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Die Grabenpolitik des Mesûd Barzanî
Mako Qocgirî, Civaka Azad
An der Grenze zwischen Südkurdistan (Nordirak) und Rojava (Nordsyrien) wird derzeit ein zwei Meter breiter und drei Meter tiefer Graben gezogen. Ein Graben mitten durch Kurdistan, als wolle man nachdrücklich zum Ausdruck bringen, dass niemand die Grenzen, die vom Westen bei der Vierteilung Kurdistans im Vertrag von Lausanne 1923 festgelegt wurden, auch nur in seinen Gedanken in Frage stellen dürfe. Das Interessante an der Geschichte ist allerdings, dass eine Partei, die den Begriff Kurdistan in ihrem Parteinamen trägt, verantwortlich für diesen Grabenbau ist. Als am 9. April die Brücke über den Tigris am Grenzübergang Sêmalka zwischen Rojava und Südkurdistan abgebaut und mit dem Ausheben des Grabens begonnen wurde, ist die Fahne der Regionalregierung Kurdistans abgehängt und dafür die Fahne der Partei gehisst worden, die für diese Politik verantwortlich ist. Es ist die Fahne der südkurdischen Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) unter Mesûd Barzanî.
Zwar hat die PDK seit dem Beginn der Revolution von Rojava keine konstruktive Haltung im Sinne des kurdischen Freiheitskampfes eingenommen, doch mit ihrem aktuellen Schritt hat sie selbst diejenigen in Rojava, die trotz allem eine heimliche Sympathie für Barzanî und seine Partei hegten, vor den Kopf gestoßen. Denn die PDK nimmt nun die Vorreiterrolle in der Embargopolitik gegen die Selbstverwaltungsgebiete in Rojava ein. Es ist eine Politik des Aushungerns, auf welche die PDK setzt. „Wenn die Bevölkerung hungert, wird sie zu dem Schluss kommen, dass die Demokratische Autonomie nicht funktioniert. Dann werden sie in Scharen aus Rojava zu fliehen versuchen und sich an die PDK-S wenden statt an ihre derzeitigen politischen Vertreter." Das scheint vereinfacht gesagt die Logik hinter der PDK-Politik zu sein. Es geht ihr also um Macht und Einfluss in Rojava. Es geht aber auch um mehr als das. Es geht, aus Sicht der PDK, um die Angst vor einem alternativen und demokratischen Gesellschaftssystem, das in den drei Kantonen Rojavas derzeit ins Leben gerufen wird. Wenn dieses System dort Wurzeln schlägt und die Bevölkerung in kommunalen Strukturen erfolgreich die Aufgaben der tagtäglichen Selbstverwaltung meistern, wird es früher oder später auch in der Bevölkerung Südkurdistans zum Thema werden. Dass sich derzeit unter den Einwohnern Südkurdistans eine Politikverdrossenheit gegenüber den Systemparteien PDK und PUK (Patriotische Union Kurdistans) breitmacht, ist hinlänglich bekannt. Doch dass seit mehr als sieben Monaten nach den Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan keine Regierungsbildung zustande kommen konnte, ist selbst für die politische Dauerkrise in Südkurdistan eine neue Dimension. Dann können erfolgreiche Gesellschaftskonzepte, zumal sie auch von Kurdinnen und Kurden gleich jenseits der Grenze umgesetzt werden, brandgefährlich für die eigenen Machtstrukturen werden.
Da verwundert es auch nicht weiter, dass der PDK-Vorsitzende Barzanî im Interview mit dem arabischsprachigen Programm des Senders Sky News die Revolution in Rojava zu diffamieren versucht. Es handele sich um gar keine Revolution, stattdessen habe eine Partei, die mit dem alten Regime unter einer Decke stecke, unter Waffengewalt die Kontrolle in der Region übernommen. Außerdem seien die Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden in Rojava nur vorübergehender Natur, und sie würden sich in Luft auflösen, sobald sich die politischen Gegebenheiten dafür wieder geändert hätten. Genauso angriffslustig, wie sich Barzanî im Interview gegenüber der Rojava-Revolution zeigte, verhielten sich seine Peshmergekräfte gegenüber den Protesten, die sich gegen den Grabenbau in der Grenzregion richteten. Seit dem 9. April halten sich täglich hunderte Menschen aus Rojava direkt an der Grenze zu Südkurdistan auf. Am ersten Tag schossen die Peshmerge von südkurdischem Boden aus scharf auf die demonstrierenden Menschen und verletzten dabei einen 18-Jährigen. Und in der Nacht vom 14. auf den 15. April wurde dann ein Flüchtling aus Rojava beim Versuch, illegal über die Grenze nach Südkurdistan zu gelangen, von den Peshmerge getötet.
Derzeit unterscheidet sich die Haltung der PDK zu Rojava in keinster Weise von derjenigen der türkischen Regierung. Während im Norden Rojavas die AKP-Regierung die Entscheidung zum Bau einer Mauer entlang der Grenze umgesetzt hat, ist es nun der Grenzgraben der PDK, der im Osten Rojavas das Embargo gewährleisten soll. Der dritte, wenn auch nicht offizielle, Partner im Bunde ist die islamistische Organisation Islamischer Staat Irak und Syrien (ISIS). Die PDK gab in ihren öffentlichen Erklärungen zum Bau der Grenzbefestigung an, das geschehe zum Schutz ihrer Region vor islamistischem Terroristen. Doch die Leute aus der Region wissen, dass die ISIS vor allem über das irakische Gouvernement Al-Anbar nach Syrien einsickert und es auch wieder verlässt. Und Al-Anbar liegt südlich der kurdischen Autonomieregion im Irak. Ein weiteres offenes Tor für ISIS scheint der türkische Grenzübergang Akçakale zu sein, denn von dort und von dessen Nachbarort auf syrischer Seite Tel Abyad aus organisierten die Islamisten den seit Beginn der Rojava-Revolution größten Angriff auf die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen. Seit dem 10. März dieses Jahres attackierte ISIS den Kanton Kobanê von drei Seiten. Kobanê ist geographisch der mittlere der drei Kantone Rojavas, sodass davon auszugehen ist, dass ISIS nach erfolgreicher Einnahme Kobanês von dort aus die beiden anderen Kantone Cizîre und Efrîn hätte angreifen können. Interessanterweise schien auch das Baath-Regime glücklich darüber, dass ISIS ihre Angriffe auf die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen konzentrieren wollte, denn Augenzeugen berichten, dass ISIS ihre Kräfte problemlos über die vom Baath-Regime kontrollierten Gebiete nach Norden verlagern konnte.
Doch ISIS scheiterte mit ihrem Vorhaben am Widerstand der Volksverteidigungseinheiten, wie YPG-Kommandant Sipan Hemo am 18. April gegenüber der Nachrichtenagentur Firat (ANF) mitteilte. Hemo zufolge seien die Islamisten mehrfach mit großangelegten Angriffswellen gegen Kobanê gescheitert und hielten sich derzeit nur noch in wenigen arabischen Dörfern vor Kobanê auf. Auch Hemo glaubt nicht, dass es sich um einen Zufall handelt, wenn praktisch im selben Atemzug mit der ISIS-Niederlage in Kobanê die PDK mit der Anlage des Grenzgrabens beginnt.
Doch der Widerstand von Kobanê hat noch einmal eindrucksvoll den Freiheitswillen der kurdischen Bevölkerung in Rojava unter Beweis gestellt. Erstmals haben sich Kurdinnen und Kurden aus Nordkurdistan in größerer Zahl den YPG angeschlossen, um bei der Abwehr des Angriffs von ISIS Unterstützung zu leisten. Grenzüberschreitend scheint die Bevölkerung Kurdistans gewillt zu sein, für die Verteidigung der Rojava-Revolution einzutreten. Das wird weder der Grenzgraben der PDK noch die Mauer der türkischen Regierung verhindern können. Sipan Hemo ist nicht allein mit seiner Meinung, dass es für die Revolution in Rojava kein Zurück mehr gebe. Die Bevölkerung Rojavas scheint auf jeden Fall Mesûd Barzanî und seiner PDK beweisen zu wollen, dass die Errungenschaften ihrer Revolution alles andere als vorübergehender Natur sind.
Nachtrag des Autors
Kurze Zeit nachdem ich diesen Artikel geschrieben habe, erreichte uns die Meldung, dass der Grabenbau an der Grenze zwischen Rojava und Südkurdistan vollendet worden ist. Gleichzeitig haben die Peshmergekräfte der KDP damit begonnen, Militärstationen an der Grenze zu errichten. Während die beiden südkurdischen Parteien PUK (Patriotische Union Kurdistans) und die Goran-Bewegung die Politik der KDP gegenüber Rojava scharf kritisieren, scheint die Partei Barzanis sich nicht von ihrem politischen Kurs abbringen lassen zu wollen. Doch auch der Widerstand gegen diese „Grabenpolitik" der KDP hält grenzübergreifend in allen Teilen Kurdistans an. Es scheint fast schon so, dass der politische Schaden durch den Grenzgraben sich für die KDP weitaus größer abzeichnen wird als für die Revolution in Rojava.