rojava 3Rojavas Erwartungen vor einer Syrien-Konferenz

Sich nicht beirren lassen auf dem Weg der Selbstbestimmung …

Mako Qoçgirî

Fast drei Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien soll nun am 22. Januar die »Syrien-Friedenskonferenz« in Genf, kurz »Genf II«, stattfinden. Erstmals sollen Opposition und das Baath-Regime unter dem Beisein einer Vielzahl von internationalen Mächten, die allesamt im syrischen Bürgerkrieg direkt oder indirekt mitmischen, zusammenkommen und über ein Ende des Krieges verhandeln. Doch ob es bei dem Termin bleibt, oder ob Genf II wie bereits mehrfach im Jahr 2013 verschoben wird, steht noch in den Sternen. Bisher ist nicht einmal geklärt, wer an der Konferenz teilnehmen will und wer daran teilnehmen darf.

 

Anscheinend nicht gewollt ist die Beteiligung einer eigenständigen kurdischen Delegation an Genf II. »Die USA, Großbritannien, Frankreich und die Türkei sind gegen unsere Teilnahme an der Konferenz. Sie wollen, dass sich die Geschichte des Vertrags von Lausanne 1923 wiederholt«, erklärt der Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Union (PYD) Salih Muslim. Mit dem genannten Vertrag von Lausanne wurde der Pariser Vorortvertrag von Sèvres, der 1920 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zwischen den Siegermächten und dem Osmanischen Reich geschlossen worden war, revidiert. Denn in der Zwischenzeit waren die türkischen Streitkräfte siegreich aus dem griechisch-türkischen Krieg von 1922 hervorgegangen und hatten dadurch die Verhandlungen mit den Siegermächten von neuem aufgerollt. Wer damals nicht mit am Verhandlungstisch sitzen durfte, waren die KurdInnen. Und letztlich waren sie die Leidtragenden der Verhandlungen, denn ihr Siedlungsgebiet wurde auf die Türkei, den Iran sowie die neu entstandenen Staaten Irak (unter dem Mandat Großbritanniens) und Syrien (unter dem Mandat Frankeichs) aufgeteilt. Mehr als 90 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne arbeiten nahezu dieselben Staaten darauf hin, erneut die KurdInnen aus einer bedeutenden Friedenskonferenz für die Region herauszuhalten.

Doch deren Position in Syrien ist heute eine andere, als sie es nach dem Ersten Weltkrieg im ehemaligen Osmanischen Reich war. Mit der Revolution in Rojava (Westkurdistan/Nordostsyrien) ist es ihnen nicht nur gelungen, eigene Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen und diese bisher erfolgreich gegen Angriffe zu verteidigen, auch haben sie mit dem Kurdischen Hohen Rat (kurd.: Desteya Bilind a Kurd, DBK), einem Rat bestehend aus VertreterInnen der Volksräte Westkurdistans, der PYD und des Kurdischen Nationalrats von Syrien (ENKS), es geschafft, eine politische Struktur zu bilden, die den Willen der Bevölkerung von Rojava auf internationaler Ebene repräsentieren könnte.

Machtinteressen unterminieren die Arbeit des DBK

Doch dass der DBK dies könnte, bedeutet leider nicht automatisch, dass er es in der Realität auch tut. Gegründet wurde der Kurdische Hohe Rat durch das sogenannte Hêwler-(Arbil-)Abkommen vom 11. Juli 2013 unter der Gastgeberschaft von Massud Barzanî, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak. Insgesamt 15 kurdische Parteien aus Rojava werden durch den DBK repräsentiert. Doch die Arbeiten im Hohen Rat waren von Anfang an von Schwierigkeiten bestimmt.

Die Bildung des DBK in Rojava stieß zunächst einmal die Türkei vor den Kopf. Denn eine Einheit der kurdischen Parteien in Westkurdistan würde für sie die Bekämpfung der Rojava-Revolution praktisch unmöglich machen. So übten die türkischen Verantwortlichen direkt nach der Gründung des DBK über Barzanî Druck auf die kurdischen Parteien aus, von diesem Schritt abzulassen und sich insbesondere von der PYD zu distanzieren. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu führte bei einem Besuch Anfang August, also kurz nach der Gründung des DBK, in der Autonomen Region Kurdistan Gespräche mit VertreterInnen der kurdischen Parteien aus Syrien, jedoch allein mit den Parteien aus dem ENKS. Die Botschaft war klar: »Wir erkennen den DBK nicht an! Für uns ist allein der ENKS Vertreter der KurdInnen in Syrien.« Dass die ParteienvertreterInnen aus dem ENKS sich auf ein Gespräch über die Zukunft Rojavas mit dem türkischen Außenminister einließen, war zugleich ein Verstoß gegen das Hêwler-Abkommen. Denn durch die Bildung des DBK sollte eigentlich ausschließlich die Diplomatie-Kommission des Kurdischen Hohen Rates, in dem alle Teile des DBK vertreten sind, Gespräche mit anderen Staaten über Rojava führen.

Einige Parteien aus den Reihen des Kurdischen Nationalrates witterten die Chance, sich außenpolitisch zu alleinigen VertreterInnen der KurdInnen in Syrien stilisieren zu können. Auch wenn sie in der Bevölkerung Rojavas kaum Rückhalt genießen mögen, eröffnete sich ihnen eine andere Option. Die Türkei, die mit ihrem Versuch weitgehend scheiterte, über die Unterstützung islamistischer KämpferInnen die Revolution in Rojava zu ersticken, brachte nun erhebliche Mühen dafür auf, zumindest die PYD politisch zu isolieren und andere, ihr genehmere kurdische Parteien in Syrien aufzubauen. Das deckt sich weitgehend mit den Interessen westlicher Staaten, die die KurdInnen in den Reihen der syrischen Opposition sehen wollen. Während die PYD gemeinsam mit dem DBK vehement einen dritten Weg für die KurdInnen vertrat, also weder auf der Seite des Regimes noch der vom Westen unterstützten Opposition stehen will, ließen Teile des ENKS das Hêwler-Abkommen von Anfang an für ihre machtpolitischen Interessen ins Leere laufen.

Allerdings traute sich keine der kurdischen Parteien, die mit der Türkei und dem Westen liebäugelten, aus dem Kurdischen Hohen Rat auszutreten. Ein solcher Schritt ließe sich nämlich nicht vor der Bevölkerung Rojavas rechtfertigen. So stellten einige Parteien aus dem ENKS immer wieder Forderungen im DBK, die offen gegen das Hêwler-Abkommen verstießen. Die »Parteien der politischen Einheit«, ein Bündnis aus den beiden Azadî-Parteien, der Yekitî-Partei und der El-Partei, allesamt im ENKS vertreten, forderten beispielsweise immer wieder den Aufbau einer zweiten militärischen Kraft in Rojava neben den Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die YPG seien der bewaffnete Arm der PYD und deshalb hätten andere Parteien auch das Recht auf eigene Streitkräfte, lautete die Argumentation. Doch die YPG hatten sich sofort nach der Gründung des DBK in dessen Dienst gestellt und immer wieder erklärt, dass sie kein militärischer Arm irgendeiner Partei seien. Auch bei der Gründung des DBK waren die YPG als alleinige militärische Streitkraft in Rojava akzeptiert worden. Eine weitere unhaltbare Forderung einiger Parteien aus dem ENKS war, die Kontrolle über jeglichen Reichtum an Rohstoffen in den befreiten Gebieten Rojavas unter den Blöcken innerhalb des DBK aufzuteilen. Die PYD stellte sich auch gegen diese Forderung und erklärte von Anfang an, dass keine politische Partei Anspruch auf den Reichtum erheben dürfe, der der gesamten Bevölkerung Rojavas zustehe.

Die Widersprüche zwischen den Blöcken im DBK wurden zusätzlich durch Massud Barzanî verschärft. Er hatte nicht nur von Anfang an die Forderungen der ihm nahestehenden »Parteien der politischen Einheit« gestützt, er degradierte sich selbst auch zum Handlanger der Türkei, indem er durch die Schließung des südkurdischen Grenzübergangs Sêmalka ­(Faysh Khabur) nach Rojava das von der Türkei auferlegte Wirtschaftsembargo gegen die kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien unterstützte.

Die Arbeit des DBK war praktisch zum Stillstand gekommen. Ein letzter formeller Schritt der VertreterInnen des ENKS im November, um das vorzeitige Ende des DBK zu untermauern, war ihr Eintritt in die »Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte«. Drei Mitglieder des ENKS sind seitdem in der 60-köpfigen »Syrischen Nationalkoalition« vertreten.

Aufbau der Übergangsregierung in Rojava

Nach einem im DBK einstimmig gefassten Beschluss, bevor die Unstimmigkeiten zu einem Stillstand seiner Arbeit führten, sollten möglichst zügig eine Übergangsregierung in Rojava einberufen und Vorbereitungen für die Durchführung demokratischer Wahlen getroffen werden. Trotz der Schwierigkeiten im Hohen Rat sind die Arbeiten in dieser Richtung unter der Initiative der PYD und der Volksräte Westkurdistans in vollem Gange. Und sie genießen breite Unterstützung. An der Versammlung mit dem Ziel des Aufbaus einer provisorischen Regierung Mitte November nahmen Vertreterinnen und Vertreter von insgesamt 35 unterschiedlichen Parteien und Organisationen aus der Region teil. Teilgenommen haben auch VertreterInnen der arabischen, turkmenischen und christlichen Gemeinschaften aus Rojava. Und auch vier Parteien aus dem ENKS unterstützen den Aufbau der Übergangsregierung, was zu Spannungen im Syrischen Nationalrat geführt hat. Während ein Teil des ENKS sich an den Vorbereitungen zur Bildung der Übergangsregierung beteiligt, für eine Wiederbelebung des DBK und die Bildung einer gemeinsamen kurdischen Delegation für Genf II plädiert, erklären die »Parteien der politischen Einheit«, dass der ENKS in den Reihen der syrischen Opposition nach Genf reisen wird, und fordern die übrigen Parteien aus dem ENKS auf, sich aus der Bildung der Übergangsregierung herauszuhalten. ENKS-Generalsekretär Mistefa Oso erklärte dazu: »Dieser Schritt [die Bildung der Übergangsregierung] widerspricht den Abmachungen zwischen dem ENKS und den Volksräten Westkurdistans. Aus diesem Grund erklärt der ENKS, dass er keinerlei Beziehungen zur Übergangsregierung unterhalten und sich nicht an ihr beteiligen wird.«

Doch auch ohne die Unterstützung des gesamten ENKS laufen die Vorbereitungen weiter. So erläuterte Aldar Xêlil, Mitglied der Volksräte Westkurdistans, nach dem zweiten Vorbereitungstreffen für die Bildung der Übergangsregierung Anfang Dezember, dass die Unterstützung für das Projekt weiter anwachse. Auf diesem Treffen wurde beschlossen, das Gebiet von Rojava in drei Kantone – Afrîn, Kobanî (Ain al-Arab) und Cizirê (Al-Dschazira) – aufzuteilen. In einem ersten Schritt sollen dort eigene Übergangsadministrationen bestimmt werden. Die Kantone sollen allerdings in einem ständigen Dialog miteinander stehen und in Zukunft soll ihre Koordination durch eine gemeinsame Verwaltung optimiert werden.

Ziel ist es, die Übergangsregierung noch vor Genf II auf die Beine zu stellen. Xelîl ist der Überzeugung, dass die demokratischen Verwaltungsstrukturen in Rojava Vorbild für das gesamte Syrien sein können: »Für uns ist es deshalb wichtig, dass wir in Genf II mit einer eigenen kurdischen Delegation vertreten sind, dort unser Projekt vorstellen und seine Anerkennung erwirken können.« Ob die breite Unterstützung für den Aufbau der Übergangsregierung in Rojava auch den gesamten ENKS zum Umdenken bewegen kann, wird sich zeigen. Mitte Dezember kündigte die Person mit dem wohl größten Einfluss auf den ENKS, Massud Barzanî, an, sich erneut mit der PYD an den Tisch setzen zu wollen. Thema wird sicherlich auch sein, in welcher Form die KurdInnen an Genf II teilnehmen wollen und wie die internationalen Mächte dazu stehen.

Ob die KurdInnen gemeinsam an der Genfer Konferenz teilnehmen wollen, ist also genauso ungewiss wie die Frage, ob sie das überhaupt dürfen. Selbst ob Genf II überhaupt stattfinden wird, weiß niemand so recht. Und wenn ja, kann niemand prognostizieren, ob daraus ein Schritt in Richtung Frieden in Syrien getätigt werden kann. Es bleiben also noch viele Fragen ungeklärt. Bis Antworten darauf gefunden werden, wird in Rojava in der Zwischenzeit einfach kontinuierlich weiter an den demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen gearbeitet. »Egal, wie die anderen Mächte sich zu einer möglichen Teilnahme der KurdInnen an Genf II verhalten, den Aufbau unserer Selbstverwaltung werden sie nicht verhindern können«, so Aldar Xelîl.