Ein langer Atem ist gefordert

Was macht eigentlich der Lösungsprozess?

Mako Qoçgirî

Das diesjährige Newrozfest naht und zu den Parlamentswahlen in der Türkei am 7. Juni ist es auch nicht mehr lange hin. Beide Termine sind für den Lösungsprozess von großer Bedeutung, das steht außer Frage. Doch ob sich bis dahin etwas tut und der Schritt vom Dialog zu Lösungsverhandlungen endlich beschritten wird oder nicht, das lässt sich derzeit nur schwer voraussagen.

Fakt ist, dass der Dialogverkehr zwischen Imralı [Öcalan], der HDP und der KCK-Führung im Kandilgebirge ununterbrochen anhält. Zugleich wird auch der Dialog zwischen der HDP-Delegation und Vertretern der AKP-Regierung fortgesetzt. Aber derzeit bleibt es eben nur bei einem Dialog. Ob eine Basis für den Übergang zu Verhandlungen über eine Lösung der kurdischen Frage unter den gegebenen politischen Umständen in der Türkei gegeben ist, bleibt äußerst fraglich.

Am 15. Februar 2015, also dem 16. Jahrestag des internationalen Komplotts, welches zur Inhaftierung Abdullah Öcalans führte, erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei der Rückkehr von seiner Rundreise in Lateinamerika, dass er eigentlich einen Aufruf Öcalans erwartet hätte, in dem dieser die PKK zur Niederlegung der Waffen auffordert. Dieser von Erdoğan gewünschte Aufruf hätte durch die HDP-Delegation, die nach zwei Besuchen auf Imralı nun von einer Reise in das Kandilgebirge zurückgekehrt war, verlautbart werden sollen. Doch die Erwartungen des türkischen Staatspräsidenten blieben nicht nur unerfüllt, sie verdeutlichen auch, wie unterschiedlich die Vorstellungen von einer »Lösung« der kurdischen Frage zwischen der AKP und der kurdischen Freiheitsbewegung sind.Die PKK ist das Volk – das Volk ist hier. Demonstration in Pîran zum Jahrestag der Verschleppung Öcalans  | DIHA

Zu der Frage der Waffenniederlegung hatte die kurdische Bewegung bereits mehrfach verlautbart, dass dies der möglicherweise letzte Schritt im Lösungsprozess wäre. Die Erwartung, dass solch ein Schritt von der PKK gegangen werden sollte, bevor man in ernsthafte Verhandlungen über eine Lösung trete, sei demnach nicht nur illusorisch, sondern bringe auch die wahren Absichten der türkischen Regierung im gegenwärtigen Prozess zum Vorschein. Zuletzt erklärte Murat Karayılan im Namen der Volksverteidigungskräfte (HPG) gar, dass vor dem Hintergrund der Bedrohung Kurdistans durch den Islamischen Staat (IS) nicht eine Entwaffnung sondern eine stärkere Bewaffnung der Volksverteidigungskräfte auf der Tagesordnung stehe. Denn selbst bei einer möglichen Lösung der kurdischen Frage in der Türkei würde das nicht automatisch bedeuten, dass die Gefahr, die für Südkurdistan und Rojava durch den IS ausgeht, automatisch beseitigt wäre. Dementsprechend müsste man im Rahmen von Verhandlungen zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat eine Formel finden, wie eine Lösung der Frage beschritten werden kann, bei der die kurdischen Einheiten ihre Waffen behalten und zugleich für die Türkei kein gefühltes Sicherheitsrisiko darstellen. Doch um das zu diskutieren, muss es eben zu den lang ersehnten Verhandlungen kommen. Als Vorbedingung der Verhandlungen einen Aufruf zur Entwaffnung der PKK zu fordern, so wie der türkische Staatspräsident es tut, erscheint jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen absurd.

Die türkische Regierung ist derzeit wohl kaum in einer Position, in der sie irgendwelche Forderungen gegenüber der kurdischen Seite formulieren kann. Denn die AKP selbst hat im vergangenen Jahr kaum nennenswerte Schritte getätigt, die ihre Glaubwürdigkeit als Verhandlungspartner im Lösungsprozess gestärkt hat. Im Gegenteil, das Ansehen der AKP in Nordkurdistan ist durch die türkische Unterstützung des Islamischen Staates bei dessen gescheitertem Versuch, die Stadt Kobanê einzunehmen, auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Als die Wut der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Regierungspartei dann am 6. Oktober vergangenen Jahres explodierte und es überall in Nordkurdistan und der Türkei zu gewaltsamen Protesten kam, reagierte der türkische Staat mit rabiater Polizeigewalt. Es starben bei Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten, der Polizei und Islamisten binnen drei Tagen mehr als 40 Menschen. Die Ereignisse dieser Tage gaben zugleich der türkischen Öffentlichkeit und Politik eine Vorahnung davon, in welche Richtung sich die Türkei entwickeln könnte, wenn die historische Möglichkeit, die kurdische Frage im Rahmen von Verhandlungen zu lösen, scheitern würde. Doch anstatt die notwendigen Lehren zu ziehen und sich mit größerer Ernsthaftigkeit des Lösungsprozesses anzunehmen, bereitete die türkische Regierung ein »Sicherheitspaket« vor, das bei den nächsten Volksaufständen die Sicherheitskräfte mit noch mehr Befugnissen ausstatten soll. Wenn man bedenkt, dass die Polizei zwischen dem 6. und dem 8. Oktober 2014 bereits ohne das sogenannte »Sicherheitspaket« im Rücken dutzende Demonstranten ungestraft tötete, mag man sich kaum vorstellen, wohin das Paket die Türkei führen wird, wenn es vom Parlament absegnet werden sollte. Noch hat die Gesetzvorlage das türkische Abgeordnetenhaus nicht passiert. Aber allein die Idee, mit einem »Sicherheitspaket« auf einen Volksaufstand in Nordkurdistan zu reagieren, macht deutlich, dass die AKP die kurdische Frage weiterhin in erster Linie als eine »Sicherheitsfrage« und nicht als eine Frage der unzureichenden Demokratisierung der Türkei betrachtet. Die aktuellen Diskussionen um eine Entwaffnung der PKK, ohne dass die Verhandlungen im Lösungsprozess noch begonnen haben, untermauern diese These.

Die zwei von der Geschäftsstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Amed (Diyarbakır) veröffentlichten Berichte über Menschenrechtsverletzungen seitens des Staates in überwiegend kurdisch besiedelten Regionen bestätigen ebenfalls diese These und machen die Gründe für das fehlende Vertrauen der kurdischen Bevölkerung in die AKP mehr als deutlich.

So ergeben sich aus dem Bericht zu »Menschenrechtsverletzungen an Kindern in Ost- und Südostanatolien im Jahr 2014« folgende Zahlen: »Sicherheitskräfte« des türkischen Staates töteten in Nordkurdistan fünf und verletzten neun Kinder. 444 Kinder wurden festgenommen und 106 verhaftet.

Im Bericht zu den »Menschenrechtsverletzungen in Ost- und Südostanatolien im Jahr 2014« werden 19 614 Menschenrechtsverstöße vermerkt. Es wurden 3 840 Menschen festgenommen und davon 668 verhaftet. 1 480 Menschen waren Opfer von Folter und schwerer Misshandlung. Insgesamt wurden 1 106 gesellschaftliche Aktivitäten, wie beispielsweise Demonstrationen und Kundgebungen, vom Staat angegriffen.

Auch wenn uns keine statistischen Angaben des IHD zu den ersten 48 Tagen des Jahres 2015 zur Verfügung stehen, können wir aus der Medienberichterstattung von mehr als 500 Festnahmen und mehr als 100 Verhaftungen ausgehen. Allein bei den Protestaktionen zum Jahrestag des internationalen Komplotts an der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan wurden mindestens 180 Menschen festgenommen, darunter auch viele Minderjährige. Es ist offensichtlich, dass das sogenannte »Sicherheitspaket« die Festnahmen, Verhaftungen und öffentlichen Hinrichtungen der Polizei erleichtern wird.
Aus Sicht der kurdischen Freiheitsbewegung hängt die Lösung der kurdischen Frage eng mit der Frage der Demokratisierung der Türkei zusammen. Somit wäre ein Erfolg im Lösungsprozess nicht nur für die Kurdinnen und Kurden im Lande ein Meilenstein in Richtung einer demokratischeren und freieren Gesellschaft, sondern für alle in der Türkei lebenden Menschen und gesellschaftlichen Gruppen. Die türkische Regierung hingegen hat ihre eigene Agenda. Sie will ihre Alleinherrschaft auf lange Zeit garantieren, beim Aufbau eines autoritären Regimes voranschreiten und hofft darauf, dass die Unterstützung der gesellschaftlichen Basis der kurdischen Freiheitsbewegung, die wohl wichtigste Opposition gegen diese Pläne der AKP, durch einen langgezogenen Lösungsprozess zusehends schwindet und somit die kurdische Opposition sich auf lange Zeit selbst zersetzt.

Es bleibt also dabei, der Lösungsprozess gestaltet sich nicht in der Form, als wären sich der türkische Staat und die kurdische Freiheitsbewegung einig über eine Lösung und beide Parteien müssten nur noch über Detailfragen verhandeln. Im Gegenteil, dass der Prozess nach mehr als zwei Jahren Gesprächen immer noch nicht in eine Verhandlungsphase übergegangen ist, zeigt, wie schwierig er sich gestaltet. Der Lösungsprozess ist somit weiterhin ein Versuch der kurdischen Freiheitsbewegung, die Frage der Demokratisierung der Türkei und den türkisch-kurdischen Konflikt auf einer politischen Ebene zu lösen. Auf dieser politischen Ebene wird ein unerbittlicher Kampf zwischen beiden Konfliktparteien geführt, der von Zeit zu Zeit auch gewaltsame Züge annimmt. Die Niederlage des IS trotz türkischer Unterstützung in Kobanê war ein wichtiger Punkt für die kurdische Freiheitsbewegung in diesem Kampf. Die anstehenden Parlamentswahlen im Juni werden darüber entscheiden, wer den nächsten Punkt bekommt. Wer am Ende die meisten Punkte sammelt, wird sich im Lösungsprozess mit seinen Vorstellungen auch gegenüber der Gegenseite durchsetzen können. Doch es scheint, dass bis zu einer Entscheidung beide Seiten noch einen langen Atem brauchen.