Zur Lage in Ägypten nach Mursi

Militär und Verfassung, eine bekannte Verbindung

Bernard Schmid, Journalist

Die Militärs, die Ägypten faktisch regieren, wollen ihren Griff nicht lockern. Am 01. Dezember 2013 wurde der Entwurf für eine neue Verfassung verabschiedet, den nunmehr die Bevölkerung in einem Referendum billigen soll. Es wird, nach neuesten Ankündigungen bei Redaktionsschluss, am 14. und 15. Januar 2014 stattfinden; erste Plakate der Regierung verkünden, ein »Ja«-Votum bei der Volksabstimmung stehe angeblich für eine Fortsetzung der Revolution von 2011.

 

Den Entwurf für den (wahrscheinlichen) zukünftigen Verfassungstext hatte eine fünfzigköpfige Kommission ausgearbeitet, die nach dem Machtwechsel im Juli 2013 eingesetzt worden war, um die im Dezember 2012 durch die Muslimbrüder-Regierung unter Präsident Mohammed Mursi durchgesetzte Verfassung zu ersetzen. Auch Letztere war durch eine Volksabstimmung, deren Ergebnisse jedoch umstritten waren, abgesegnet worden.

Der neue Verfassungstext ermöglicht es offiziell, auch künftig wieder Zivilpersonen unter bestimmten Umständen von Militärgerichten aburteilen zu lassen. Diese Praxis hatte unter dem SCAF (Hohen Rat der Streitkräfte), der nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 und bis zur Präsidentschaftswahl vom Juni 2012 amtierenden Militärregierung, ausufernde Dimensionen angenommen. Damals waren insgesamt rund 13000 Zivilisten und Zivilistinnen von Militärtribunalen abgeurteilt worden – wegen ungenehmigter Demonstrationen, unliebsamer Artikel im Internet und ähnlicher Delikte.

Die Regierungszeit des SCAF, der seine Macht offiziell Anfang Juli 2012 an Zivilisten – mit Mursi an der Spitze – übergab, wurde in Ägypten in breiten Kreisen in negativer Erinnerung behalten. Unter seiner Herrschaft war es unter anderem zu Massakern an unbewaffneten Demonstranten gekommen, wie in den Tagen ab dem 18. November 2011 auf der Straße, die vom Tahrir-Platz zum Innenministerium führt, oder im Monat zuvor an protestierenden Kopten im Kairoer Viertel Maspero. Zum zweiten Jahrestag der Todesschüsse kam es Mitte November 2013 erstmals wieder zu stärkeren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Allerdings kam es dieses Mal sowohl zu Demonstrationen »für« als auch »gegen« die Armee. Denn nach einem Jahr Muslimbrüder-Regierung hat es nunmehr seit Sommer 2013 die Armeeführung vermocht, erstmals wieder Sympathiebekundungen aus der Gesellschaft heraus zu erwecken, Ägypterinnen und Ägypter für ihre Sache zu mobilisieren.

Der neue Verfassungstext erlaubt es in seinem Artikel 204, Zivilpersonen dann vor Militärgerichte zu stellen, wenn ihnen »direkte Angriffe auf die Armee, ihre Einrichtungen oder ihr Personal« zur Last gelegt werden. Dehnbare Begriffe, denn da die ägyptische Armee rund ein Drittel der Wirtschaft des Landes kontrolliert (genaue Zahlenangaben dazu werden nicht veröffentlicht, die Schätzung umfasst sowohl Unternehmen unter unmittelbarer Kontrolle des Armeeapparats als auch solche im Besitz von Generälen und Offizieren), könnte man prinzipiell auch diverse Arbeitskämpfe und andere Konflikte darunter fassen.

Ferner erlaubt es der Verfassungsentwurf, auch weiterhin das Budget der Streitkräfte jeglicher Kontrolle durch zivile Politiker oder Institutionen zu entziehen – wie es bereits bisherige Praxis war. Und der Text postuliert einerseits, dass das islamische Recht »Hauptquelle der Gesetzgebung« sei. Er enthält dazu den Begriff der Scharia, die die »wichtigste Inspirationsquelle« des Gesetzgebers zu bilden habe – dieser Begriff ist freilich interpretierbar, denn viele Auffassungen benennen ausschließlich zivilrechtliche Regelungen (Personenstands- und Familiengesetzgebung) mit diesem Wort, während andere Konzeptionen auch strafrechtliche Regelungen, wie sie in Saudi-Arabien und im Iran einschließlich Züchtigungsregeln praktiziert werden, darunter fallen lassen. Auf zivil- und familienrechtlicher Ebene ist die Bezugnahme auf das islamische Recht allerdings bereits bislang in Ägypten herrschende Praxis, und die Verfassung von 1971 enthielt bereits einen ähnlichen Passus zur Scharia als Interpretationsquelle der Gesetze wie die jetzt vorgelegte. Auf der anderen Seite verbietet der Verfassungstext »auf religiöser Grundlage gebildete« Parteien. Es wird präzisiert, politische Parteien könnten »zwar eine religiöse Identität« aufweisen, müssten »aber die zivile und verwaltungsrechtliche Gesetzgebung respektieren« (... welche sich ihrerseits auf das islamische Recht beziehen, siehe oben). Diese Formulierung ähnelt jener in der 1996 verabschiedeten algerischen Verfassung, die damals einerseits den Islam als »Staatsreligion« festschrieb, andererseits aber als »religiös« definierte Parteien verbot. Dies verhindert in Algerien nicht die Existenz islamistischer Parteien, doch die 1992 aufgelöste »Islamische Rettungsfront« (FIS) bleibt verboten, welche den damaligen Machthabern als staatsgefährdend erschienen war. Allem Anschein nach handelt es sich also bei solchen Formulierungen darum, missliebige oder zu große Machtansprüche stellende islamistische Parteien von anderen, »domestizierbaren« zu unterscheiden.

Ein Rückblick

Im Frühsommer 2013 hatte sich die Armeespitze in Ägypten dafür entschieden, die aufkeimende Massenprotestbewegung gegen die Mursi-Regierung, die sich aus unterschiedlichen Quellen (von enttäuschten Anhängern über säkular-nationalistische Kreise bis zur revolutionären Jugend von 2011) speiste, zu ermutigen und aktiv zu begleiten. Ja sie sogar zu alimentieren und zu befeuern: In Großstädten wie Alexandria kam es etwa vor den »heißen Tagen« zwischen dem 30. Juni 2013, dem Datum der ersten Massendemonstrationen von Millionen Menschen zum ersten Jahrestag der Wahl Mursis, und dem 03. Juli (an dem Militärs Mursis Hauptquartier mit Stacheldraht umgaben und ihn gefangen setzten) zu Versorgungsengpässen bei Grundbedarfsgütern. Ab Anfang/Mitte Juli 2013 waren die entsprechenden Waren, wie durch ein Wunder, wieder leicht zu erwerben. Nichtsdestotrotz hatte sich in den ersten Tagen der Ereignisse, die zu Mohammed Mursis Sturz führten, eine echte Massenbewegung manifestiert. Angeblich nahmen dabei 17 Millionen Menschen an Demonstrationen gegen die damaligen Regierenden teil; doch Zahlen in dieser Größenordnung – in diesem Falle wurden sie durch die Armee verbreitet, aber auch durch Oppositionsbewegungen, die an den Protestzügen teilnahmen – lassen sich ohnehin nicht überprüfen.

Insofern kann in mancher Hinsicht die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten mit jener des türkischen islamistischen Premierministers Necmettin Erbakan am 30. Juni 1997 respektive dem Prozess, der dahin führte, verglichen werden: Auch damals fanden Massenproteste und Demonstrationen gegen die reaktionäre Regierung des Politikers der Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) statt, die durch die Armee, nun ja, wohlwollend begleitet (und manchmal vielleicht auch initiiert) wurden. Die Situation in Ägypten, die zur Entmachtung und späteren Gefangensetzung Mohammed Mursis führte, glich jedenfalls eher diesem Prozess, der sich im Frühjahr 1997 in der Türkei abspielte, als dem Armeeputsch in Algerien im Januar 1992 gegen den drohenden Wahlsieg der »Islamischen Rettungsfront« FIS. Damals existierten zwar auch politische Kräfte, die das Eingreifen der Militärs flankierten und unterstützten (französischsprachige Liberale und Ex-Kommunisten), diese waren jedoch sehr minoritär, und es konnte nicht von einer Massenbewegung »pro Putsch« die Rede sein. Eine solche gab es in Ägypten jedoch wirklich. Sicherlich muss man einen der Hauptunterschiede zwischen den Situationen in den beiden nordafrikanischen Ländern auch darin suchen, dass die Muslimbrüder in Ägypten ein Jahr Zeit hatten, um zu regieren und sich also »in der politischen Realität zu blamieren«, ihre Anhänger zu desillusionieren. Auf vergleichbarem Niveau hatte dies in Algerien noch nicht stattgefunden – trotz ersten Desillusionierungen in den islamistisch regierten Kommunen, deren Rathäuser seit den Kommunalwahlen vom 12. Juni 1990 durch die »Islamische Rettungsfront« übernommen worden waren.

Bei den ersten freien, wirklich pluralistischen und nicht (in wesentlichem Ausmaß) manipulierten Wahlen in Ägypten – seit der ersten Machtübernahme durch die Armee 1952 –, welche ab dem 28. November 2011 in mehreren komplizierten Verfahrensschritten stattfanden, hatten Muslimbrüder und Salafisten gemeinsam 67 Prozent der Parlamentssitze errungen. Diese beiden islamistischen Kräfte waren zwar bereits verfeindet (ein Teil der Salafisten unterstützte im Sommer 2013 übrigens die Entmachtung Mohammed Mursis), zogen aber in Grundfragen scheinbar an einem Strang. Ihre Stimmenzahl, in absoluten Wählerzahlen, hatte sich bis zur Präsidentschaftswahl im Juni 2012 – deren Stichwahl Mursi mit etwas unter 52% der abgegebenen Stimmen knapp gewann – halbiert. Und bis zum Referendum über den durch Mohammed Mursi vorgelegten Verfassungstext im Dezember 2012, den die Muslimbrüder (bei erheblich gesunkener Wahlbeteiligung) formal ebenfalls gewannen, bei dem sie jedoch politisch erheblich angeschlagen wurden, hatte die absolute Stimmenzahl auf ihrer Seite sich abermals ungefähr halbiert. Es hat also ganz real ein Ablösungsprozess von ihrer Politik »auf Massenebene« stattgefunden. Der blanke Hass, der heute mancherorts in der ägyptischen Gesellschaft gegen sie sichtbar wird, wurzelt zwar zum Teil in alten Vorbehalten – auch seitens alter Eliten, die in den Islamisten schon immer »unzuverlässige Emporkömmlinge« erblickten –, aber eben zum Teil auch in der massiven Enttäuschung, die nun in wuterfüllte Abneigung umschlug.

Gegenüber den Muslimbrüdern – die nach der mit brutaler Gewalt erfolgten Niederschlagung ihrer Protestcamps in Kairo ab dem 14. August 2013 folgenden anderthalb Wochen kosteten 1000 Todesopfer, mehr als die rund 800 während der Revolutionswochen von Anfang 2011 – setzt die neue, angeblich provisorische, Regierung auf nackte Repression. Am 23. September 2013 wurde der Muslimbruderschaft formell jedwede weitere Betätigung verboten. Auch ihre Partei, die Freedom and Justice Party (FJP) als de facto verlängerter politischer Arm der Muslimbruderschaft, wurde am 24. September aufgelöst. – Eine notwendige Anmerkung dazu: Auch die Muslimbrüder setzten während ihrer gut einjährigen Machtausübung selbst Repression gegen politische Gegner ein. Dies wurde im Dezember 2012 manifest, als den Muslimbrüdern nahestehende Milizen während der Proteste gegen die von ihnen forcierte neue Verfassung wüteten, Demonstrierende festnahmen und auch in eigens eingerichteten Kellern folterten.

Auf internationaler bzw. regionaler Ebene unterstützten unter anderem Saudi-Arabien und andere Golfmonarchien wie Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate massiv die ägyptischen Militärs und ihren faktischen Putsch gegen die Muslimbrüder-Regierung. Dies mag auf den ersten Blick überraschend klingen, da besonders in Saudi-Arabien eine sich auf den Islam berufende Staatsideologie in Gestalt des Wahhabismus herrscht. Jedoch darf nicht verkannt werden, dass die Muslimbrüder – die sich als überzeugte Anhänger eine republikanischen Staatsform geben und eine Monarchie wie in den Golfstaaten ablehnen – trotz der ausgeprägt reaktionären Elemente ihrer eigenen Ideologie von den Hütern des Wahhabismus sehr misstrauisch beargwöhnt werden. Ferner betrachten sie die Anhänger des Wahhabismus, der die vielleicht extremste und rückständigste Variante des politischen Islam darstellt – in Saudi-Arabien regieren sie in einer Art Doppelherrschaft mit dem Königshaus, den Wahhabiten ist u. a. die Religionspolizei anvertraut –, als Rivalen für die Vormachtstellung im islamistischen Spektrum. Dieses weist eine ganze Palette von unterschiedlich ausgerichteten politischen Kräften auf, aber es bestehen mehrere Machtzentren oder -pole, die sich um eine hegemoniale Position streiten. Die Muslimbrüder mit ihrer internationalen Verästelung (zu ihr zählt u. a. auch die tunesische Regierungspartei En-Nahdha) bilden eines dieser Zentren, Saudi-Arabien mit seinem beträchtlichen Einfluss u. a. auf viele salafistische Strömungen ein anderes. Dies erklärt (neben ihrem eigenen politischen Opportunismus, traditionellen Kontakten zur ägyptischen Armee sowie feindlichen Tendenzen unter ihren eigenen Anhängern gegen die Mursi-Regierung) die eher putschfreundliche Position vieler ägyptischer Salafisten. Lediglich Qatar vertrat unter den Golfmonarchien eine abweichende Position, denn das monarchische Herrscherhaus in Doha unterhielt seinerseits freundliche Kontakte zu den Muslimbrüdern, neben anderen islamistischen Strömungen.

Im August 2013 gewährte Saudi-Arabien allein fünf Milliarden Dollar, und zusammen mit Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwölf Milliarden Dollar, neuer Finanzhilfe »spontan« an Ägypten. Dadurch sollte den neuen Machthabern, nach dem Sturz der Mursi-Regierung, gegenüber eventuellen sozial und wirtschaftlich motivierten Unmutsbekundungen der Rücken gestärkt werden. Angesichts einer zumindest verbal vorgetragenen Kritik aus den USA – denn die US-Administration fürchtete eine wachsende Instabilität in Ägypten durch den erzwungenen Abgang der Mursi-Regierung – boten sich Saudi-Arabien und seine Nachbarn zudem an, einen eventuellen Ausfall der US-Militärhilfe (1,5 Milliarden Dollar pro Jahr) umgehend zu kompensieren. Eine Einstellung oder Verminderung dieser US-Militärhilfe war vorübergehend verbal angedroht worden, fand dann jedoch nicht statt.

Nach wie vor protestierten die Muslimbrüder auch im Herbst 2013 immer wieder gegen die aktuelle Repression mit Straßendemonstrationen. Die Beteiligung an ihnen nimmt jedoch ab, und viele Ägypter zeigen sich von den durch die Proteste verursachten Staus (ebenso wie vom anfänglichen vereinzelten Waffeneinsatz ihrer Anhänger) nur noch manifest genervt. Im islamistischen Lager hat sich unter den weiter vom »harten Kern« entfernten Sympathisanten ein Anflug von Resignation auszubreiten begonnen, während manche Ränder dieses harten Kerns in die bewaffnete Untergrundaktion abdriften könnten – wofür der Bombenalarm in der Kairoer Metro vom 19. September 2013, der zum Quasi-Totalausfall des öffentlichen Verkehrs führte, eventuell ein Symptom darstellte. Andere bewaffnete Islamisten haben die Halbinsel Sinai seit längerem in ein Anlaufzentrum für Jihadisten unterschiedlicher Schattierungen verwandelt.

Die Rhetorik, der sich mindestens Teile der Islamisten bei ihrer Mobilisierung gegen die neuen Machthaber bemühen – die unter anderem das Gerücht streuten, der starke Mann der neuen Regierung (General ’Abdelfatah Al-Sissi) sei jüdischer Herkunft, dasselbe wurde auch über Übergangspräsident ’Adly Mansour kolportiert –, ist, gelinde ausgedrückt, unschön und soll ans konfessionelle Ressentiment appellieren. Ebenso hässlich waren die Angriffe, die vor allem im Laufe des Juli 2013 auf diverse koptische Kirchen besonders in Mittelägypten stattfanden: Einige enttäuschte Anhänger der Muslimbrüder »rächten« sich offenkundig an den koptischen Christen. Ebenso hässlich, und darüber hinaus brutal, war jedoch die Jagd auf vermeintliche Muslimbrüder und ihre Sympathisanten nach dem 03. Juli 2013 in manchen Orten, vor allem in manchen Stadtteilen von Kairo. Diese lief unter dem meist wenig differenzierten Vorwurf, bei den neu zur Hatz freigegebenen Muslimbrüder-Sympathisanten handele es sich eben um »Terroristen«, wie das neue (oder neu-alte) Lieblingswort im innenpolitischen Diskurs lautet. Vielerorts war es nicht länger ratsam, einen Bart oder auch nur einen Schnurrbart als vermeintliches Erkennungszeichen zu tragen, das nunmehr Prügel einzutragen drohte. Um die Repression durch die Armee zu unterstützen und zu flankieren, gründeten sich mancherorts zivile »Selbstverteidigungskomitees«, die mitunter ihren Stadtteil unsicher machten – und oft so viel Feuereifer an den Tag legten, dass es sogar der (neuen) Regierung zu weit ging, die diese Organe Mitte August d. J. auflösten. Und nicht nur, weil die Eigeninitiative von Zivilisten respektive »aus den Massen heraus« ihr verdächtig erschienen wäre (dies wohl ganz grundsätzlich auch, aber in dem Falle eher nebenbei), sondern eher aufgrund der Gefahr von Übergriffen und Exzessen ...

Zuckerbrot neben Peitsche

Gegenüber sonstigen Protesten, die aus anderen Ecken kommen, zeigt die von den Militärs dominierte Regierung sich hingegen bislang eher noch um Einbindung bemüht. Auch wenn bisweilen die Folterwerkzeuge ausgepackt und vorgezeigt werden, um zu zeigen, was passiert, wenn es »nötig« wird: Am 26. August 2013 fuhren so die Panzer auf, um einen Streik von 20 000 Lohnabhängigen in der Textilindustrie in Mahalla (im Nildelta) niederzuschlagen.

In der dritten Septemberwoche verkündete die ägyptische Regierung unterdessen, der Mindestlohn für Staatsbedienstete sei von umgerechnet 80 auf 150 Euro angehoben worden, und eine ähnliche Maßnahme für die Lohnabhängigen im Privatsektor befinde sich »im Überlegungsstadium«. Der amtierende Arbeitsminister, Kamel Abu Aita, kommt aus den seit 2007 existierenden und seit 2011 verstärkt präsenten unabhängigen Gewerkschaften. Der Hauptaspekt dabei ist natürlich die Einbindung dieses Widerspruchspotenzials; Mitte August des Jahres erreichte Abu Aita immerhin die Freilassung zuvor inhaftierter Streikführer bei Suez Steel.

Noch dominiert also das Element der Integration und Einbindung potenzieller Widerstände. Dass die harte Repression sich aber bei Bedarf auch gegen andere Kräfte als die Islamisten richten kann, belegt die vorübergehende Festnahme eines der führenden Mitglieder der Revolutionary Socialists – eine der beiden Hauptströmungen der ägyptischen radikalen Linken –, Haitham Mohamedain. Vom 05. bis 07. September 2013 wurde er durch Militärs festgehalten, körperliche Misshandlung wurde ihm dabei angedroht.

Seine Gruppe, die Revolutionary Socialists (RS), positionierte sich zuvor sowohl klar gegen die Muslimbrüder und ihre Politik – nachdem sie diese 2012 noch tendenziell gegen die Kräfte des alten Regimes unterstützt hatte – als auch gegen die brachiale Repression, die nach ihrem Sturz losbrach. Während bei manch anderen linken Gruppen diese doppelte Abgrenzung sträflich unterblieb. Auch die RS hatten diese doppelte Abgrenzung nicht zu jedem Zeitpunkt scharf durchgehalten: 2012 hatten sie noch tendenziell Mursi gegen die Kräfte des alten Regimes unterstützt, in dem Bestreben, den Kontakt zu dessen Basis nicht zu verlieren (und diese ansprechen zu können, wenn die Desillusionierung über die Regierungsbilanz des Muslimbrüder-Präsidenten unvermeidlich eintreten würde). Aber seit der Jahresmitte 2013 nehmen die RS, mit ihrer nunmehr laut und explizit vorgetragenen Kritik sowohl an den Islamisten als auch an den Militärs, die vergleichsweise klarsten Positionen ein. Andere Kräfte auf der Linken hinken da mindestens deutlich hinterher, wenn sie nicht gleich eine der beiden rivalisierenden »stärksten Parteien« im Streit Muslimbrüder versus Armee unterstützen. In aller Regel derzeit eher die Seite der Armee.

Beispielsweise übernahmen Kreise um die ägyptische KP – und die Partei selbst – Positionen, wie man sie von den algerischen Ex-Kommunisten zu Anfang des Bürgerkriegs in den frühen 1990er Jahren kennt und die man dort als éradicateurs-(»Entwurzler-«, »Ausrotter-«)Positionen bezeichnete. Also eine Unterstützung für die militärische Repression, im Namen der Vorstellung, die Muslimbrüder seien Faschisten und deswegen sei quasi jegliches Vorgehen gegen sie irgendwie objektiv fortschrittlich.

Neueste Entwicklungen

Ende November und Anfang Dezember 2013 steigerte sich unterdessen die Repression, welche sich nunmehr wieder verstärkt auch gegen nicht islamistische Kreise richtet. Am 29. November wurde die Festnahme des Opponenten Alaa Abdel Fattah bekannt, dem »die Organisierung einer illegalen Demonstration« – gegen Bestimmungen des neuen Verfassungsentwurfs – vorgeworfen wird. Es wird auch behauptet, er habe angeblich einen Polizeioffizier geschlagen. Alaa Abdel Fattah zählt zur nicht islamistischen, säkular orientierten Opposition und war bereits unter dem Mubarak-Regime inhaftiert gewesen. Am 30. November stellte sich Ahmed Maher, Gründer der »Bewegung des 06. April« – an jenem Datum war im Jahr 2008 zu einem Generalstreik aufgerufen worden, der damals jedoch abgeblasen wurde –, der Justiz. Gegen ihn werden ähnliche Vorwürfe erhoben. Die Monate, in denen sich die Repression hauptsächlich nur gegen die Muslimbrüder richtete, scheinen vorüber.

Unterdessen kam es auch zu neuen sozialen Kämpfen. Am 14. Dezember 2013 endete der Streik im Eisen- und Stahlwerk des Eisen- und Stahlfabrikanten HADISOLB im Kairoer Vorort Helwan am 19. Tag des Arbeitskampfs mit einem weitgehenden Erfolg. Die Arbeiter des 13000 Beschäftigte zählenden Werks hatten u.a. einen Abgang der bisherigen Direktion, die ihnen verhasst war, sowie die rückwirkende Auszahlung von sechzehn Monaten Gewinnbeteiligung gefordert. Theoretisch werden die abhängig Beschäftigten in dem Unternehmen am Jahresgewinn beteiligt, doch dieser faktische Lohnzuschlag war in den letzten ein bis anderthalb Jahren in Wirklichkeit nicht an sie ausgeschüttet worden. Bei diesen beiden Forderungen hat die Direktion nachgegeben. Über andere Forderungen der Streikenden, darunter eine Wiedereinstellung von kürzlich Entlassenen sowie eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen, wurde bei Redaktionsschluss noch verhandelt.

Dies belegt, dass es trotz der starken Stellung der de facto regierenden Militärs Ansätze zu gesellschaftlichen Kämpfen, eine soziale (und daneben eine politische) Opposition gibt. Am selben Tag, an dem der Arbeitskampf zu Ende ging, am 14. Dezember, wurden unterdessen die Ergebnisse der Personalvertretungswahlen bei den ägyptischen Ärztinnen und Ärzten bekannt. Dabei wurde die Hälfte der Sitze in der Ärztekammer neu besetzt. Die Muslimbrüder, die diese Berufsorganisation zuvor seit 28 Jahren (seit 1985) führten, verloren dabei mächtig an Boden. Sie müssen nunmehr die Leitung der Berufsorganisation abgeben, zugunsten einer Liste unter dem Titel »Ärzte vom Tahrir-Platz«. Deren Gründer hatten ein gutes Jahr zuvor den bisher letzten Streik ihrer Berufsgruppe ausgerufen und gegen heftige Widerstände der Muslimbrüder durchgeführt. Unmittelbar nach der Neubesetzung der Ärztekammer rief deren neue Leitung zu einem Streik ab dem 1. Januar 2014 auf, für eine Verbesserung der Löhne (die bei Ärztinnen und Ärzten in den ägyptischen Krankenhäusern oft ziemlich tief ausfallen) und einen Austausch des Direktorenpersonals im Gesundheitswesen. Während des Arbeitskampfs sind die Ärztinnen und Ärzte dazu aufgerufen, Patienten in den Krankenhäusern kostenlos zu behanden.