geziAnmerkungen zur regionalen Rolle der kurdischen Freiheitsbewegung 2013/2014

Das vergangene Jahr aus kurdischer Sicht

Deniz Özkürt

Für die KurdInnen begann das Jahr 2013, genauso wie das vorangegangene, mit einem Massaker, das erneut die Wunden des Roboskî-Massakers vom 28. Dezember 2011 aufriss – in den ersten Januartagen wurden drei kurdische Revolutionärinnen, unter ihnen eine Mitbegründerin der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), in Paris ermordet.

 

Eigentlich hatte die Erklärung des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan, die Gespräche mit dem immer noch auf der Insel Imralı gefangen gehaltenen PKK-Anführer Abdullah Öcalan würden fortgesetzt, eine neue Phase der politischen Lösung der kurdischen Frage bedeutet. Die inzwischen neunzig Jahre alte Republik Türkei hatte somit zum ersten Mal kundgetan, dass sie die kurdische Frage und den entsprechenden Gesprächspartner anerkennt. Der Staat akzeptierte damit folglich auch die bisher als »terroristisch« abgestempelte Freiheitsbewegung eines Volkes, dessen Existenz seit neunzig Jahren abgestritten worden war, samt dem Anführer dieser Bewegung als Gesprächspartner für die Lösung der Frage. Diese offizielle Anerkennung war auch das Vorzeichen dafür, dass Verlauf und Inhalt der Politik sich von nun an ändern würden. Das Jahr 2013 begann mit den Reaktionen darauf.

Provokationen begleiten den (Friedens-)prozess

Die Ermordung von Sakine Cansız, einer der ersten PKK-Kader, zusammen mit Fidan Doğan und Leyla Şaylemez in Paris zeigte, wie schwierig sich der Prozess gestalten würde. Ebenfalls wurde augenscheinlich, dass eine der Achsen des Mordes, dessen internationaler Charakter außer Frage steht, zum türkischen tiefen Staat verlief. Sicher ist auch, dass dieser Anschlag auf die weiblichen Kader der Freiheitsbewegung während der Friedensgespräche eine Botschaft an mehrere Adressaten war, allen voran in Richtung Öcalan. Mit diesem Anschlag wurde betont, dass auch der Friedensprozess, dessen eigentliches Ziel ja die Niederlegung der Waffen ist, von Waffengewalt bedroht ist. In Anbetracht der Bedeutung, die Öcalan der kurdischen Frauenbewegung beimisst, stellt die Ermordung dreier weiblicher Mitglieder der kurdischen Freiheitsbewegung in Paris, einer der wichtigsten Hauptstädte Europas, eine deutliche Botschaft an Öcalan dar.

Nichtsdestotrotz schaffte es die Beharrlichkeit von Öcalan und der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), diesen Prozess ungeachtet des Angriffs auf sie fortzusetzen. Die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) hat nicht einmal eine angemessene Erklärung zu diesem Anschlag abgegeben, geschweige denn etwas unternommen, um zur Aufklärung der Morde beizutragen. Das demonstriert erneut, dass auch diese Regierung sich den traditionellen Staatsreflex angeeignet hat. Genau wie im Falle des Roboskî-Massakers bevorzugte die AKP auch dieses Mal, sich die staatliche Position anzueignen. In der Tat tauchten Pressemeldungen auf, denen zufolge französische Behörden Verbindungen zum türkischen tiefen Staat festgestellt hätten.

Am 29. Juni 2013 wurde in Pîran (Lice) bei Protesten gegen den trotz des andauernden Friedensprozesses fortgesetzten Bau einer militärischen Wachstation das Feuer auf die Zivilbevölkerung eröffnet – ein Hinweis auf die latente kriegerische Neigung des Staates, Waffen immer noch als Instrument zu benutzen; und es sollte Paris ins Gedächtnis rufen.

Außerdem ist bekannt, dass auch innerhalb der AKP-Fraktion, in der der Parteivorsitzende über absolute Autorität verfügt, keine einheitliche Auffassung herrscht. Offensichtlich sieht ein Großteil der AKP-Abgeordneten den Prozess als einen Plan zur »Eliminierung der kurdischen Opposition durch das Spiel auf Zeit«. Diese Tatsache, über die hinter den Kulissen in Ankara gesprochen wird, wird von den Medien aus Angst vor der autokratischen Hegemonie Erdoğans nicht benannt. Der Umstand, dass innerhalb der Partei keinerlei Anzeichen für ein radikales Umdenken in der AKP-Spitze erkennbar sind, beweist diesen Zusammenhang.

Rojavas (Westkurdistans) Rolle bei der Praxis der Demokratischen Autonomie

Die folgende Passage in Öcalans Appell zur Beendigung der Hungerstreiks in den Gefängnissen Ende 2012 war wie eine Intervention in die politische Situation 2013:

»Die syrischen KurdInnen können das Problem in Syrien nicht lösen, indem sie lediglich sechs Provinzen übernehmen. Demokratische Institutionen und Strukturen sollten Beziehungen zu AraberInnen, JüdInnen und ChristInnen, zu allen Volksgruppen pflegen. Sie sollten gemeinsam handeln und ihre Strukturen aufbauen können. Denn nur so kann wahre Autonomie hergestellt werden. Weder das Regime Baschar al-Assads noch die Freie Syrische Armee kann die Völker dort befreien. Die Kämpfe dort sind sehr gefährlich. Um dieser Gefahr zu begegnen, kann die Demokratische Autonomie nur durch einen gemeinsamen Kampf aller dort ansässigen Volksgruppen und Strukturen geschaffen werden. Genau genommen kann eine Lösung nur durch gemeinsames Handeln erreicht werden. Die syrischen KurdInnen sollten sich dessen bewusst sein, dass das Problem mit nur sechs Provinzen nicht gelöst werden kann. Wenn sie sich nicht weiterentwickeln, könnten auch die bisherigen Errungenschaften in Gefahr geraten. Eine gemeinsame Handlungsweise wäre für die syrischen KurdInnen besser.« (18.11.2012)

Öcalan fasst augenscheinlich seine Lösungsvorschläge für Syrien, das aktuell einen der wichtigsten Punkte auf der internationalen politischen Tagesordnung darstellt, in diesem kurzen Abschnitt zusammen. Die Tatsache, dass die KurdInnen, die sich heute im Rahmen Rojavas in die internationale Politik integrieren, bis vor kurzem unter der Herrschaft Assads noch nicht einmal Personalausweise besaßen, sollte unterstrichen werden. Fest steht, dass Öcalan, der hier lange Jahre im Exil weilte, einen großen Beitrag zur Entwicklung des organisierten Kampfes in Rojava geleistet hat. Der Einfluss und die Rolle der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), deren Fundament von Öcalan selbst Ende der 90er gelegt wurde, der den Nahen und Mittleren Osten im Allgemeinen und Syrien sowie Rojava im Besonderen gut kennt, sind kein Zufall. Folglich wird es bei dem Verständnis und der Analyse der kurdischen Freiheitsbewegung zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen führen, sie nur im Zusammenhang mit Nordkurdistan zu betrachten. Außerdem dürfte man wohl nicht falsch liegen mit der Behauptung, dass es in den Gesprächen zwischen dem türkischen Staat mittels der AKP einerseits und der kurdischen Freiheitsbewegung andererseits nicht nur um Nordkurdistan geht.

Der durch die PYD in den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten vorangetriebene Säkularisierungsprozess, im Gegensatz zu der von der Regierung in Ankara verdeckt betriebenen, aber offensichtlich gewordenen Unterstützung islamistischer Gruppen, die Syrien einem islamischen Regime unterwerfen wollen, ist international nicht unbeachtet geblieben. Sollte er auch nicht.

Newroz 2013 in Amed

Weiter sollte die Aufmerksamkeit auf das während der New­roz-Feier 2013 in Amed (Diyarbakır) verkündete Manifest Öcalans gerichtet werden. Die Tatsache, dass er trotz 14 Jahren Gefangenschaft den Kampf nicht aufgibt und sich in Person der Bevölkerung von Kurdistan an die Volksgruppen der Region wendet, kann als Vorläufer eines historischen Wandels interpretiert werden.

Die Parallele zwischen Öcalans Amed-Manifest und seiner kurzen Botschaft an das Volk von Rojava steigert die Bedeutung dieses historischen Wendepunktes um ein Weiteres. Er ruft die Völker Nordkurdistans und Anatoliens zum gemeinsamen Vorgehen für eine neue demokratische Republik auf. Hierzu verkündet er nun das Ende des bewaffneten Kampfes im Rahmen einer strategischen Entscheidung: »Heute beginnt eine neue Ära. Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik. Es beginnt eine Ära, die sich vorwiegend um Politik, Soziales und Wirtschaft dreht; es entwickelt sich ein Denken, das auf demokratischen Rechten, Freiheit und Gleichheit beruht. (…) Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen.« Mit diesen Worten betont Öcalan die neue Ära und verkündet den Beginn eines neuen politischen Prozesses.

Die KCK reagierte äußerst positiv auf den Aufruf Öcalans und gab bekannt, dass die unter ihrer Kontrolle stehenden bewaffneten Gruppen nach Südkurdistan verlegt werden würden. Das war die konkreteste Auswirkung der durch den von Öcalan verkündeten strategischen Wandel geschaffenen neuen politischen Atmosphäre. Des Weiteren haben BDP (Partei für Frieden und Demokratie) und DTK (Kongress für eine Demokratische Gesellschaft) sich ebenfalls eindeutig positioniert, um ihre Pflicht zu erfüllen und der neuen Ära gemäß den Prozess zu unterstützen. BDP-Abgeordnete haben mit ihrer Pendeldiplomatie zwischen Imralı und Kandil regelrecht das Fortbestehen des Prozesses gewährleistet. Öcalan und dieser strategische Zug der kurdischen Freiheitsbewegung haben der Politik einen neuen Lauf verschafft. Kurze Zeit später machte sich die Republikanische Volkspartei (CHP), die Garantin des Status quo, die politische Manifestation des Staatsnationalismus, an neue Analysen und Lösungsvorschläge im Hinblick auf die kurdische Frage. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hingegen krempelte die Ärmel hoch, um von den potenziellen Wellen zu profitieren, die die Gespräche mit Öcalan in den seichten Gewässern des primitiven türkischen Nationalismus schlagen würden. Die MHP, die seit langem versucht, die inzwischen größtenteils von der AKP gehaltene Mitte-rechts-Position zu besetzen, hat angesichts der Möglichkeit, dass die Legitimität der Freiheitsbewegung offiziell anerkannt werden könnte, erneut die rassistische Sprachregelung des alten tiefen Staates beherzigt und sich rechts von der Mitte positioniert.

Gezi und die KurdInnen – »Gezi entlarvte die Handlungsunfähigkeit der Regierung«

Die AKP, die im Laufe ihrer zehnjährigen Regierungszeit auf dem Gebiet der Demokratisierung außer kosmetischen Maßnahmen keine grundlegenden Veränderungen am System vorgenommen hat, frischte ihr beschädigtes Image auf, indem sie die Gespräche mit dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan wieder aufnahm.

Das dank der offenen Unterstützung der Freiheitsbewegung und der kurdischen Bevölkerung schnelle, wenn auch einseitige Voranbringen des Lösungsprozesses verhinderte den Wutausbruch gegen die AKP und insbesondere gegen Erdoğan. Der nutzte das 2013 aus und schlüpfte erneut in die Rolle des Vertreters für Demokratie- und Freiheitsversprechungen.

Die PKK traf umgehend existenzielle Entscheidungen und setzte den neuen strategischen Wandel in die Tat um. Die Regierung hingegen unternahm nichts Konkretes und konnte die sich in den Straßen des türkischen Westens sammelnden Freiheitsforderungen nicht deuten. Der dem physischen und psychischen Druck des anhaltenden Krieges in Kurdistan unterliegende Westen ahnte und verstand die für Demokratie und Freiheit unternommenen couragierten und lebensnotwendigen Schritte der kurdischen Freiheitsbewegung schneller als vermutet.

Als die KurdInnen grundlegende Veränderungen für Frieden und Demokratie vornahmen und dazu noch den Krieg beendeten, kamen die im Westen angesammelten und vielleicht sogar bewusst hinausgezögerten Forderungen nach Demokratie und Freiheit als Reaktion auf die herrische und arrogante Vormundschaft Erdoğans im Rahmen der Gezi-Proteste zum Vorschein. Durch das Manifest Öcalans wurde die Herrschaft des Kriegszustandes über das politische und gesellschaftliche Leben beendet.

Besagte Praxis Erdoğans muss nicht eingehend erörtert werden. Die Ereignisse im Zuge der Gezi-Proteste und ihre Fortsetzung können als Reflex verstanden werden auf den als Folge des von Öcalan initiierten Demokratisierungsprozesses entstandenen zügigen Wandel in Kurdistan. Dieser Aspekt verdient Aufmerksamkeit. Aus dieser Perspektive betrachtet handelt es sich bei der Schlüsselrolle, die der Istanbuler BDP-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder, dessen Name mit dem Lösungsprozess identifiziert wird, während der Gezi-Proteste gespielt hat, keineswegs um eine zufällige. Hätte sich an seiner Stelle ein Abgeordneter einer anderen Oppositionspartei vor die Baumaschinen im Gezi-Park gestellt, wären diese offensichtlich nicht so zur Seite gewichen. Denn die CHP-Abgeordneten zum Beispiel, die während der Proteste in Ankara an der Seite der Protestierenden standen, wurden in aller Öffentlichkeit von der Polizei drangsaliert. Es stellte sich heraus, dass sie über absolut keine Durchsetzungskraft verfügten. Die korrekte Art und Weise, wie Önder die von ihm vertretene Politik und die Menschen repräsentierte, wurde auch von seinem Gegenüber richtig interpretiert und zwang sie dazu, zurückzuweichen.

Die unilaterale und konstruktive Herangehensweise Öcalans und der kurdischen Freiheitsbewegung wurde von Erdoğan pragmatisch interpretiert: »Die einzige und wahre Opposition, die KurdInnen, hat sich von der Straße zurückgezogen. Nun haben wir endlich die Möglichkeit, auch dort die Macht zu ergreifen.«

Sie konnten jedoch nicht kalkulieren, dass das auf dem Newroz-Platz verkündete Manifest Öcalans die Freiheitsforderungen der gesamten Gesellschaft zum Ausdruck brachte, den gemeinsamen Forderungen aller Diskriminierten entgegenkam und dass zumindest ein sensibler Teil der Gesellschaft diesen Aspekt umgehend wahrnehmen würde.

Was die Gezi-Proteste betrifft, lässt sich gewiss behaupten, dass die Verkündung einer Ära demokratischer Politik nicht ihr einziger Auslöser war. Allerdings hatte sie offensichtlich einen antreibenden und ermutigenden Einfluss. Nachdem die Proteste angefangen hatten und der Staatsterror sich unbegrenzt auszubreiten begann, wurde oft nach den KurdInnen gefragt.

Kommen wir nun zu den Resultaten der Gezi-Proteste. Als offensichtlichstes stellte sich die AKP-Regierung unter der Autorität eines einzigen Mannes als ein Papiertiger heraus. Die Reise Erdoğans in den Maghreb am Tag nach den Protesten brachte ans Tageslicht, wie die unter der Kontrolle eines Mannes stehende Regierung an Rückgrat verlor. Dementsprechend sagte Erdoğan nach seiner Reise: »Ich habe meinen Innenminister damit beauftragt, die Lumpen am Atatürk-Kulturzentrum und am Denkmal umgehend zu entfernen«, und bestätigte somit die Situation. Also verfügt das AKP-Kabinett nicht einmal über so viel Initiative, um selbst in einem solchen Geschehen öffentlich einzugreifen.

Dass es am dritten Tag der Proteste keinerlei befriedigende Erklärung von Regierung oder Fraktion gab, beweist die Lage. Dass Staatspräsident Abdullah Gül Vizeministerpräsident Bülent Arınç einbestellte und in die Geschehnisse eingriff, bildete den Höhepunkt des Machtvakuums. Wie oft war es in der 90-jährigen Geschichte der Republik Türkei schon vorgekommen, dass ein Stellvertretender Ministerpräsident vom Staatspräsidenten einberufen wurde? Das entspricht weder den politischen Gepflogenheiten der Republik noch der Arbeitsweise des Staates. Die Abwesenheit Erdoğans bewies jedenfalls, dass die AKP-Regierung Interventionen gegenüber offenstand, ja sogar darauf angewiesen war.

BDP – HDP (Demokratische Partei der Völker)

Im Gegensatz zur zentralen Oppositionspartei CHP, die Opposition auf das Parlament reduziert hat, machte der Umstand, dass die BDP die Opposition auf der Straße anführte, sie zur eigentlichen Oppositionspartei. So schafften es die BDP-Abgeordneten, überall dort präsent zu sein, wo der Puls der echten Opposition schlägt. Die Aufgabe, alle möglichen Gruppen zu vertreten, angefangen bei den LGBT1 über die SchülerInnen und Studierenden, die Opfer der Zwangsmigration, die Frauen, die nichtmuslimischen Volksgruppen (ChristInnen, JüdInnen, AssyrerInnen, AramäerInnen und ChaldäerInnen) bis hin zu den ArbeiterInnen und BeamtInnen, wurde von der BDP erfüllt.

Außerdem war sie im Parlament sowohl in den Kommissionen als auch im Plenum viel aktiver als die anderen politischen Parteien. Die Vorschläge der BDP-Abgeordneten in der Verfassungskommission, die aus Abgeordneten der vier mit einer Fraktion im Parlament vertretenen Parteien besteht, haben für das demokratische Gerüst des Verfassungsentwurfs gesorgt, was die vier veröffentlichten Einzelentwürfe letztlich auch bestätigt haben. Im Gegensatz zu den aus Sorge um die Institutionalisierung ihres demokratieinvaliden Status quo erstellten unzureichenden Ansätzen der anderen drei Systemparteien ist der Text der BDP ein historischer Verfassungsentwurf, der dadurch, dass er die Schaffung eines neuen Regimes als möglich darstellen kann, in der Lage ist, die demokratische Moderne zu repräsentieren.

Im Vergleich zu den anderen drei Konzepten war der Verfassungsentwurf der BDP der einzige, der aktuellen Bedürfnissen hinsichtlich Demokratie, Grundfreiheiten und Laizismus entsprach. Außerdem dürfte es nicht fehl am Platze sein zu behaupten, dass er im Hinblick auf die Lösung von Problemen, die der aktuell gültigen Verfassung geschuldet sind, am besten den EU-Normen entspricht. Darüber hinaus war er auch deshalb beachtenswert, weil er realistische Lösungsvorschläge für die Schaffung eines säkularen Lebens für eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft beinhaltete. Folglich lässt sich sagen, dass der Beitrag der BDP zu den Vorbereitungen für eine zivile Verfassung derjenige war, der die zivilen Aspekte repräsentierte und realisierte.

Die Parlamentskommission zur Begleitung des Friedensprozesses, die als eine der Rollen, die das Parlament übernehmen könnte, auf die Tagesordnung kam, konnte nur dank der Mitarbeit von BDP-Abgeordneten eine dem parlamentarischen Pluralismus entsprechende Identität gewinnen. Dass die MHP an einer solchen Kommission nicht mitwirkt, dürfte zu erwarten gewesen sein. Dass jedoch die CHP, eine Partei, die sich als sozialdemokratisch bezeichnet und Mitglied der Sozialistischen Internationale ist, der Kommission zwecks Sabotage keine Abgeordneten zur Verfügung gestellt hat, zeigt, dass die BDP im politischen Kampf gegen die AKP die oppositionelle Front allein stemmen muss.

Um das Gesagte noch einmal zu bekräftigen, ist folgendes Beispiel beachtenswert: Das System der Doppelbesetzung der Parteispitze, das auf dem Vorschlag Öcalans basierend von der BDP realisiert worden war, um die Repräsentation der Frauen aus dem Symbolischen zu befreien und zu stärken, musste der türkischen Politik erst mit dem »Demokratiepaket« der AKP weitergegeben werden. Somit ist die Institution der Doppelspitze als ein Geschenk der kurdischen politischen Bewegung an die türkische Politik in die Geschichte eingegangen.

Das war jedoch nicht alles. Die BDP hat ebenfalls die Gründung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) initiiert und somit die Bildung einer neuen und breiten oppositionellen Front gefördert. Allein die Ankündigung des Istanbuler HDP-Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder, für das Oberbürgermeisteramt von Istanbul zu kandidieren, hat in breiten Teilen der Gesellschaft für Begeisterung gesorgt. Das belegt wieder einmal, wie angebracht die Anstrengungen waren.

Das Wahljahr 2014

Es dürfte nicht von Pessimismus zeugen, angesichts der vorgetragenen Geschehnisse zu behaupten, dass in den letzten Tagen von 2013 keine grundlegenden Schritte auf dem Weg zur Demokratisierung unternommen werden. In diesen Tagen, in denen sich die AKP durch die von Tag zu Tag autokratischeren Neigungen Erdoğans in ein tyrannisches Regime verwandelt, ist es offensichtlich, dass der Ministerpräsident allen voran zur Lösung der kurdischen Frage nicht wesentlich für die Demokratisierung tätig werden wird. Insbesondere im Hinblick auf die Wahlen 2014 und 2015 wird er definitiv eine ausschließlich auf WählerInnenstimmen ausgerichtete pragmatische Politik verfolgen.

Dass Erdoğan im Gegensatz zur Stoßrichtung Öcalans und der kurdischen Freiheitsbewegung keine für den Lösungsprozess erforderlichen rechtlichen Maßnahmen trifft und insbesondere im Rahmen seiner Syrienpolitik für Angriffe auf KurdInnen in Rojava verantwortliche islamistische Gruppen unterstützt, wird wahrscheinlich dazu führen, dass er in ganz Kurdistan in erheblichem Ausmaß Stimmen einbüßen wird. Er dürfte es neben seinem begrenzten Stimmenpotenzial in der Region auch schwer haben, in den westlichen Provinzen Stimmen von der republikanisch-laizistischen WählerInnenschaft einzuheimsen. Außerdem wird erwartet, dass sich die etwa 3–3,5 Millionen NeuwählerInnen aufgrund der Gezi-Ereignisse und der Eingriffe in das Privatleben von SchülerInnen und Studierenden2 von der AKP fernhalten werden. Angesichts dessen bleibt ihr als einzige Option zum WählerInnenfang die MHP-Basis. Erdoğan, der sein Wahlergebnis auf über 50 % zu steigern versucht, beabsichtigt offensichtlich, den Lösungsprozess bis nach den Wahlen im Leerlauf einzufrieren, um von der rassistischen MHP-Basis Stimmen gewinnen zu können. Er spekuliert, dass der seinem rassistisch-nationalistischen Diskurs und entsprechenden Praxis geschuldete Stimmenverlust in Kurdistan unter dem Stimmenanteil liegen wird, den er dadurch vor allem in Istanbul und Zentralanatolien von der MHP gewinnen wird.

Es steht fest, dass sich Erdoğan dem Ergebnis der Kommunalwahl 2014 entsprechend positionieren wird. Seine nächsten Ziele sind die Parlaments- und die Präsidentschaftswahl 2015. Er wird seine Präsidentschaftskandidatur nach der ersten und zweiten Wahl richten. Er schätzt auch die Entwicklungen in der AKP nach seiner Amtszeit ab, ebenso offensichtlich wie seine Hegemonie über die Partei.

Deshalb wird er mittels geschönter Demokratiepakete versuchen, den auf Verhandlungen mit Öcalan basierenden Lösungsweg kurz vor oder hinter die Präsidentschaftswahl zu verschieben.

Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die AKP und der von ihr repräsentierte Staat noch eine weitere Berechnung anstellen. Nicht zu vergessen ist, dass sie aufgrund der Tatsache, an den Verhandlungstisch zu müssen, ohne die kurdische Freiheitsbewegung besiegt zu haben, diese zu schwächen beabsichtigen. Die AKP-Regierung, die immer die Option eines neuen und weitreichenden Krieges auf ihrer Tagesordnung hatte, setzt ihre Vorbereitungen für dieses Szenario mit dem Bau militärischer Stützpunkte (»Kalekol«) und der Professionalisierung der türkischen Streitkräfte fort.

 

Fußnoten:

 1 - Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans

  2 - Nachdem Ministerpräsident Erdoğan verkündet hatte, dass das »Zusammenleben weiblicher und männlicher Studierender illegitim« sei, folgten in zahlreichen Städten Razzien in Wohnungen allein lebender Studierender, zahlreiche Provinzgouverneure stellten Single-Wohnungen unter Aufsicht. Der durch Erdoğans Äußerungen ermutigte AKP-Abgeordnete von Düzce, Ibrahim Korkmaz, sprach sich gegen die Koedukation aus.