Aktuelle Bewertung
Und was kommt nach den Kommunalwahlen ...?
Songül Karabulut
Für die Kurdinnen und Kurden waren die vergangenen zwei Monate geprägt von Newroz am 21. März, den Kommunalwahlen in der Türkei am 30. März sowie den Entwicklungen im Zusammenhang mit Rojava (Westkurdistan).
Als Erstes möchte ich auf die Kommunalwahlen eingehen. Um die Ergebnisse bewerten zu können, kann ein kurzer Rückblick auf die politische Konstellation vor der Wahl sinnvoll sein.
In der Türkei werden seit Ende 2012 zwischen dem kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan und der Delegation des türkischen Staates Friedensgespräche geführt. In deren Folge blieben militärische Auseinandersetzungen aus, auch wenn sie wegen der fehlenden Schritte der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) seit Sommer letzten Jahres ins Stocken geraten sind. Die kurdische Bewegung hatte erklärt, bis nach den Kommunalwahlen zu warten, bevor sie im Falle ausbleibender Verhandlungsfortschritte eine Neubewertung der Situation vornehmen würde. Also wurde ein Prozess eingeleitet, der zu großen Hoffnungen führte, die aber nicht erfüllt worden sind.
Eine Bewertung der Kommunalwahlen
Viele Möglichkeiten zum Widerstand
Dr. Nazan Üstündağ, Lehrbeauftragte an der Boğaziçi-Universität Istanbul
In dem Zeitraum zwischen dem Beginn der Gezi-Aufstände am letzten 1. Juni und den Kommunalwahlen vom 30. März gab es in der Türkei wichtige politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Sie führten dazu, dass sich drei unterschiedliche politische und gesellschaftliche Oppositionsgruppen gegenüber der AKP formiert haben.
Die erste hat sich aus dem Umfeld der kurdischen Freiheitsbewegung und einer Vielzahl sozialistischer Gruppen aus der Türkei organisiert und im Block der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zusammengefunden. Ihre Kritik an der Regierung konzentriert sich darauf, dass die AKP ihrer Verantwortung im Lösungsprozess nicht gerecht werde und statt eines Demokratisierungskurses einen zunehmend autoritären Politikstil verfolge. Es geht um einen Kampf für Fortschritte im Lösungsprozess, eine Entwicklung kommunal-demokratischer Strukturen und für die Gleichberechtigung der Geschlechter, der Klassen und der Völker. Auch wenn sie in der türkischen Politik eine Minderheit darstellt, so ist sie dennoch eine politische Kraft, die zu einem Wandel beitragen kann. Am 30. März trat die HDP in 58 Provinzen und die BDP in 23 kurdischen Provinzen zur Wahl an. Beide zusammen erhielten rund 6,5 % der WählerInnenstimmen.
»Halim hat die gleichen Symbole plakatiert, die wir heute auf unseren Pullis oder als Halskette tragen. Müssen wir nun Angst haben, dass uns deutsche Bullen erschießen?«
Kampagne Halim Dener: gefoltert. geflüchtet. verboten. erschossen.
Für den Kurdistan Report führte die Zeitschrift Ronahî ein Interview mit den AktivistInnen Medya (Ciwanên Azad) und Thomas (YXK – Verband der Studierenden aus Kurdistan).
Ronahî: Was war für Euch der Anlass, eine Kampagne Halim Dener ins Leben zu rufen? Was unterscheidet die Kampagne von den Aktionen zum Tod Halims der letzten Jahre?
Medya: In den letzten Jahren gab es hier in Hannover immer eine kleine Demo oder Kundgebung am Jahrestag der Ermordung von Halim. Diese wurden auch immer von Gruppen aus der deutschen Linken in der Stadt getragen. Für sie hat Halims Tod eine gewisse Bedeutung, sodass sie auch dieses Jahr wieder etwas dazu machen wollten. Das hatten sie sich schon vorgenommen, bevor wir mit dem Vorschlag, eine gemeinsame Kampagne zu machen, zu ihnen gegangen sind.
Von unserer, kurdischer Seite wurden diese Aktionen leider immer weniger ernst genommen. Das wollen wir dieses Jahr, zum zwanzigsten Jahrestag des Mordes, ändern. In Hannover ist die Zusammenarbeit bereits besser geworden. Wir konzentrieren uns jetzt auf die gemeinsame Podiumsdiskussion.
Thomas: Die Idee, eine gemeinsame Kampagne deutscher und kurdischer linker Gruppen zu Halim Dener zu initiieren, entstand Ende letzten Jahres aus den Arbeiten der Kampagne TATORT Kurdistan. TATORT Kurdistan bringt beide Spektren zusammen, um ihre jeweiligen Kämpfe an gemeinsamen Schnittpunkten zu verbinden. Letzten November fand die große Demo mit vielen deutschen UnterstützerInnen gegen das PKK-Verbot in Berlin statt. Danach stellte sich für uns die Frage, wie wir Gruppen der radikalen Linken und der kurdischen (Jugend-)Bewegung weiter zusammenbringen können. Eine gemeinsame Kampagne zu einem gemeinsamen Thema ist eine gute Gelegenheit, um sich gegenseitig kennenzulernen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen und vor allem gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen.
Die Kampagne an sich ist thematisch und für interessierte Gruppen und Personen sehr offen. Der Untertitel »gefoltert. geflüchtet. verboten. erschossen.« bezieht sich auf die verschiedenen Kämpfe, die sich in Halims Geschichte vereinen. Diese Kämpfe sichtbar zu machen und zu vernetzten ist unser Ziel. Daher richtet sich die Kampagne mit ihren inhaltlichen Schwerpunkten über die kurdische Bewegung und die mit ihr bereits solidarische radikale Linke hinaus an Gruppen, die sich mit Krieg und Militarismus, Flucht und Vertreibung, Repression und (rassistischer) Polizeigewalt beschäftigen.
Ein Schwerpunkt der Kampagne ist das PKK-Verbot. Obwohl letzten November zahlreiche Personen und Organisationen dagegen protestiert haben, findet es in der deutschen Linken oft keine Beachtung. Warum ist das so und warum ist Euch das PKK-Verbot so wichtig?
Thomas: Ein großes Missverständnis in Bezug auf das PKK-Verbot ist die Auffassung, es handele sich dabei um ein »kurdisches« Problem. Natürlich führt das Verbot zu einigen Hindernissen für die kurdische Bewegung, aber die PKK setzt ihren politischen Kampf unbeirrt fort und überzeugt immer mehr Menschen von der Richtigkeit dieses Kampfes – nicht nur in Kurdistan, sondern gerade auch hier in Europa.
Das PKK-Verbot zielt vielmehr darauf ab, dass sich kurdische BasisaktivistInnen hier vor Ort nicht länger betätigen. Es handelt sich um Jugendliche oder Familienmütter und -väter, die sich in Jugendgruppen, Kulturvereinen, zivilgesellschaftlichen Einrichtungen engagieren und dafür mit Repression überzogen werden: Aberkennung des Aufenthaltsstatus, Verurteilung wegen Verstoß gegen das Vereinsgesetz, Anquatschversuche vom Verfassungsschutz, Stress in der Schule oder bei der Arbeit u. Ä. sind Alltag kurdischer BasisaktivistInnen. Und dann bekommen regelmäßig Einzelne die Keule des bundesrepublikanischen politischen Strafrechts, die §§ 129 ff. StGB zu spüren, um Verunsicherung zu verbreiten und der staatlichen Macht Ausdruck zu verleihen. Diese Repression wird mit dem PKK-Verbot gerechtfertigt, hat aber das Ziel, eine linke Bewegung hier in der BRD zu drangsalieren. Gemeinsam mit der deutschen Linken zu arbeiten, gemeinsame gesellschaftliche und politische Kämpfe zu führen, soll verhindert werden.
Von daher ist das Verbot mindestens genauso ein Problem der deutschen Linken, denn die gleiche Staatsmentalität von Verbot und gesellschaftlicher Ausgrenzung trifft auch sie; erinnert euch nur an das KPD-Verbot. Auch die BRD hat ein eklatantes Demokratiedefizit, das PKK-Verbot ist nur ein Ausdruck davon.
Medya: Wir kurdischen Jugendlichen spüren das PKK-Verbot und die ganze Denkweise, die damit einhergeht, sehr deutlich. Es gibt ein gesellschaftliches Klima, das uns als politisch interessierte und engagierte Jugendliche grundsätzlich feindlich gesinnt ist. Überall wo wir uns bewegen, selbst im Alltag in der Schule oder auf Facebook, werden wir nicht als KurdInnen akzeptiert. Wir werden immer als TerroristInnen und Kriminelle abgestempelt, bloß weil wir »kesk û sor û zêr« (die »kurdischen Farben« grün, rot, gelb; Anm. d. Red.) oder ein Bild von Serok Apo tragen. FreundInnen von uns, die sich organisieren und wirklich etwas für uns Jugendliche machen wollen, werden als TerroristInnen angeklagt und zu langen Haftstrafen verurteilt wie Metin Aydin in Stuttgart oder sogar ermordet wie Leyla Şaylemez in Paris.
Halim Dener wurde genauso als Terrorist gesehen. Darum hat der Bulle geschossen und darum ist er auch gedeckt worden und sogar davongekommen, obwohl er einen 16-Jährigen in den Rücken geschossen hat. Halim hat die gleichen Symbole plakatiert, die wir heute auf unseren Pullis oder als Halskette tragen. Müssen wir nun Angst haben, dass uns deutsche Bullen erschießen?
Was versprecht Ihr Euch von der Arbeit in der Kampagne? Was sind Eure Wünsche?
Medya: Wir als kurdische Jugendliche und radikale Linke müssen wieder mehr aufeinander zugehen und voneinander lernen. Vor allem wir selbst tun uns sehr schwer damit. Politisch steht bei uns der Kurdistan-Konflikt im Vordergrund, damit erreichen wir oft niemanden. Wenn doch Interesse besteht, ist es schwierig, mit uns in Kontakt zu treten und zu bleiben. Wir selbst erkennen diese Probleme und wollen mit einer neuen Organisierung als Ciwanên Azad strukturierter und erreichbarer werden.
Ich hoffe, dass dann auch unser Kampf mehr beachtet wird und auch mehr deutsche GenossInnen auf uns zukommen. Wir haben gemeinsame Bedürfnisse und Kämpfe. Das dürfen wir uns nicht nur sagen, sondern müssen auch dementsprechend handeln. Ich wünsche mir, dass die Kampagne Halim Dener ein kleiner Schritt in diese Richtung sein wird.
Thomas: Ich sehe das genauso. Wir müssen als Linke und DemokratInnen die Gräben überwinden, die der Staat zwischen uns gezogen hat. Die Kämpfe, welche die Kampagne Halim Dener miteinander verbinden möchte, können wir einfach nicht allein gewinnen. Es geht uns um die gleichen Anliegen und die verschiedenen Kämpfe gehören – auch inhaltlich – zusammen.
Ich wünsche mir auch, dass die Arbeiten zu dieser Kampagne verschiedenste Gruppen zusammenbringen und vernetzen. Daher möchte ich nochmal alle Interessierten aufrufen, sich in die praktischen Arbeiten der Kampagne einzubringen, und linke Gruppen aufrufen, den Aufruf zur Demo am 21.06.14 in Hannover zu unterstützen.
Blog der Kampagne: http://halimdener.blogsport.eu/
Kontakt zur Kampagne:
Vor 20 Jahren wurde Halim Dener von einem deutschen Polizisten in Hannover erschossen.
Wir erinnern an die Ereignisse der Jahre 1993/94 und stellen sie in einen Kontext mit der heutigen Situation in Kurdistan und der BRD.
Kommt zur bundesweiten Demonstration
21.06.2014, 14.00 Uhr, Hannover, Steintor
gefoltert.
Der 16-jährige Kurde Halim Dener musste 1994 vor der Verfolgung durch den Staat Türkei aus seiner Heimat fliehen. Damals zerstörte das türkische Militär 4 000 Dörfer – so auch Halims Dorf in der Nähe von Çewlik (türk.: Bingöl). 17 000 »Tote unbekannter Täter«, Verschwundene und Folter waren die gängige Praxis von Polizei, Geheimdienst und Paramilitärs. Halim selbst wurde nach einer Festnahme von der türkischen Polizei eine Woche lang verhört und gefoltert.
Aktuell wird über einen Friedensprozess debattiert, doch hat sich die Situation kurdischer Jugendlicher in türkischen Gefängnissen nicht grundlegend geändert: Gewalt, Folter und sexuelle Übergriffe stehen nach wie vor auf der Tagesordnung. Und auch auf der Straße werden weiterhin Jugendliche in Auseinandersetzungen mit der Polizei getötet.
In den deutschen Medien wird der Kurdistan-Konflikt weitgehend verschwiegen. Die BRD ist jedoch durch die Bekämpfung der kurdischen Bewegung sowie Waffenlieferungen und militärische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO-Partnerschaft selbst aktiver Teil des Kurdistan-Konflikts.
geflüchtet.
Halim flüchtete vor Krieg und Verfolgung unter falschem Namen, um seine Familie in der Heimat nicht zu gefährden. Als minderjähriger, unbegleiteter Flüchtling kam er in die BRD. Hier war nach öffentlicher rassistischer Hetze und Pogromen an Flüchtlingen und Migrant*innen 1993 das Grundrecht auf Asyl durch Änderung des Grundgesetzes faktisch abgeschafft worden. Infolgedessen sank die Quote der Anerkennung auf Asyl von damals bereits geringen 4,3 % auf 0,8 % im Jahr 2006.
Heute fliehen Menschen aus den Konfliktzonen, wie z. B. Syrien oder Libyen, um in Europa ihr Leben in Sicherheit weiterführen zu können. Darunter sind viele Minderjährige, die teilweise ohne Familienanschluss die gefährliche Flucht auf sich nehmen. Flüchtlingen und Migrant*innen schlägt immer wieder, auch von Seiten der Behörden, blanker Rassismus entgegen.
verboten.
Im November 1993 wurde nach einer beispiellosen Hetzkampagne gegen die kurdische Bevölkerung in der BRD die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und alle ihr nahestehenden Organisationen als »Terrororganisation« verboten. Es folgte eine Welle von Durchsuchungen und Verhaftungen. Durch öffentliche Hetze gegen Kurd*innen wurde ein Klima von Hass und Angst geschaffen, das von einer simplen Gleichung bestimmt war: »Kurd*innen = PKK = Terrorist*innen«
Das Verbot hat nach wie vor Bestand und findet rege Anwendung. So trifft die Repression kurdische Kulturvereine und öffentliche Strukturen der kurdischen Bewegung, insbesondere aber kurdische Jugendliche und Aktivist*innen, die sie sich mit der Bewegung identifizieren und politisch engagieren.
erschossen.
Auch in der BRD setzte sich Halim für die kurdische Bewegung ein. So plakatierte er wenige Wochen nach seiner Flucht in Hannover Plakate mit dem Emblem der ERNK, des (damaligen) politischen Arms der PKK. Dabei wurde Halim in der Nacht vom 30.06.1994 von SEK-Polizisten in Zivil überrascht und bei der Festnahme aus kürzester Entfernung in den Rücken geschossen. An dieser Schussverletzung starb Halim wenig später. Der Polizist wurde von seinen Kolleg*innen gedeckt, sodass die Tat nie angemessen aufgeklärt werden konnte. In einem drei Jahre dauernden, zweifelhaften Prozess wurde er schließlich freigesprochen.
Diese Tötung durch Polizist*innen ist kein Einzelfall; Christy Schwundeck, Oury Jalloh oder Achidi John sind weitere bekannte Opfer. Auch Polizeigewalt, die gedeckt und vertuscht wird, sowie Kontrollen nach dem racial profiling sind an der Tagesordnung.
Halim Dener repräsentiert in seiner Person viele verschiedene Kämpfe, die hier in der BRD und auf der Welt geführt werden – der Kurdistan-Konflikt, die Frage von Krieg und Flucht, Repression linker Ideen und Organisationen sowie (rassistische) Polizeigewalt.
Halims Geschichte und Tod sind kein Einzelfall!
Deshalb fordern wir ...
Schluss der militärischen Zusammenarbeit der BRD mit der Türkei!
Ende des Exports deutscher Waffen!
Bleiberecht für Alle!
Weg mit dem PKK-Verbot!
Lückenlose Aufklärung rassistischer Polizeigewalt!
Kampagne Halim Dener
Blog: http://halimdener.blogsport.eu
Kontakt:
Humanitäre Hilfe als Waffe
Warum keine humanitäre Hilfe an die Flüchtlinge in Rojava fließt
Devriş Çimen, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.
Syrien ist längst nicht mehr der Ort, an dem ein Aufstand stattfindet, Syrien entwickelte sich in ein Schlachtfeld eines internationalen Stellvertreterkrieges. Neben mehr als 140 000 Menschen, die seit März 2011 getötet wurden, sind Millionen Flüchtlinge die Opfer dieser grausamen Tragödie.
Auch die Genf-II-Konferenz hat zu keinem vernünftigen Ergebnis geführt. Das Agieren der regionalen und internationalen Konfliktparteien beschränkt sich auch nach Genf II weiterhin im Wesentlichen auf die Unterstützung ihrer Bündnispartner in Syrien. Mit Waffen, Kämpfern, Geld, Infrastruktur etc. werden die Auseinandersetzungen weiter angeheizt, statt mit ernsthaften Gesprächen nachhaltige Lösungen zu suchen und zu fördern.
Weiterlesen: Warum keine humanitäre Hilfe an die Flüchtlinge in Rojava fließt