushaben wollte, der AKP-Vorsitzende in Pîran war.

Keine BDP-Mitarbeiter an den Wahlurnen erwünscht

Unsere weiteren Besuche in Wahllokalen konzentrierten sich auf die umliegenden Dörfer. Die dort eingesetzten Gendarmeriekräfte waren in der Regel etwas zurückhaltender und hielten auch öfter die 15-Meter-Regel ein. Doch vielerorts sahen wir, wie bewaffnete Soldaten oder Dorfschützer ihre Stimme an der Wahlurne abgaben. Zum Teil waren die Schulen überfüllt, und wenn erneut irgendwo der Strom ausfiel, herrschten chaotische Zustände. Später haben wir erfahren, dass es auch in zahlreichen anderen Orten immer wieder zu Stromausfällen kam. In einer solchen Situation war es recht leicht, den Überblick über die Lage an den Urnen zu verlieren. Ob es dabei zu versuchten oder tatsächlichen Wahlmanipulationen kam, können wir nicht sagen. Doch Befürchtungen dieser Art wurden von vielen Menschen geäußert, mit denen wir in Pîran sprachen. Auch nach 16 Uhr, als die Wahllokale in den kurdischen Gebieten geschlossen waren und die Auszählung begann, soll es immer wieder zu Stromausfällen gekommen sein. Es hatte keinerlei Vorbereitungen auf mögliche Stromausfälle gegeben. Die Auszählung sei zum Teil mithilfe der Leuchtfunktion von Mobiltelefonen vorgenommen worden.

Den traurigen Höhepunkt unserer Wahlbeobachtung in Pîran erlebten wir in einem Dorf des Ensarioğlu-Clans. Dort fand die Wahl in zwei überfüllten Containerräumen statt. Wir schauten kurz vorbei, sprachen mit einem sichtlich nervösen und überforderten Wahlurnenleiter und wollten uns gerade verabschieden, da bedeutete uns der italienische Journalist aus unserer Gruppe, noch einen Moment zu warten. Er erklärte mir schließlich auf Englisch, dass eine an der Wahlurne arbeitende Person allein in der Zeit unserer Präsenz mit sechs oder sieben älteren Frauen in die Wahlkabine gegangen sei und den Wahlzettel für sie gestempelt habe. Ich übersetzte dem Wahlurnenleiter diese Beobachtung, aber er stritt sie vehement ab. Dann fragte ich direkt die Person, die für die Frauen gestempelt hatte, und er gab es zu, erklärte uns aber, dass er das Recht dazu habe. Man sei schließlich im Dorf miteinander verwandt und nach dem Wahlgesetz dürfe ein Verwandter einer Person helfen, die nicht mehr in der Lage ist, selbst zu wählen. So weit trifft das zwar zu, wenn der Wahlurnenleiter diese Hilfe für angemessen erachtet. Allerdings darf der Helfer nicht zugleich Mitarbeiter an der Wahlurne sein. Darauf machte dann, vermutlich ermutigt durch unsere Präsenz, der Mitarbeiter der BDP an der Wahlurne aufmerksam. Und was daraufhin folgte, war eine wüste Massenschlägerei, die ohne Vorankündigung im Wahllokal ausbrach und sich davor fortsetzte. Eigentlich war es eher ein Lynchversuch an zwei oder drei BDP-Angehörigen in dem Wahllokal, die von Hunderten vermeintlichen AKP-Mitgliedern und -Sympathisanten gejagt und verprügelt wurden. Uns blieb nichts anderes übrig, als fluchtartig den Ort zu verlassen. Während wir zu unserem Fahrzeug rannten, bekamen wir mit, wie die Gendarmerie in die Luft schoss, um die Situation zu beruhigen. Später haben wir erfahren, dass die AKPler vermutlich nur auf einen Anlass gewartet hatten, um den BDP-Mitarbeiter von der Wahlurne zu verjagen. Diesen Anlass hatten wir ihnen anscheinend gegeben. Zum Glück beruhigte sich die Situation nach den Schüssen der Gendarmerie und es kam zu keinen schwereren Verletzungen.

Bei unseren folgenden Besuchen in Wahllokalen passierten keine weiteren Zwischenfälle dieser Art. Neben den üblichen Stromausfällen, der Nichtbeachtung der 15-Meter-Regel und bewaffneten Wählern versuchte die Gendarmerie uns noch zwei Mal an unserer Beobachtung zu hindern und verlangte unsere Ausweise. Doch nach einigen Telefonaten mit ihren Vorgesetzten ließen sie uns dann doch weiterarbeiten.

Wahlsieg der BDP und letzte verzweifelte Provokationen

Kurz nach 18 Uhr erreichten uns dann die ersten Wahlergebnisse. Während die BDP nach den ersten Hochrechnungen noch weit unter den Erwartungen lag, holte sie über den ganzen Abend hinweg Stück für Stück auf und erreichte dann doch ein Ergebnis, das sich sehen lassen konnte. In Pîran wurde gegen 19 Uhr erst erklärt, dass die BDP mit mehr als 1000 Stimmen vor der AKP liege, und es brachen spontan Jubelfeiern im Stadtzentrum aus. Das am Folgetag verkündete Endergebnis für Pîran lautete schließlich knapp 50 % der Stimmen für die BDP und rund 45 % für die AKP.

Doch kaum waren die Freudenbekundungen der Bevölkerung ausgebrochen, änderte sich die Stimmung im Stadtzentrum schlagartig. Es wurde vermeldet, dass AKP-Anhänger die Feiernden mit Steinen und Latten angegriffen hätten, später war auch von Schüssen die Rede. Wir bekamen mit, wie zwei verletzte junge Frauen provisorisch auf der Straße versorgt und anschließend ins Krankenhaus gefahren wurden, doch den genauen Überblick über die Lage in der Stadt hatten wir verloren. Es wurde uns berichtet, dass der Angriff der AKP-Anhänger aus der Nähe eines Polizeireviers gekommen sei. Viele Menschen marschierten anschließend in Richtung städtisches Krankenhaus. Noch bevor sich die Lage beruhigt hatte, kam die nächste Schreckensmeldung: Aus einem fahrenden Auto sei in der Nähe des Krankenhauses auf Menschen geschossen worden. Auch unsere Gruppe begab sich daraufhin in Richtung Krankenhaus. Dort erzählte uns jemand, der sich vor dem zweiten Zwischenfall im Krankenhaus befunden hatte, dass mehrere verletzte und blutüberströmte Menschen in das Krankenhaus gebracht worden seien. Zwei der Verletzten wurden aufgrund ihrer schweren Verletzungen später am Abend noch in die Universitätsklinik von Amed verlegt.
Einige Menschen aus dem Krankenhaus erklärten, es seien die Männer des unterlegenen AKP-Kandidaten Faysal Ensarioğlu gewesen, die aus dem Auto geschossen hätten, manche meinten sogar, er selbst. Wir konnten diese Information nicht verifizieren. Doch die Leute meinten, dass die Angriffe allein das Ziel hätten, für Verwirrung zu sorgen, um anschließend möglicherweise Wahlurnen verschwinden zu lassen. Denn nach der Auszählung der Stimmen in den Wahllokalen selbst sollten alle Wahlurnen noch in ein staatliches Gebäude des Hohen Wahlausschusses in der Stadt gebracht werden, wo nach einer erneuten Auszählung das offizielle Ergebnis verkündet werden sollte. Die Menschen begaben sich deswegen vom Krankenhaus vor dieses staatliche Gebäude und harrten dort trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt aus. Wir blieben allerdings nur kurz bei ihnen, denn unser Auto fuhr aufgrund der Zwischenfälle mit einiger Verspätung kurz nach Mitternacht aus Pîran in Richtung Amed.

Pîran ist kein Einzelfall

Zwei Tage nach den Wahlen erreichen uns immer neue Meldungen über Unregelmäßigkeiten. So gut wie alle Wahlbeobachtungsdelegationen sprechen von Stromausfällen mit teilweise einhergehenden chaotischen Zuständen in den Wahllokalen. In der Presse ist von weggeworfenen oder verbrannten Wahlzetteln wie in Serêkaniyê/Riha (Ceylanpınar/Urfa) oder Hezo/Êlih (Kozluk/Batman) die Rede. In anderen Orten wurde erst nach mehrfacher Auszählung der Stimmzettel die AKP oder MHP anstelle der BDP zur Siegerin erklärt.

Doch trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse beim Wahlkampf und Unregelmäßigkeiten bei der Wahl selbst kann das Wahlergebnis als politischer Erfolg für die kurdische Bewegung insgesamt gewertet werden. Gelingt es der BDP und der kurdischen Freiheitsbewegung insgesamt, mit den gewonnenen Stadtverwaltungen das Konzept einer demokratischen, pluralistischen und progressiven Selbstverwaltung zu etablieren, werden sie diese Verwaltungen nicht nur halten, sondern weitere hinzugewinnen. Vor dem 30. März war die Wahl von der BDP zum Referendum über die Demokratische Autonomie erklärt worden. Es kann in weiten Teilen als erfolgreich bewertet werden. Nun heißt es, die Demokratische Autonomie umzusetzen.