Zur Arbeit der »Stiftung der Freien Frauen in Rojava«

Der Wille der Frauen zerschlägt an allen Fronten die scheinbare Ohnmacht der Gesellschaft

Roza Nûdem, Qamişlo

weqfa jina azad a rojavaDie Berichterstattung in Deutschland über das nordsyrische Westkurdistan (Rojava) ist in erster Linie eine Kriegsberichterstattung über den herausragenden Kampf der Volks-/Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) und die Angriffe des Islamischen Staates (IS). Was jedoch verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass die herausragendste Waffe der YPG/YPJ nicht die Schusswaffe ist und dass dieser Kampf viel gesellschaftlicher und umfangreicher ist. Die Frauen in Rojava sprengen auch im zivilen Bereich täglich die Fesseln des patriarchal-feudalen Systems.

Derzeit ist die extremste Ausformung des Patriarchats allseits präsent: Die Situation von Frauen in Rojava ist bestimmt von Krieg, Embargo und Gewalt. Viele Menschen sind aus oder auch nach Rojava geflüchtet. In die Häuser, aus denen kurdische, syrianische oder auch armenische Menschen nach Europa, Südkurdistan oder in die Türkei ausgewandert sind, ziehen staats- oder IS-nahe AraberInnen ein. Mit dieser strategischen Umsiedlungspolitik wird versucht, Verunsicherung und Angst in der Gesellschaft von Rojava zu erzeugen. Seitens des IS werden Menschen auf brutalste Weise hingerichtet, ihre Leichname verstümmelt, Frauen und Kinder vergewaltigt, entführt, verkauft und zuletzt ermordet. Eine Zeit weiterer Flüchtlingsströme, Krise und Armut liegt vor uns in dieser Region. Erfahrungsgemäß verstärken diese schwierigen Lebensumstände auch das innerfamiliäre Gewaltvorkommen gegen Frauen und auch Kinder. Bereits vor dem Krieg war die Lebenssituation von Frauen durch den Nichtzugang zu Bildung, ökonomische Abhängigkeit und ein feudal-patriarchales Verständnis von Geschlechterrollen geprägt von struktureller Gewalt. Die bisherige Frauenrolle in der Gesellschaft von Rojava war beschränkt auf Haushalt, Kindererziehung und Pflege von Familienangehörigen. Trotz Schul- und manchmal auch Studienabschlüssen waren das Leben und auch der Lebensraum von Frauen zumeist auf Haus und Hof begrenzt. Die Vielfalt der Gesellschaft und auch der politischen Ausrichtungen wurde auf liberale Art und Weise miteinander gelebt. Mit den traumatischen Erfahrungen durch die maßlos brutalen Angriffe des IS, dem durch diesen eröffneten Frauenhandel, den Massenvergewaltigungen, den verschollenen Familienangehörigen, den täglich neu zu beklagenden MärtyrerInnen (Şehîd) sowie den unsicheren gesellschaftlichen Perspektiven verschärft sich täglich die Lebenssituation von Frauen und Kindern.

Gleichzeitig ist mit der syrischen Revolution und der aussagekräftigen Antwort der YPG/YPJ eine Situation geschaffen worden, die eine Chance auf eine umfassende gesellschaftliche Neuordnung bezüglich des patriarchalen und hegemonialen Machtsystems im Mittleren Osten bietet. Dieser historisch einmalige Frauenwiderstand gegen das brutalste Ausmaß männlicher Gewalt in Form der IS-Angriffe hat Rojava, Syrien sowie den gesamten Mittleren Osten und die Welt mit einer völlig neuen Frauenrolle beeindruckt. Es gibt ein Zusammenrücken der armenischen, assyrischen, syrianischen, arabischen und kurdischen Völker und der christlichen, jüdischen, êzîdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften für die Verteidigung demokratischer, friedlicher und ethischer Interessen. Frauen haben begonnen, in allen Bereichen den gesellschaftlichen Neuaufbau zu organisieren. Angeführt von Frauen wurden Volks- und Frauenräte gegründet, die demokratische unabhängige Regierung wurde gewählt und steht wieder kurz vor der Wahl, es wurden Ministerien für alle Bereiche eingerichtet mit jeweils unabhängiger Frauenstruktur und unter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Gruppen. Auf diese Weise ist auch für den zivilgesellschaftlichen Bereich eine neue Frauenrolle entstanden, die es zu stärken und zu fördern gilt. Täglich legen Frauen ihre bisherige Lebensweise ab und beginnen einen neuen Lebensabschnitt mit einer Entwicklung zur freien, selbstbestimmten Frau.

Die »Stiftung der Freien Frauen in Rojava« konzentriert sich in ihren Arbeiten genau auf die Unterstützung von Frauen und auch Kindern für diesen Wandlungsprozess. Sie initiiert und betreut im syrischen Teil von Kurdistan nachhaltige Frauenprojekte sowie Frauenbildung in von Krieg, Armut und Embargo betroffenen Regionen. Durch die psychologische Kriegsführung entstand in der Bevölkerung ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, noch verstärkt durch die Abwanderung der Bevölkerung und die Rolle Europas dabei. Die Aufgabe der Stiftung ist es deswegen auch, dem eine Dynamik des Erblühens von Rojava entgegenzusetzen. Dafür führt die Stiftung Frauenprojekte im sozialen, kulturellen, politischen, ökologischen und Gesundheitsbereich durch. Als Grundlage für die Arbeiten der Stiftung werden Umfragen unter Frauen durchgeführt. Aus diesen Informationen werden Projekte entsprechend den Bedürfnissen der Frauen und ihrer Familien entwickelt. In der Umfrage in der Stadt Qamişlo (Al-Qamishli) gaben 92 % der befragten Frauen an, sich weiterbilden zu wollen, und 71,5 %, gern arbeiten zu wollen. 85 % der Frauen sind Mütter und tragen die Verantwortung für die Kinder und den Haushalt.

Ein weiteres Ergebnis ist, dass sich die ökonomische Lage von Familien verschärft. Die Lebensumstände von Frauen haben sich gewandelt. Viele Ehemänner sind gefallen. Mit dem zunehmenden Bewusstsein für Gewalt leben Frauen häufiger getrennt oder wollen auch nicht heiraten. Aus diesem Grund besteht die Notwendigkeit, auch eine unabhängige Ökonomie von Frauen aufzubauen. Bisher war die Wirtschaft ausschließlich in Männerhand, auch dies ist im Prozess der Änderung begriffen.

Die »Stiftung der Freien Frauen in Rojava« initiiert Vorschulen, agrarwirtschaftliche Frauenkooperativen und Schneidereien sowie Frauengesundheitszentren. Alle Projekte der Stiftung werden von Frauen geleitet, diese erlernen zum einen, Arbeitsabläufe zu gestalten, zum anderen professionalisieren sie sich auf verschiedenen Themenfeldern wie Pädagogik, Gesundheit und Landwirtschaft. Die Vorschulen ermöglichen Kindern, der zukünftigen Generation, das Erlernen ihrer Muttersprache (Kurdisch, Arabisch, Armenisch und Syrianisch), ein soziales, demokratisches Miteinander verschiedener Ethnien und die Gestaltung einer den Begabungen und Fähigkeiten von Kindern entsprechenden Entwicklung. Dabei werden auch Eltern in ihrer Beziehung zu ihren Kindern unterstützt.

Der beschriebene gesellschaftliche Umwandlungsprozess durchzieht ganz Rojava und ermöglicht durch die Perspektiven von Abdullah Öcalan das freie Zusammenleben von Volksgruppen in einer neuen demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft.