rojava 1Rojava – der Aufbau einer ökonomischen Alternative

Privateigentum im Dienste aller

Michael Knapp, Historiker

Die Revolution in Rojava (Westkurdistan/Nordostsyrien), die am 20.05.2011 in Kobanî (Ain al-Arab) begonnen hatte und wie ein Lauffeuer mit den Orten Afrîn, Dêrik (Al-Malikiya), Qamişlo (Al-Qamishli), Amûdê, Serê Kaniyê (Ras al-Ayn) die Region entlang der türkisch-syrischen Grenze erfasste, hat eine alternative Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen angestoßen.

 

Inspiriert vom Modell des Demokratischen Konföderalismus und der Demokratischen Autonomie wurde eine Selbstverwaltung durch Rätedemokratie, Frauenräte und eigene demokratisch organisierte Sicherheitskräfte geschaffen. Jede Bevölkerungs- und religiöse Gruppe soll in diesen immer von einer geschlechterquotierten Doppelspitze geleiteten Räten vertreten sein. Es wird keine Gründung eines eigenen Nationalstaats angestrebt, sondern eine demokratische Autonomie für die Region und damit auch eine Demokratisierung Syriens.

Aufbau einer basisdemokratischen Gesellschaft

Das basisdemokratische Modell des Demokratischen Konföderalismus steht in der Tradition des kommunalistischen Anarchismus um Murray Bookchin und wurde von Abdullah Öcalan, dem Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), zu einem praxisorientierten System mit dem zentralen Paradigma der Frauenbefreiung weiterentwickelt. Insbesondere die multikulturelle Struktur Kurdistans wird dabei als wichtige Ressource für den Aufbau einer partizipativen Wirtschaft in Form von kommunalen Genossenschaften in der Landwirtschaft wie auch in der Wasserwirtschaft und auf dem Energiesektor gesehen.1

»Demokratischer Konföderalismus ist offen gegenüber anderen politischen Gruppen und Fraktionen. Er ist flexibel, multikulturell, antimonopolistisch und konsensorientiert. Ökologie und Feminismus sind zentrale Pfeiler. Im Rahmen dieser Art von Selbstverwaltung wird ein alternatives Wirtschaftssystem erforderlich, das die Ressourcen der Gesellschaft vermehrt, anstatt sie auszubeuten, und so den mannigfaltigen Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird.«2

Studien über die Praxis des Demokratischen Konföderalismus wurden schon über die Region Nordkurdistan (Türkei) angestrengt.3 Dort wird schon lange am Aufbau einer basisdemokratischen Gesellschaft gearbeitet. Die Strukturen sind jedoch immer von Verhaftung bedroht und aufgrund der permanenten Repression durch den türkischen Staat, durch die Tausende aus zivilen Strukturen in türkischen Gefängnissen sitzen, müssen Entwicklungsprozesse immer wieder neu angeknüpft werden. Dies gilt besonders auch für den Bereich des Ausbaus einer alternativen Ökonomie, der in den letzten Jahren besondere Bedeutung gewonnen hat.

Während in Nordkurdistan die entstehenden Kommunen und Kooperativen unter massiver Repression agieren, wird in Rojava versucht, auf befreitem Gebiet eine neue Form von Ökonomie jenseits kapitalistischer und feudaler Ausbeutungsverhältnisse aufzubauen. Dies geschieht vor dem Hintergrund des Dramas des syrischen Krieges. Tausende wurden ermordet, die Hälfte der Bevölkerung ist wohnungslos. Etwa zwei Millionen Menschen verließen ihre Heimat und wurden zu MigrantInnen. Insbesondere die Ökonomie Syriens ist schwer vom Krieg betroffen. Studien belegen, dass, um in Syrien den Status quo ante herzustellen, 15 Jahre und 150 Milliarden Dollar Unterstützung notwendig sind.

Da die kurdische Bewegung in Rojava eine Politik des »dritten Weges« verfolgt, was heißt, weder mit dem Regime noch mit den islamistisch dominierten RebellInnen Front zu beziehen und für einen demokratischen Wandel in Syrien einzutreten, war die Region zunächst weitgehend von Auseinandersetzungen verschont geblieben und ein Großteil der sonst zerstörten Infrastruktur ist heute noch intakt.

Alle Teile von Rojava sind reich und können sich selbst versorgen. Insbesondere die Böden sind sehr ertragreich. Allerdings gab es aufgrund der antikurdischen Unterentwicklungspolitik dennoch Armut in Rojava, während einige regime­loyale Kreise reich wurden. Ziel war nicht die Entwicklung der Region, sondern aus der Unterentwicklung Profit zu schlagen. Aus diesem Grund migrierten Teile der kurdischen Bevölkerung an Orte wie Heleb (Aleppo) und Damaskus (Şam). Die Ausnahmegesetze des syrischen Regimes und die systematische, gezielte Unterentwicklung der Region taten ihr Übriges, verschärften die Armut und verstärkten die Migration. Dies ging einher mit einer verschärften Arabisierungs- und Assimilierungspolitik.

Embargopolitik gegen die Erungenschaften in Rojava

Insbesondere nach 2011 verschärfte sich die Situation in Rojava durch das Embargo, das mittlerweile von der Türkei, der Kurdischen Regionalregierung in Südkurdistan und durch die IslamistInnen gegen die Selbstverwaltung in Rojava praktiziert wird. Dies führte insbesondere zur Verteuerung von Heizmaterialien und Grundnahrungsmitteln. Die Verteuerung von Heizmaterial führt gerade jetzt im Winter bei Minusgraden und Schnee zu einer gefährlichen Situation, insbesondere für Kinder. Die Situation ist mit dem aktuellen Wintereinbruch für viele Familien lebensbedrohlich. Das erste Mal seit 22 Jahren gab es schwere Schneefälle in Serê Kaniyê.

Aufgrund von Embargo und syrischer Plünderungspolitik gegenüber Rojava blieb diese Region trotz allem ökonomisch schwach mit einer stabilen Basis.

Dr. Dara Kurdaxi ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Vertreterin des Komitees für wirtschaftliche Belebung und Entwicklung von Afrîn. Sie sprach mit der Nachrichtenagentur ANF4 über die Perspektiven der Ökonomie Rojavas:

»Wir brauchen neue Organisierungs- und Institutionalisierungsmodelle. Diese werden als kollektive, kommunale ökonomische Modelle bezeichnet, manche nennen sie auch gesellschaftliche Ökonomie. Um die Ökonomie in Rojava zu beleben und zu entwickeln, gibt es eine Methode, die wir als Grundlage anwenden. Die Methode in Rojava richtet sich nicht gegen das Privateigentum, sondern hat zum Ziel, dieses Privateigentum für den Dienst an allen Bevölkerungsgruppen, die in Rojava leben, einzusetzen. Natürlich stehen wir am Anfang dieses Weges. Aber dennoch, auch wenn es einen kleinen Umfang hat, zeigen sich schon positive Entwicklungen. Wir müssen klarstellen, dass wir eine ökonomische Belebung und Entwicklung, die nicht deutlich die Gesellschaft zum Ziel hat, nicht brauchen. (...) Es soll kein kapitalistisches System sein, das seiner Umwelt keinen Respekt zollt; und auch kein System, das die Klassenwidersprüche fortsetzt und letzten Endes nur dem Kapital dient. Es soll ein partizipatives Modell sein, das sich auf die natürlichen Ressourcen und eine starke Infrastruktur stützt.«

Die Demokratie einer Gesellschaft ist immer auch an der Demokratisierung ihrer Ökonomie zu messen. Hierfür ist das Projekt in Rojava ein herausragendes Beispiel. Einige dieser Entwicklungen lassen sich schon in Rojava beobachten. So steht die Ölindustrie unter der Kontrolle der Räte und wird von ArbeiterInnenkomitees selbst verwaltet. Die Raffinerien produzieren billiges Benzin für die Kooperativen und MitarbeiterInnen der Selbstverwaltung. Große Teile der zuvor von Assad in einer antikurdischen Maßnahme verstaatlichten Landwirtschaft werden nun nach der Befreiung Rojavas von Agrarkooperativen bewirtschaftet. Ärztekomitees arbeiten weiterhin am Aufbau eines kostenfreien medizinischen Systems. Sicherlich stehen, wie Dr. Kurdaxi betont, viele Entwicklungen noch am Anfang. Doch allein schon das bis jetzt Erreichte stellt einen historischen Schritt dar weg von der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Kapitalismus.

Sie erklärt das Wirtschaftsmodell Rojavas als Antwort auf den Neoliberalismus der kapitalistischen Moderne und als Kritik am Staatskapitalismus realsozialistischer Prägung. Das Modell Rojavas soll ein Modell für den ganzen Mittleren Osten sein. Um diese neue Form der Ökonomie umzusetzen und ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, sollen ökonomische Konferenzen durchgeführt werden. Diese sollen dazu dienen, eine Wirtschaft nach menschlichen Werten zu gestalten und die Menschen über die Bedeutung der gesellschaftlichen Ökonomie aufzuklären. Auf einer möglichst schnell durchzuführenden Konferenz sollen die Fehler der existierenden Modelle diskutiert und korrigiert werden.

»Wir haben uns ein Modell angeeignet, das schließlich die ganze Welt erfassen wird, erfassen muss. Damit werden wir früher oder später erfolgreich sein. Denn es bedeutet den Erfolg der Gesellschaft.«

Dieses Wirtschaftsmodell, das im Moment noch am Anfang steht, aber trotz Krieg mit großer Entschlossenheit von vielen Menschen in Rojava in die Praxis umgesetzt wird, stellt eine wirkliche Alternative dar. Insbesondere steht es in deutlichem Kontrast zur ökonomischen Entwicklung der von den USA und Europa abhängigen Regionalregierung Kurdistan in Südkurdistan – KRG. Während dort die sozialen Gegensätze zwischen der Klientel des staatlichen Systems bzw. der Regierungspartei PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und den gesellschaftlich Benachteiligten immer schärfere Züge annehmen, stellt die Entwicklung der Ökonomie in Rojava einen Hoffnungsschimmer dar. Möglicherweise ist hier auch gerade diese emanzipatorische Entwicklung ausschlaggebend dafür, dass die vom NATO-Staat Türkei unterstützte und von westlichen Staaten als legitime Opposition dargestellte Internationale der DjihadistInnen nach Rojava geschleust wird, die alles daran setzt, die Selbstverwaltung dort zu vernichten. In eine ähnliche Richtung scheint ebenfalls das Embargo zu zielen.

»Eine volksnahe Wirtschaft sollte deshalb auf Umverteilung und Nutzorientierung beruhen, statt sich ausschließlich an der Anhäufung und am Raub von Mehrwert und Mehrprodukt zu orientieren. Die hiesigen Wirtschaftsstrukturen schaden nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Natur. Zu den Hauptgründen für den gesellschaftlichen Verfall zählen die Auswirkungen der hiesigen Finanzwirtschaft. Die künstliche Erzeugung von Bedürfnissen, die immer abenteuerlichere Suche nach neuen Absatzmärkten und die maßlose Gier nach immer gigantischeren Gewinnen lassen die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wachsen und das Heer derer größer werden, die an der Armutsgrenze leben bzw. vor Hunger sterben. Eine solche Wirtschaftspolitik ist für die Menschheit nicht mehr tragbar. Die größte Aufgabe sozialistischer Politik liegt deshalb in der Umsetzung einer alternativen Wirtschaftspolitik, die sich nicht ausschließlich am Gewinn, sondern an der gerechten Umverteilung der Reichtümer orientiert.«5

Das Projekt des Demokratischen Konföderalismus und insbesondere auch die Tag für Tag umkämpften Errungenschaften in Rojava sind Beispiele dafür, dass eine andere Welt jenseits kapitalistischer Ausbeutung möglich ist. Es ist unser aller Aufgabe, die wir für Solidarität, Emanzipation und Freiheit eintreten, aufzustehen gegen das Embargo gegen Rojava und die Unterstützung des Westens für islamistische Terrorbanden, die systematisch Massaker in Rojava begehen.

Fußnoten:

1 -  A. Öcalan 2012, Demokratischer Konföderalismus

2 - Ebd. S. 21

3 - http://demokratischeautonomie.blogsport.eu/

4 - http://www.firatnews.com/news/guncel/kurdaxi-suriye-karanliga-rojava-aydinliga-gidiyor.htm

 5 - A. Öcalan 2008, Krieg und Frieden in Kurdistan, S. 38 f.