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Strategie des Friedens in Richtung Unabhängigkeit und Sozialismus

Jonan Lekue (RA) u. Isa Marin (EHL-Deutschland/Freund_innen des Baskenlandes)

An den 20. Oktober 2011 wird man sich in der Zukunft als einen historischen Tag erinnern. Nach 52 Jahren des bewaffneten Kampfes verkündete ETA [bask.: Baskenland und Freiheit] das endgültige Ende all ihrer bewaffneten Aktivitäten. Diese Entscheidung markierte den Beginn einer neuen politischen Ära. Sie war eine Folge der internen Diskussion und entsprechender Beschlüsse innerhalb der Abertzalen [bask.: Patriotischen] Linken und hat auch eine wichtige internationale Dimension. Die in der internen Diskussion beschlossenen einseitigen Schritte öffneten die Tür für einen Paradigmenwechsel im politischen Szenario im Baskenland: den Übergang von der bewaffneten zu einer demokratischen Konfrontation.

 

Der politische Konflikt und seine Ursachen, die territoriale Teilung des Baskenlandes und die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts, sind immer noch nicht gelöst. Die Haltung des spanischen Staates und seiner Regierung hat sich bisher nicht grundsätzlich geändert.

Die Krise des spanischen Staates betrifft nicht nur die territoriale Frage im Baskenland und in Katalonien: Die Monarchie genießt keine Unterstützung der Bevölkerung, die wirtschaftliche Krise geht mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 25 % einher und Korruptionsfälle wiederholen sich endlos. Die Europawahl 2014 und die historisch niedrigen Wahlergebnisse für die zwei großen Parteien [Volkspartei PP und Sozialdemokraten PSOE] sind Zeichen der tiefen Krise des politischen Rahmens, der nach dem Ende des Faschismus gesetzt wurde.

Trotz der politischen Haltung des spanischen Staates ist die Unterstützung für eine friedliche Lösung des Konflikts im Baskenland und für das Recht, selbst zu entscheiden, präsenter als je zuvor. Als letzte Beispiele können wir nennen: Am 25. Mai 2014 wurde Josu Juaristi für die baskische Koalition Bildu [bask.: versammeln] ins Europaparlament gewählt und am 8. Juni forderte eine über 150 000-köpfige Menschenkette durch das Baskenland das Recht der Basken und Baskinnen zu entscheiden.

a) Interne Diskussion 2009–2010
Die Gespräche der Jahre 2005–2007, die einerseits zwischen Batasuna [bask.: Einheit] und PSE [PSE-EE-PSOE, Baskenland-Regionalpartei der PSOE des damaligen Ministerpräsidenten Zapatero] und andererseits zwischen ETA und spanischer Regierung geführt wurden, scheiterten. Dafür gab es mehrere Gründe. Als Hauptgrund sehen wir die Nichteinhaltung vereinbarter Abkommen durch die spanische Regierung.

Am Ende der Verhandlungen kehrte die offene Konfrontation zurück. Der bewaffnete Kampf und die schlimmste Serie repressiver Maßnahmen wurden zum Alltag. Es kam zur politischen Blockade: Einerseits reichte der Kampf nicht aus, um die bestehende politische Struktur zu überwinden, obwohl es dafür im Baskenland eine Mehrheit gibt. Andererseits war auch die harte Repression nicht in der Lage, Batasuna oder ETA zu zerstören.

Eine wirksame Strategie musste ein Ende der bewaffneten Konfrontation bewirken, weil die spanische Regierung darin ihre Stärke hatte und dabei von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wurde. Die öffentliche Debatte um die politischen Fragen, das Selbstbestimmungsrecht, die territoriale Teilung des Baskenlandes und die Forderung nach internationalen Beobachtern wollte sie immer vermeiden. Deshalb musste sich die Unabhängigkeitsbewegung auf folgende politische Instrumente konzentrieren: den ideologischen Kampf, die Massenmobilisierung, die institutionelle Arbeit und die Bündnispolitik.

b) Strategie des Friedens: einseitige Schritte
Die Schlussfolgerungen der strategischen Debatte wurden in einer Erklärung zusammengefasst: »Steh auf, Baskenland!« – »Zutik Euskal Herria«. Seit deren Veröffentlichung hat sich das politische Szenario in einer rapiden Dynamik verändert.

Die neue Strategie wurde ohne Beteiligung Spaniens oder Frankreichs realisiert. Beide Staaten haben kein Interesse an einer Änderung im Baskenland in Richtung Demokratie. Die Verhandlungsprozesse in den 80ern, 90ern und 2005–2007 und die Erfahrungen daraus haben dieses Desinteresse deutlich gezeigt. Es ist bequemer für Spanien, den Konflikt als Sicherheitsproblem zu behandeln und nicht über seine politischen Ursachen zu reden.

Der laufende Prozess ist einseitig begonnen und entwickelt worden. Er hat zwei Ebenen: einerseits die baskische Gesellschaft mit der Mehrheit ihrer politische Parteien, plus Unterstützung von Vertretern der internationalen Gemeinschaft andererseits. Es ist deshalb richtiger, von einer Strategie des Friedens als von einem traditionellen Friedensprozess zu sprechen. Im bisherigen politischen Dialog glänzt der spanische Staat durch seine absolute Abwesenheit.

Als Folge und Entwicklung dieser Strategie leiteten am 17. Oktober 2011 Bertie Ahern, Kofi Annan, Gerry Adams, Jonathan Powell, Gro Harlem Bruntland, Pierre Joxe eine internationale Konferenz im Baskenland. Alle baskischen politischen Parteien (außer der rechten PP), Gewerkschaften, Unternehmervereinigungen, Kulturgruppen der spanischen und französischen Teile des Baskenlandes waren dabei.

Die sechs Vertreter der internationalen Gemeinschaft verlasen am Ende der Konferenz eine von allen Anwesenden akzeptierte und als Friedensfahrplan verstandene Deklaration, bekannt als die Erklärung von Aiete.

Sie fasst zwei Hauptempfehlungen zusammen: Einerseits müssen die Verhandlungen für einen neuen politischen Konsensus zwischen Parteien und sozialen Kräften so bald wie möglich aufgenommen werden. Andererseits muss der Dialog über die Konsequenzen des Konflikts ebenfalls beginnen. ETA und beide Regierungen sollen über die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Entmilitarisierung aller Seiten und die multilateralen Opfer verhandeln.

c) ETA und die Gefangenen
Als Antwort auf die internationale Konferenz von Aiete und als logische Folge des Strategiewechsels der Abertzalen Linken erklärte ETA das endgültige Ende ihres bewaffneten Kampfes. Obwohl 2011 der bewaffnete Kampf von ETA definitiv beendet wurde, ist die Gewalt des spanischen Staates gegen das Baskenland immer noch präsent. Spanien hält an seiner polizeilichen Strategie fest und versucht dauerhaft, den politischen Prozess zu blockieren.

Um diese politische Blockade zu überwinden, organisierten im März 2013 die im spanischen Südbaskenland aktive Organisation für Konfliktlösung Lokarri und die im französischen Baskenland angesiedelte Bake Bidea ein Sozialforum als Stärkung der direkten Beteiligung der Bevölkerung. Mit der Beteiligung einer Vielzahl baskischer Organisationen und internationaler Experten gelten seine Empfehlungen auch als ein positiver Schritt im Friedensprozess.

Die Empfehlungen präsentieren vier Aufgabenbereiche: die militärischen ETA-Strukturen abbauen und entwaffnen; die Gefangenen und Flüchtigen wiedereingliedern; die Menschenrechte einhalten; sowie das Geschehene unter Einbeziehung aller Opfer aufarbeiten und die Grundlagen für das künftige Zusammenleben legen.

Ende 2013 antwortete das Kollektiv der baskischen politischen Gefangenen (EPPK) auf die Empfehlungen des baskischen Sozialforums mit der vollständigen Unterstützung des neuen friedlichen Szenarios im Baskenland sowie mit einer verantwortungsvollen und konstruktiven Haltung. Kernthemen waren hier ebenso die Haftbedingungen und ein gleichberechtigtes Gegenüberstellen aller Opfer des Konflikts.
Für die Rechte der Gefangenen und für eine friedliche Lösung des Konflikts marschierten im Januar 2014 in Bilbao 130000 Menschen. Eine der größten Demonstrationen in der baskischen Geschichte.
Das EPPK und die Mehrheit der baskischen Gesellschaft fordert folgende initiale Schritte zur Konsolidierung des Friedensprozesses:

  • Die sofortige Freilassung schwerkranker Gefangener, für die die aktuelle Gesetzeslage eine Freilassung vorsieht, um eine adäquate Behandlung ihrer Krankheit zu ermöglichen.

  • Die Freilassung der Gefangenen, die die Bedingungen vorzeitiger Entlassung erfüllen.

  • Ein Ende der Politik der Zerstreuung [Unterbringung der Gefangenen weit entfernt vom Heimatort], einer willkürlich auf baskische Gefangene angewendeten Maßnahme, und deren Unterbringung in Gefängnissen in der Nähe ihrer Familien.

  • Die unverzügliche Freilassung Arnaldo Otegis und all derer, die sich allein wegen ihrer Gesinnung oder ihrer politischen Aktivitäten in politischen Parteien, Gewerkschaften, Jugendorganisationen, sozialen Bewegungen und den Medien in Haft befinden. Anklagen und europäische Haftbefehle, die wegen solcher Aktivitäten ergangen sind, müssen aufgehoben werden.

Gleichzeitig hat ETA im Januar 2014 in Anwesenheit der »Internationalen Kommission zur Überprüfung des Waffenstillstands« (IVC) einen Teil ihres Waffenarsenals inventarisiert und danach versiegelt, um ihn für den »operativen Einsatz unbrauchbar« zu machen. Kurz danach sagte ETA ihre vollständige Entwaffnung zu. Das gesamte Waffenarsenal werde aufgegeben und versiegelt, kündigte sie an.
Die Entscheidung von ETA folgt exakt der einseitigen Strategie für den Frieden und zeigt ihre volle Bereitschaft, den Prozess zur Demokratie vollständig weiterzuführen.

d) Soziale Bewegungen und Selbstbestimmungsrechtsforderungen
Die Staaten Spanien und Frankreich haben Angst vor dem Wort und der freien Entscheidung der Basken und Baskinnen und deshalb verweigern sie ihre Teilnahme an einem Prozess für eine umfassende demokratische Lösung des Konflikts.

Ihr demokratisches Defizit besteht nicht nur in territorialen oder nationalen Auseinandersetzungen, es ist struktureller Natur. Ihr Mangel an Demokratie ist nicht nur systematisch, sondern kann als systemisch bezeichnet werden. Das bestehende kapitalistische System, seine Politiker und viele der Staaten, die es unterstützen, wollen die Menschen von politischen, wirtschaftlichen und institutionellen strategischen Entscheidungen ausschließen.

Die aktuelle globale Wirtschaftskrise (oder zumindest diejenige der meisten der »entwickelten« Länder) hat diese Tendenz verschärft, sodass die Meinungen und Bedürfnisse der Bürger und Bürgerinnen noch rigoroser ignoriert werden. Eine herrschende Klasse, vertreten durch Institutionen und Lobbygruppen, die so wenig transparent sind wie IWF, EZB, Goldman Sachs, Standard & Poor's ..., bestimmen das Leben von Millionen Menschen und entscheiden sogar, wer in einigen Staaten regiert – ohne irgendwelche demokratische Kontrolle.

Gegen diese Mächte mobilisiert sich auch dauerhaft die Linke aus dem Baskenland. Am 3. März versammelte sich die EU-Troika [IWF/EU-Kommission/EZB] im Baskenland und Zehntausende machten in Bilbao deutlich, dass »die Troika und ihre Komplizen« im Baskenland unerwünscht seien. Die erfolgreiche Europawahlkampagne konzentrierte sich vor allem auf die Verteidigung der sozialen Rechte.
Aber Hauptdarstellerin aller dieser Kämpfe ist die »herri mugimendua« oder Volksbewegung. Sie ist eine bunte Sammlung von Organisationen, Gruppen oder Netzwerken, die grundsätzlich in einer offenen Form zusammenkommen. Es gab in den letzten Jahrzehnten viele praktische Erfahrungen, und wir konzentrieren uns auf einige, die erfolgreich gewesen sind und echte Alternativen zum bestehenden System geschaffen haben.

Demokratie und das Recht der Basken und Baskinnen zu entscheiden sind die Grundlagen der Initiative Gure Esku Dago [bask.: Es liegt in unserer Hand]. 150 000 gingen am vergangenen 8. Juni im Baskenland für das Recht auf Selbstbestimmung auf die Straße. Gure Esku Dago hatte diese Großaktion organisiert und war von der Resonanz überwältigt. Das ursprüngliche Ziel war gewesen, mindestens 50 000 Menschen auf die Straße zu bringen und zwischen Durango und Iruña (Pamplona) eine Menschenkette von 123 km zu bilden.

e) Standpunkt und Perspektiven
Der politische Konflikt besteht weiter und seine Ursachen sind immer noch existent. Nichts ist gelöst, aber eine neue Zeit hat begonnen und die politischen Umstände sind positiv, um eine demokratische Lösung zu entwickeln.

Die letzten fünf Jahre hat die Abertzale Linke viel erreicht: Die Legalisierung der Partei Sortu [bask.: Aufbauen], die massive Unterstützung der Koalition Bildu (erste Kraft bei der Europawahl 2014), die großen Mobilisierungen für die Rechte der Gefangenen, der dauerhafte soziale Dialog für den Friedensprozess, eine sehr lebendige Bewegung für soziale Rechte und die Beteiligung bei der Selbstbestimmungsrechtsinitiative »Gure Esku Dago« zeigen, wie positiv der Strategiewechsel gewirkt hat.

Trotz dieser gewaltigen positiven Kraft sind bisher alle Schritte einseitig gewesen. Nun ist die Zeit für multilaterale Schritte gekommen, um eine dauerhafte Lösung des Konflikts zu finden.
Der spanische Staat steckt in einer tiefen strukturellen Krise. Das existierende politische System versucht einige erste Änderungen umzusetzen. Der spanische König hat abgedankt und es ist öffentlich die Rede von einer »zweiten Transición« – Übergangsphase – oder Verfassungsreformen.

Die regierenden zwei Parteien werden minimale Änderungen verwirklichen. Wir Basken, aber auch Katalanen und Demokraten überall im spanischen Staat sind gerade zu einer großen politischen Aufgabe verpflichtet.

Wir müssen endlich demokratische Bedingungen erreichen, damit das Selbstbestimmungsrecht anerkannt wird, den Friedensprozess bis zum Ende bringen und den Weg für Sozialismus im Baskenland freimachen. Es wird schwer, aber die politischen Umstände sind die besten seit 40 Jahren.