Nur im Internet

Gesundheitslage in Rojava

Gesundheitslage in Rojava nach der Revolution

Wir wollen die geschaffene und gelebte Demokratie in der Gesundheitspolitik weiterführen ...

Ercan Ayboğa, Rojava-Delegation der Kampagne TATORT Kurdistan

Nach der im Juli 2012 begonnenen Revolution in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) wurden die befreiten Gebiete vom türkischen Staat, den islamistischen Terrorgruppen wie ISIS und Al-Nusra und auch der südkurdischen Regionalregierung (KRG im Nordirak) mit einem systematischen Embargo belegt. Dieses trifft vor allem die medizinische Versorgung der drei Kantone Rojavas, während andere Sektoren wie die Nahrungsmittelversorgung weniger drastische Einschnitte erfahren. Von der schwierigen medizinischen Lage in Rojava sind viele zehntausend Menschen ernsthaft betroffen.
Um die Situation im Bereich der medizinischen Versorgung und die Gesundheitspolitik besser zu verstehen, wurde Mitte Mai 2014 in Qamişlo (Al-Qamishli) ein Gespräch mit Dr. Agirî geführt. Er koordiniert seit Beginn der Revolution gemeinsam mit anderen die Gesundheitspolitik in Rojava.

 

Vor der Revolution

Vor der Revolution, bis etwa 2011/2012, stand die Gesundheitsversorgung komplett unter staatlicher Kontrolle. Mit den staatlichen Krankenhäusern in den Städten war ein Niveau der Mindestversorgung gesichert, wenn auch nicht wirklich zufriedenstellend. Während die Behandlung in staatlichen Einrichtungen bezahlt werden musste, was für nicht wenige schwer zu bewältigen war, hatte vor etwa zehn Jahren der Neoliberalismus auch in der Gesundheitsversorgung Einzug gehalten. Die privaten ÄrztInnen konnten zwar bessere Behandlung anbieten, doch kostete die auch entsprechend deutlich mehr.

Die Revolutionsphase

Mit der Revolution brach die staatliche Autorität in Rojava zusammen. Dies führte jedoch in der Gesundheitsversorgung nicht zu einer Katastrophe, in deren Folge die Krankenhäuser geschlossen worden und die MedizinerInnen geflohen wären. Dies lag zum einen daran, dass die Krankenhäuser und sonstige medizinische Einrichtungen nicht Zielscheibe militärischer Angriffe wurden, und zum anderen daran, dass Anfang 2012 durch eine zunächst kleinere Initiative ein Gesundheitskomitee unabhängig vom Staat aufgebaut wurde. Das diskutierte, wie die Gesundheitsversorgung nach einem möglichen Wegbrechen des Staates aufrechterhalten und anschließend auf einer sozialen Basis neu errichtet werden könnte. Dieses Diskussionsniveau, die konkretere Vorstellung und die Vernetzung waren nach dem 19. Juli 2012 – dem Beginn der Revolution – sehr wertvoll und stellten sich als kluger strategischer Schachzug heraus.

Die vom Volksrat Westkurdistans (MGRK) angeführte Revolution in Rojava griff in den befreiten Gebieten kaum in die staatlichen Krankenhäuser und sonstige staatliche Gesundheitseinrichtungen ein, damit diese weiter für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zur Verfügung standen. Die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft in Westkurdistan (TEV-DEM) – sozusagen die Regierung des MGRK – übernahm nicht wie bei den anderen staatlichen und öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen die politische Hoheit über die Gesundheitseinrichtungen. Das oben erwähnte Gesundheitskomitee setzte sich beim MGRK dafür ein, dass es die Gesundheitspolitik von Rojava koordiniert und sich dabei mit MGRK und TEV-DEM abspricht. Dieser Vorstoß wurde akzeptiert, denn inzwischen war das Gesundheitskomitee dabei, in den verschiedenen Gebieten Rojavas – entspricht jeweils einer größeren Stadt und ihrer Umgebung – Gesundheitsparlamente (kurdisch: Meclîsa Tendurustî) ins Leben zu rufen. Das gestaltete sich recht erfolgreich, da sich die meisten ÄrztInnen, ApothekerInnen, LaborantInnen und die Mehrheit des Krankenhauspersonals daran beteiligten.

Die Gesundheitsparlamente nach der Revolution

Die in den verschiedenen Regionen aufgebauten Gesundheitsparlamente haben die Gesundheitspolitik Rojavas koordiniert. Heute gibt es sie in den Gebieten: Dêrik (Al-Malikiya), Girkê Legê (Al-Maabadah), Tirbespî (Al-Qahtaniya), Qamişlo (Al-Qamişlo), Amûde, Dirbesiyê (Al-Darbasiya), Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), Til Temir, Heseke (Al-Hasaka), Afrîn und Kobanê (Ain al-Arab). In Til Koçer (Al-Yarubiyah) und Çilaxa (Al-Dschawadiya) werden Vorbereitungen getroffen. Nach der Isolierung der drei Kantone durch die islamistischen Organisationen haben sich Kobanê und Afrîn zunehmend getrennt organisiert. In allen drei Kantonen haben die Gesundheitsparlamente eine übergeordnete Koordination gebildet, die vor allem für den Kanton Cizîre wichtig ist. Sie unterstehen nicht dem MGRK und der TEV-DEM, arbeiten aber eng mit ihnen zusammen.

Sie haben sich Satzungen und Programme erarbeitet und ihre Arbeitsweise genau abgestimmt, dabei großen Wert auf einen demokratischen und partizipativen Charakter gelegt. Alle Versammlungen sind öffentlich, werden schriftlich und sogar auf Video festgehalten. Die Koordination der Gesundheitsparlamente wird von allen Mitgliedern unter Beachtung einer Geschlechterquote von 40 % frei gewählt, womit sie eine hohe Legitimität besitzt.

Neben den ÄrztInnen, ApothekerInnen, LaborantInnen und dem Krankenhauspersonal beteiligen sich auch Einrichtungen des medizinischen Bereichs und der humanitären Hilfe wie der Kurdische Rote Halbmond an den Gesundheitsparlamenten. Die ÄrztInnen kommen sowohl von den Krankenhäusern als auch von den privaten Kliniken und Praxen. Wichtig ist zu erwähnen, dass sich auch zahlreiche arabische und aramäische (assyrische) ÄrztInnen in den Gesundheitsparlamenten engagieren. Somit können diese Vertretungen tatsächlich von sich behaupten, der erste und wichtigste Ansprechpartner zu sein, wenn es um die Gesundheitspolitik in Rojava geht.

Eine nicht zu übersehende Struktur sind die Komitees für Frauenrechte. Sie haben die Aufgabe zu kontrollieren, dass die Frauen mit ihren Arbeitsbedingungen den Männern gegenüber nicht im Nachteil sind und Frauen im Gesundheitssektor dieselben Rechte und Möglichkeiten erhalten.

Mit der Gründung der Kantonalregierungen haben die Gesundheitsparlamente begonnen, mit dem neu errichteten Gesundheitsministerium zusammenzuarbeiten. Sie haben sich ihm nicht gleich unterworfen. Vielmehr kann das Ministerium von ihnen lernen, denn die neue Regierung hat momentan fast keine Kapazitäten. Überhaupt wird zurzeit diskutiert, wie das neue Gesundheitssystem und die Gesundheitspolitik künftig geführt werden sollen. Dazu Dr. Agirî: »Was ich mit Sicherheit sagen kann, das ist, dass nicht wie in einem typischen Staat das Gesundheitsministerium alles bestimmen wird. Wir wollen die geschaffene und gelebte Demokratie in der Gesundheitspolitik weiterführen.«

Die Tätigkeiten der Gesundheitsparlamente

In den drei Kantonen gibt es vier staatliche Krankenhäuser und zwar in Qamişlo, Dêrik, Kobanê und Afrîn. Bis auf das erste unterliegen die anderen drei der Aufsicht der Gesundheitsparlamente. Die drei funktionieren weiterhin, wenn auch mit etwa halb so vielen ÄrztInnen wie vor der Revolution. Das staatliche Krankenhaus in Qamişlo liegt in einem vom Regime kontrollierten Stadtteil. Die Gesundheitsparlamente haben aber überhaupt kein Interesse daran, irgendwelche Gesundheitsdienstleistungen des Staates in Rojava zu verhindern.

Nach der Revolution begannen die Gesundheitsparlamente, in den verschiedenen Orten Gesundheitszentren zu errichten. Die sind als sogenannte kleine Krankenhäuser zu verstehen, in denen grundlegende medizinische Versorgung geleistet wird. Hier haben der MGRK und die TEV-DEM wichtige Unterstützungsarbeit geleistet. Außer größeren Operationen findet fast alles hier statt. Hier arbeiten die ÄrztInnen pro Tag etwa zwei bis vier Stunden, neben ihrer sonstigen Beschäftigung. »Sofern jemand nicht wirklich sehr arm ist, nehmen wir im Durchschnitt 200 Syrische Lira [etwa 80 Euro-Cent] pro Behandlung. Die Hälfte davon geht an die ÄrztInnen und die andere Hälfte behält das Gesundheitszentrum. Private ÄrztInnen nehmen hingegen 700 Syrische Lira, was für viele Menschen unbezahlbar ist«, so Dr. Agirî zur Funktionsweise dieser Zentren. In den meisten Orten seien sie aufgebaut, in wenigen anderen werde es bald der Fall sein.

Neben dem Gesundheitszentrum in Qamişlo gibt es eine Apotheke, die den Menschen auf Rezept Medikamente zum Einkaufspreis weiterverkauft. Das ist syrienweit wahrscheinlich die günstigste Apotheke.

Die vor der Revolution eröffneten privaten Kliniken in Rojava haben nach den Aussagen Dr. Agirîs keine gute Qualität und konzentrieren sich auf die Chirurgie. Dass sie teuer sind, versteht sich von selbst. Daher sind die Gesundheitszentren mit einer guten Versorgung wichtige Alternativen für die Bevölkerung. So werden sie bisher gut angenommen.
Sie werden oft in Gebäuden eingerichtet, die in traditioneller Hausbautechnik errichtet wurden. So sind sie im Sommer recht kühl und im Winter relativ warm. An dieser Stelle betont Dr. Agirî, dass sie bei all ihren Planungen nichtmedizinische Aspekte des Lebens und Wirtschaftens berücksichtigten.

Angesichts des Krieges ist in Qamişlo damit begonnen worden, ein kleines Krankenhaus für Kriegsverletzte aufzubauen. Mit einer guten Ausstattung sollen bis zu 26 Verletzte gut behandelt werden können. Nach dem Krieg soll es natürlich der breiten Bevölkerung zur Verfügung stehen. Der Bedarf für eine solche Einrichtung hat sich vor allem letztes Jahr gezeigt, als Verletzte in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren teilweise nicht angemessen versorgt werden konnten und deshalb mehrere Menschen ihr Leben verloren.
In den letzten zwei Jahren haben die Gesundheitsparlamente zahlreiche Seminare und Workshops durchgeführt, um der Bevölkerung Unterstützung in medizinischen Fragen zu bieten. Die wurden in den Volkshäusern (Mala Gel), Frauenhäusern (Mala Jinan) und Jugendzentren abgehalten; eben dort, wo viele Menschen hinkommen. Weitere genau tausend Jugendliche haben einen umfangreichen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, um in Notfällen rechtzeitig richtig handeln zu können. Diese Seminare sind sowohl kurzfristig im Kriegsfall als auch langfristig sehr wichtig. Deshalb gibt es Überlegungen, auch an den Schulen Gesundheitsseminare einzuführen.

Herausforderungen der medizinischen Versorgung

»Die medizinische Versorgung der Bevölkerung von Rojava steht vor vielen Herausforderungen. An erster Stelle Mangel an technischem Equipment in den Krankenhäusern und in den Gesundheitszentren. Einige Operationen können nicht durchgeführt werden, weil einfach das Gerät dazu fehlt«, so Dr. Agirî nachdenklich. Entsprechend stahlen die Banden von Al-Nusra alles Gerät aus dem Krankenhaus von Serê Kaniyê, um es auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Das zweite gravierende Problem ist der Mangel an bestimmten Medikamenten, insbesondere zur Bekämpfung chronischer Krankheiten wie Zuckerkrankheit, hohem Blutdruck, Leberproblemen.
Das dritte Problem, das Dr. Agirî anspricht, sind fehlende ÄrztInnen. Diejenigen, die in Rojava praktizieren, seien insgesamt gut. Aber ihre Zahl reiche bei weitem nicht aus. Zum Beispiel würden ÄrztInnen benötigt, die zu Brustkrankheiten, in der Neuro- und Gefäßchirurgie arbeiten können. Mit dem sich ausbreitenden Krieg und den schwierigen Bedingungen der Revolution seien viele ÄrztInnen geflohen, auch in dem Wissen, in anderen Ländern schnell Arbeit zu finden. Jeder Arzt und jede Ärztin aus aller Welt, die arbeiten möchten, seien in Rojava willkommen!

Auf die Frage, was denn aus Europa zu diesen drei Problemen getan werden könne, antwortet Dr. Agirî, dass die praktischste Lösung sei, wenn Geld gesammelt und damit im Irak oder teilweise in der Türkei eingekauft werde. Aus dem Irak könnten inzwischen Medikamente und auch technische Geräte nach Rojava kommen, wenn auch verspätet und unter großen bürokratischen Mühen. Es müsse jedes Mal nachgewiesen werden, dass es sich um medizinische bzw. humanitäre Hilfe handelt. Aus der Türkei könne medizinische Unterstützung auch direkt über die Grenze kommen, und zwar direkt in die Kantone Cizîre und Kobanê. Alles zwar unter erschwerten Bedingungen, doch habe das die Bevölkerung in Nordkurdistan nach vielen Protesten erkämpft.

Weitere Perspektiven der Gesundheitsparlamente

Die Gesundheitsparlamente verfolgen im Allgemeinen das Ziel, der Bevölkerung in Rojava – auch den Flüchtlingen – eine kostenlose und qualitativ gute Gesundheitsversorgung anbieten zu können. Wenn das momentan auch nur eingeschränkt möglich sei, halte man an diesem Ziel fest und wolle es sehr bald verwirklichen. Durch die Sachzwänge des Krieges und Embargos seien dem leider Grenzen gesetzt, so Dr. Agirî weiter.

Am 14. März 2014 sei die erste Gesundheitskonferenz von Rojava durchgeführt worden. Hier seien wichtige Diskussionen geführt und richtungsweisende Beschlüsse gefasst worden. Zum Beispiel der Aufbau eines Komitees für Naturmedizin. Mit traditionellen Methoden würden seit Jahrhunderten zahlreiche Menschen – leider gehe ihre Zahl langsam zurück – andere aus ihrem direkten Umfeld behandeln. Das basiere auf sehr wertvollen jahrtausendealten Erfahrungen und dürfe unter keinen Umständen verlorengehen, führt Dr. Agirî enthusiastisch aus. Deshalb solle diesen MedizinerInnen Unterstützung angeboten werden, damit sie ihre Erfahrungen zusammenbringen, sich vernetzen und gemeinsame Ziele erarbeiten. Denn die Entwicklung gehe dahin, dass traditionelle Medizin immer mehr durch die moderne technikdominierte verdrängt wird. Diese Menschen arbeiten in der Regel nicht hauptberuflich als MedizinerInnen, das dann aber fast immer kostenlos. Zum Beispiel werden Meniskusbeschwerden durch den Einsatz von Fingern geheilt.

Auch soll mittelfristig 40–50 jungen MedizinerInnen die Möglichkeit geboten werden, im Ausland zu studieren und ihren neuen Wissensschatz in Rojava anzuwenden. Ein geeignetes Land könnte Kuba sein, wo der medizinische Standard trotz schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse sehr gut sei.

Schließlich soll in Rojava eine Medizinakademie gegründet werden. Hier soll zur Gesundheitspolitik und -versorgung geforscht und umfassend politisch und wissenschaftlich diskutiert werden, um weitergehende Perspektiven erarbeiten zu können.

Nach einem langen Gespräch verabschiede ich mich von Dr. Agirî, den ich eher zufällig in Qamişlo getroffen hatte. Umso zufriedener bin ich darüber.


Spendenaufruf:
Für den Wiederaufbau der Heyva-Sor-Zentrale in Kobanê
http://rojavasolidaritaet.blogsport.de/